Ein mystischer Roman
Eine eiserne Halskette, die über Jahrhunderte hinweg von einer Hand in die andere gelangt, spielt eine eigentümliche Rolle im Leben der Männer und Frauen, deren Eigentum sie wird. Drei Liebesgeschichten aus drei Epochen sind schicksalhaft verknüpft: Während der Ritterzeit tötet der Fischerjunge Hoël seine Geliebte Morgane, als er sie nach Jahren endlich gefunden hat. Im 16. Jahrhundert verliebt sich Bernard Lombard in seine Tochter und stirbt, bevor er zum Ziel gelangt. Erst im dritten Teil, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielt, scheint sich die Liebe zu erfüllen ... Ein mystischer Roman des großen französischen Romanciers.
'Varuna' enstand in den Jahren 1938/39, einer Zeit, da sich Julien Green mit dem Buddhismus, mit Fragen der christlichen Religion und der Wiedergeburt beschäftigte. Benannt nach der Vedischen Gottheit, die über die Ordnung der Welt wacht, ist 'Varuna' ein vieldeutiges Werk, das heute neue Aktualität gewinnt.
»Julien Green verknüpft Leidenschaft und Leiden, Liebe und Verwüstung, Sinnlichkeit, Sünde und Verdammung zu einer Theologie der Existenz, deren dämonischen Schatten er traditionell erzählt.«
Süddeutsche Zeitung
Eine eiserne Halskette, die über Jahrhunderte hinweg von einer Hand in die andere gelangt, spielt eine eigentümliche Rolle im Leben der Männer und Frauen, deren Eigentum sie wird. Drei Liebesgeschichten aus drei Epochen sind schicksalhaft verknüpft: Während der Ritterzeit tötet der Fischerjunge Hoël seine Geliebte Morgane, als er sie nach Jahren endlich gefunden hat. Im 16. Jahrhundert verliebt sich Bernard Lombard in seine Tochter und stirbt, bevor er zum Ziel gelangt. Erst im dritten Teil, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielt, scheint sich die Liebe zu erfüllen ... Ein mystischer Roman des großen französischen Romanciers.
'Varuna' enstand in den Jahren 1938/39, einer Zeit, da sich Julien Green mit dem Buddhismus, mit Fragen der christlichen Religion und der Wiedergeburt beschäftigte. Benannt nach der Vedischen Gottheit, die über die Ordnung der Welt wacht, ist 'Varuna' ein vieldeutiges Werk, das heute neue Aktualität gewinnt.
»Julien Green verknüpft Leidenschaft und Leiden, Liebe und Verwüstung, Sinnlichkeit, Sünde und Verdammung zu einer Theologie der Existenz, deren dämonischen Schatten er traditionell erzählt.«
Süddeutsche Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996Wenn sich die letzten Bücher schließen
Julien Greens Ketten-Parabel mit Kreuz / Von Jürg Altwegg
Im Jahr l940, nach der Niederlage Frankreichs und dem Beginn der Okkupation, wollte sich der anerkannte, ja arrivierte Schriftsteller Julien Green um sein zweites Vaterland verdient machen. Er bat den Dichter und Informationsminister Jean Giraudoux um Rat: "Am nützlichsten sind Sie, wenn Sie weiterhin Ihre Bücher schreiben", soll Giraudoux, Verehrer Hitlers und Propagandist der Kollaboration, dem Kollegen geraten haben. Für die Politik muß er Green verloren geglaubt haben. Sein Werk "Varuna", das im gleichen Jahr erschien und jetzt zum ersten Mal auf deutsch veröffentlicht wurde, bestätigte Greens Ruf als apolitischer Schriftsteller, der sich ins zwanzigste Jahrhundert verirrt und mit seiner Epoche nicht viel im Sinn hatte.
Gegen diese Einschätzung und die Unterstellung, er würde schreiben wie Dickens, wehrt sich Green seit Jahrzehnten vergeblich und soeben auch noch im jüngsten Band seiner "Tagebücher": "Ein Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts? Wer? Ich? Ich protestiere. Welcher Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts hätte die Geschichte eines Mädchens geschrieben, das seinen Vater umbringt, weil er es in seinem Liebesleben stört?"
Nur Märchen sind noch zeitloser und perverser als Julien Greens Geschichten. Die Literatur des mit dem Jahrhundert in Paris geborenen Dichters spiegelt in ihrer von Schuldgefühlen geprägten Gespanntheit zwischen den Extremen der menschlichen Existenz die Kontraste seiner zweisprachigen Herkunft wider. Seine Eltern lebten im nostalgischen Kult ihrer angelsächsischen Kultur und der amerikanischen Südstaaten, von dem jedes Detail ihrer Wohnungseinrichtung Zeugnis ablegte. Frankreich begann erst draußen vor der Tür: eine ganz andere, allerdings keineswegs nur fremde Welt, in der Julian zu Julien wurde. Immer wieder haben Kritiker eine bis zur Schizophrenie gehende Persönlichkeitsspaltung des Dichters diagnostiziert - worauf Green stets auf seine "glückliche Kindheit" verwies, während der er bereits erste Schreibversuche unternahm: "Wir waren zu Hause sechs oder sieben und nicht immer alle zusammen, denn es wurde viel gereist. Es gab viel Fröhlichkeit, Unbekümmertheit, den Schutz durch die Eltern. Ich habe keine einzige unangenehme Erinnerung an meine Kindheit. Im Gegenteil, bis zum Krieg fühlte ich mich beschützt und in Sicherheit."
Die Katastrophe des Jahres l9l4 war der Tod von Julien Greens Mutter, die "meine Lieblingsschriftsteller ausgewählt" hatte - neben Dickens auch Walter Scott - und zu der er eine enge Beziehung unterhielt. Ihr Verlust riß tiefe Wunden in der Seele des Halbwüchsigen. Julien Green, der als Kind zusammen mit dem Vater vom Protestantismus zum Katholizismus übergetreten war, wandte sich in der Folge vom christlichen Glauben ab. Er verfaßte sogar ein virulentes "Pamphlet contre les catholiques de France" und befreundete sich mit André Gide. Die letzten Fragen blieben stets die einzigen, die ihn wirklich beschäftigten. Er las in den dreißiger Jahren buddhistische Schriften und befaßte sich mit der Reinkarnation. Sie ist eines der zentralen Themen seines Romans "Varuna", in dem Green seine Auseinandersetzungen mit den asiatischen Religionen auch formal verarbeitet. Das Werk reflektiert seinen persönlichen Weg des religiösen Suchens und führt am Schluß zum Katholizismus zurück, mit dem sich Green l939, als er das Manuskript vollendete, versöhnte. Seither ist ihm jeglicher Atheismus fremd: "Ohne Gott ist die Welt völlig unverständlich."
Für Julien Green geht es nicht darum, sie schreibend durchschaubar zu machen. Er stellt sie dar und bildet sie ab - mit einem klaren Anspruch an die literarische Kreation: ihre Perfektion und Komplexität muß jener der göttlichen Schöpfung im Guten wie im Bösen möglichst nahe kommen. In "Varuna" ist dieses Streben spürbarer noch als in den anderen, profaneren Werken. Im ersten Teil verankert Green sein Thema in der Mythologie. Er erzählt - gleichnishaft - die Geschichte einer Kette, die Hoel am Strand findet. Sie ging über Jahrhunderte hinweg von einer Hand in die andere und spielt im Leben ihrer wechselnden Besitzer eine schicksalsbestimmende Rolle. Für den walisischen Fischerjungen Hoel bedeutet sie die tragische Vereinigung mit Morgane: Sie hat, während er ein ausschweifendes Vagantenleben führte, auf ihn gewartet, während er sie nie gesucht hat - im Augenblick ihres Zusammentreffens bringt er sie um.
Im zweiten Teil macht Julien Green aus der Legende einen historischen Stoff. Die Geschichte spielt jetzt im sechzehnten Jahrhundert und wird als Mischung aus Fiktion und Realität mit einem starken Hang zum Irrationalen präsentiert. Bertrand Lombard verliebt sich in seine Tochter, die ihrer verstorbenen Mutter überaus ähnlich sieht. Um sie sich gefügig zu machen, verbündet Lombard sich mit dem Hexenmeister und Magier Eustache Croche, der ihm für viel Geld behilflich ist. Als der Vater sich am Ziel seiner Wünsche wähnt und die hypnotisierte Hélène "wie eine ehrerbietige und dem Willen ihres Ehemannes unterworfene Gattin" sein Zimmer betritt, fällt er tot um.
Was wirklich geschah, liegt indes "vollkommen im Dunkeln". Im letzten Drittel zieht Green die Geschichte bis fast in die Gegenwart hinein. Die Schriftstellerin Jeanne schreibt dreihundert Jahre nach den Ereignissen ein Buch über Hélène Lombard und hat die Prozeßakten studiert: "Aus den Antworten von Eustache Croche geht hervor, daß die Unglückselige das Zimmer ihres Vaters betreten hat, dieser aber gestorben ist, bevor er sie in die Arme schließen konnte, und auch die raffiniertesten Foltermethoden schaffen es nicht, ein Wort mehr aus dem Magier herauszupressen, dem zufolge Hélène nicht einmal den ersten Knopf ihrer Korsage geöffnet hat." Das Gericht kam zum Schluß, daß Hélène verhext und Bertrand Lombard von Gottes Hand getroffen worden war. Croche wurde auf dem Marktplatz verbrannt.
Diese dritte Ebene von Julien Greens "Varuna" ist die spannendste und nicht nur von der Chronologie her die zeitgenössischste. Es handelt sich um das Tagebuch der Schriftstellerin Jeanne, die über ihr Tun nachdenkt. Die Reflexionen zu Fragen der literarischen Ästhetik wie zum Verhältnis zwischen dem Autor und seinen Figuren, zwischen Schöpfer und Schöpfung, erreichen durchaus ihr Vorbild, André Gides "Journal des Faux-Monnayeurs", das parallel zu seinem Meisterwerk "Die Falschmünzer" entstand. Green geht noch einen Schritt weiter: Er macht auch das Alter ego des Dichters, der sich mit seinem Schreiben und dem Umgang mit der Wirklichkeit befaßt, zu einer Gestalt seiner ebenso allmächtigen wie zweifelnden Fiktion. Die Tagebucheinträge des Romans, der sich über tausend Jahre hinzieht, sind mit Jahreszahlen versehen, die auf Julien Greens Kindheit und Jugend verweisen.
Im Jahre des Erscheinens von "Varuna" entschied sich der französische Schriftsteller mit amerikanischem Paß angesichts der vorrückenden deutschen Truppen und gegen den Rat von Giraudoux für das Exil. Er wurde Gaullist und kehrte erst l946 nach Paris zurück. Ins Zentrum seiner Literatur rückte nun zusehends Amerika, wo er die Kriegsjahre verbracht hatte. Green schrieb die großen Südstaaten-Romane. l972 wurde er - man hatte ihm zuvor die französische Staatsbürgerschaft verleihen müssen - als Nachfolger von François Mauriac in die Académie Française der vierzig Unsterblichen aufgenommen. Erst l992 erschien in Paris sein kurzer, verschollen geglaubter Text "Ende einer Welt. Juni l940" (deutsch l995 bei List) über die Niederlage Frankreichs und der humanistisch-abendländischen Kultur, deren Beginn er mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs datiert: "Eines Tages wird der letzte Leser Montaignes sein Buch zum letztenmal schließen. Leb wohl, Montaigne! oder Saint-Simon oder Pascal oder Rimbaud! Das ist es, worauf wir zugehen."
Die linke Euphorie des Nachkriegs hielt es mit Jean Genet und ignorierte Julien Greens Katholizismus und Kulturpessimismus. Erst in der allerjüngsten Zeit ist der bald hundertjährige Dichter und gegenwärtige Patriarch der französischen Literatur auch außerhalb seiner lesenden Gemeinde und der Kritik zur Kenntnis genommen worden.
Ende der siebziger Jahre hatte der konservative Kritiker Gaetan Picon sein Werk "als eines der gewaltigsten der Zwischenkriegszeit" gelobt. Schon von "Varuna" meinte er, es hätte im Vergleich zu den früheren Romanen an Ausstrahlung eingebüßt. Seine Leidenschaften sind weniger verzehrend und zerstörend, seine Begierden wie Sehnsüchte nicht mehr ganz so absolut. Doch in diesem Werk der Versöhnung mit Gott als Abschluß - wie auch Höhepunkt - seiner schöpferischsten Phase steckt der ganze Julien Green; inhaltlich wie formal. Die Kette schließt sich. Auch Jeanne, die Schriftstellerin, kommt mit ihr in Berührung. Sie liebt ihren Mann, und endlich scheint sich die Prophezeiung vom Zusammenkommen zweier Liebender zu erfüllen. Doch in ihre Beziehung, von deren Qualität der Dialog über Jeannes entstehendes Buch zeugt, bricht immer stärker und störender die fiktive Figur Hélène Lombard ein. Von ihrer standhaften Frömmigkeit läßt sich die Autorin faszinieren - bis zur Erlösung im Traum. Der letzte Eintrag in Julien Greens Parabel ist mit "Mai l9l4" datiert: "Etwas Unzerstörbares wird unser beider Schicksal bis ans Ende der Welt vereinen." Jeanne träumt von Hélène, die ihr die Kette um den Hals legt: "Und mit ihren feinen Händen knüpfte sie daran ein Kreuz."
Julien Green hat das Motiv von der Reinkarnation fiktiver Figuren und ihrer Substitution später wiederaufgenommen ("Si j'étais vous", l947). Der Titel seines literarischen Triptychons einer Kette mit Kreuz bezieht sich übrigens auf eine vedische Gottheit: Varuna wacht über die Ordnung der Welt, um die es Julien Green geht.
Julien Green: "Varuna". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 1996. 296 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Julien Greens Ketten-Parabel mit Kreuz / Von Jürg Altwegg
Im Jahr l940, nach der Niederlage Frankreichs und dem Beginn der Okkupation, wollte sich der anerkannte, ja arrivierte Schriftsteller Julien Green um sein zweites Vaterland verdient machen. Er bat den Dichter und Informationsminister Jean Giraudoux um Rat: "Am nützlichsten sind Sie, wenn Sie weiterhin Ihre Bücher schreiben", soll Giraudoux, Verehrer Hitlers und Propagandist der Kollaboration, dem Kollegen geraten haben. Für die Politik muß er Green verloren geglaubt haben. Sein Werk "Varuna", das im gleichen Jahr erschien und jetzt zum ersten Mal auf deutsch veröffentlicht wurde, bestätigte Greens Ruf als apolitischer Schriftsteller, der sich ins zwanzigste Jahrhundert verirrt und mit seiner Epoche nicht viel im Sinn hatte.
Gegen diese Einschätzung und die Unterstellung, er würde schreiben wie Dickens, wehrt sich Green seit Jahrzehnten vergeblich und soeben auch noch im jüngsten Band seiner "Tagebücher": "Ein Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts? Wer? Ich? Ich protestiere. Welcher Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts hätte die Geschichte eines Mädchens geschrieben, das seinen Vater umbringt, weil er es in seinem Liebesleben stört?"
Nur Märchen sind noch zeitloser und perverser als Julien Greens Geschichten. Die Literatur des mit dem Jahrhundert in Paris geborenen Dichters spiegelt in ihrer von Schuldgefühlen geprägten Gespanntheit zwischen den Extremen der menschlichen Existenz die Kontraste seiner zweisprachigen Herkunft wider. Seine Eltern lebten im nostalgischen Kult ihrer angelsächsischen Kultur und der amerikanischen Südstaaten, von dem jedes Detail ihrer Wohnungseinrichtung Zeugnis ablegte. Frankreich begann erst draußen vor der Tür: eine ganz andere, allerdings keineswegs nur fremde Welt, in der Julian zu Julien wurde. Immer wieder haben Kritiker eine bis zur Schizophrenie gehende Persönlichkeitsspaltung des Dichters diagnostiziert - worauf Green stets auf seine "glückliche Kindheit" verwies, während der er bereits erste Schreibversuche unternahm: "Wir waren zu Hause sechs oder sieben und nicht immer alle zusammen, denn es wurde viel gereist. Es gab viel Fröhlichkeit, Unbekümmertheit, den Schutz durch die Eltern. Ich habe keine einzige unangenehme Erinnerung an meine Kindheit. Im Gegenteil, bis zum Krieg fühlte ich mich beschützt und in Sicherheit."
Die Katastrophe des Jahres l9l4 war der Tod von Julien Greens Mutter, die "meine Lieblingsschriftsteller ausgewählt" hatte - neben Dickens auch Walter Scott - und zu der er eine enge Beziehung unterhielt. Ihr Verlust riß tiefe Wunden in der Seele des Halbwüchsigen. Julien Green, der als Kind zusammen mit dem Vater vom Protestantismus zum Katholizismus übergetreten war, wandte sich in der Folge vom christlichen Glauben ab. Er verfaßte sogar ein virulentes "Pamphlet contre les catholiques de France" und befreundete sich mit André Gide. Die letzten Fragen blieben stets die einzigen, die ihn wirklich beschäftigten. Er las in den dreißiger Jahren buddhistische Schriften und befaßte sich mit der Reinkarnation. Sie ist eines der zentralen Themen seines Romans "Varuna", in dem Green seine Auseinandersetzungen mit den asiatischen Religionen auch formal verarbeitet. Das Werk reflektiert seinen persönlichen Weg des religiösen Suchens und führt am Schluß zum Katholizismus zurück, mit dem sich Green l939, als er das Manuskript vollendete, versöhnte. Seither ist ihm jeglicher Atheismus fremd: "Ohne Gott ist die Welt völlig unverständlich."
Für Julien Green geht es nicht darum, sie schreibend durchschaubar zu machen. Er stellt sie dar und bildet sie ab - mit einem klaren Anspruch an die literarische Kreation: ihre Perfektion und Komplexität muß jener der göttlichen Schöpfung im Guten wie im Bösen möglichst nahe kommen. In "Varuna" ist dieses Streben spürbarer noch als in den anderen, profaneren Werken. Im ersten Teil verankert Green sein Thema in der Mythologie. Er erzählt - gleichnishaft - die Geschichte einer Kette, die Hoel am Strand findet. Sie ging über Jahrhunderte hinweg von einer Hand in die andere und spielt im Leben ihrer wechselnden Besitzer eine schicksalsbestimmende Rolle. Für den walisischen Fischerjungen Hoel bedeutet sie die tragische Vereinigung mit Morgane: Sie hat, während er ein ausschweifendes Vagantenleben führte, auf ihn gewartet, während er sie nie gesucht hat - im Augenblick ihres Zusammentreffens bringt er sie um.
Im zweiten Teil macht Julien Green aus der Legende einen historischen Stoff. Die Geschichte spielt jetzt im sechzehnten Jahrhundert und wird als Mischung aus Fiktion und Realität mit einem starken Hang zum Irrationalen präsentiert. Bertrand Lombard verliebt sich in seine Tochter, die ihrer verstorbenen Mutter überaus ähnlich sieht. Um sie sich gefügig zu machen, verbündet Lombard sich mit dem Hexenmeister und Magier Eustache Croche, der ihm für viel Geld behilflich ist. Als der Vater sich am Ziel seiner Wünsche wähnt und die hypnotisierte Hélène "wie eine ehrerbietige und dem Willen ihres Ehemannes unterworfene Gattin" sein Zimmer betritt, fällt er tot um.
Was wirklich geschah, liegt indes "vollkommen im Dunkeln". Im letzten Drittel zieht Green die Geschichte bis fast in die Gegenwart hinein. Die Schriftstellerin Jeanne schreibt dreihundert Jahre nach den Ereignissen ein Buch über Hélène Lombard und hat die Prozeßakten studiert: "Aus den Antworten von Eustache Croche geht hervor, daß die Unglückselige das Zimmer ihres Vaters betreten hat, dieser aber gestorben ist, bevor er sie in die Arme schließen konnte, und auch die raffiniertesten Foltermethoden schaffen es nicht, ein Wort mehr aus dem Magier herauszupressen, dem zufolge Hélène nicht einmal den ersten Knopf ihrer Korsage geöffnet hat." Das Gericht kam zum Schluß, daß Hélène verhext und Bertrand Lombard von Gottes Hand getroffen worden war. Croche wurde auf dem Marktplatz verbrannt.
Diese dritte Ebene von Julien Greens "Varuna" ist die spannendste und nicht nur von der Chronologie her die zeitgenössischste. Es handelt sich um das Tagebuch der Schriftstellerin Jeanne, die über ihr Tun nachdenkt. Die Reflexionen zu Fragen der literarischen Ästhetik wie zum Verhältnis zwischen dem Autor und seinen Figuren, zwischen Schöpfer und Schöpfung, erreichen durchaus ihr Vorbild, André Gides "Journal des Faux-Monnayeurs", das parallel zu seinem Meisterwerk "Die Falschmünzer" entstand. Green geht noch einen Schritt weiter: Er macht auch das Alter ego des Dichters, der sich mit seinem Schreiben und dem Umgang mit der Wirklichkeit befaßt, zu einer Gestalt seiner ebenso allmächtigen wie zweifelnden Fiktion. Die Tagebucheinträge des Romans, der sich über tausend Jahre hinzieht, sind mit Jahreszahlen versehen, die auf Julien Greens Kindheit und Jugend verweisen.
Im Jahre des Erscheinens von "Varuna" entschied sich der französische Schriftsteller mit amerikanischem Paß angesichts der vorrückenden deutschen Truppen und gegen den Rat von Giraudoux für das Exil. Er wurde Gaullist und kehrte erst l946 nach Paris zurück. Ins Zentrum seiner Literatur rückte nun zusehends Amerika, wo er die Kriegsjahre verbracht hatte. Green schrieb die großen Südstaaten-Romane. l972 wurde er - man hatte ihm zuvor die französische Staatsbürgerschaft verleihen müssen - als Nachfolger von François Mauriac in die Académie Française der vierzig Unsterblichen aufgenommen. Erst l992 erschien in Paris sein kurzer, verschollen geglaubter Text "Ende einer Welt. Juni l940" (deutsch l995 bei List) über die Niederlage Frankreichs und der humanistisch-abendländischen Kultur, deren Beginn er mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs datiert: "Eines Tages wird der letzte Leser Montaignes sein Buch zum letztenmal schließen. Leb wohl, Montaigne! oder Saint-Simon oder Pascal oder Rimbaud! Das ist es, worauf wir zugehen."
Die linke Euphorie des Nachkriegs hielt es mit Jean Genet und ignorierte Julien Greens Katholizismus und Kulturpessimismus. Erst in der allerjüngsten Zeit ist der bald hundertjährige Dichter und gegenwärtige Patriarch der französischen Literatur auch außerhalb seiner lesenden Gemeinde und der Kritik zur Kenntnis genommen worden.
Ende der siebziger Jahre hatte der konservative Kritiker Gaetan Picon sein Werk "als eines der gewaltigsten der Zwischenkriegszeit" gelobt. Schon von "Varuna" meinte er, es hätte im Vergleich zu den früheren Romanen an Ausstrahlung eingebüßt. Seine Leidenschaften sind weniger verzehrend und zerstörend, seine Begierden wie Sehnsüchte nicht mehr ganz so absolut. Doch in diesem Werk der Versöhnung mit Gott als Abschluß - wie auch Höhepunkt - seiner schöpferischsten Phase steckt der ganze Julien Green; inhaltlich wie formal. Die Kette schließt sich. Auch Jeanne, die Schriftstellerin, kommt mit ihr in Berührung. Sie liebt ihren Mann, und endlich scheint sich die Prophezeiung vom Zusammenkommen zweier Liebender zu erfüllen. Doch in ihre Beziehung, von deren Qualität der Dialog über Jeannes entstehendes Buch zeugt, bricht immer stärker und störender die fiktive Figur Hélène Lombard ein. Von ihrer standhaften Frömmigkeit läßt sich die Autorin faszinieren - bis zur Erlösung im Traum. Der letzte Eintrag in Julien Greens Parabel ist mit "Mai l9l4" datiert: "Etwas Unzerstörbares wird unser beider Schicksal bis ans Ende der Welt vereinen." Jeanne träumt von Hélène, die ihr die Kette um den Hals legt: "Und mit ihren feinen Händen knüpfte sie daran ein Kreuz."
Julien Green hat das Motiv von der Reinkarnation fiktiver Figuren und ihrer Substitution später wiederaufgenommen ("Si j'étais vous", l947). Der Titel seines literarischen Triptychons einer Kette mit Kreuz bezieht sich übrigens auf eine vedische Gottheit: Varuna wacht über die Ordnung der Welt, um die es Julien Green geht.
Julien Green: "Varuna". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 1996. 296 S., geb., 39,80 DM.
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