Ein Gedenken an den verstorbenen Vater, ein Nachdenken darüber, was erben heißt, ein kämpferischer Aufruf, aus der Falle des alternativlosen Denkens und Handelns auszubrechen.
Das Erbe seines Vaters hat Lukas Bärfuss ausgeschlagen: Es waren vor allem Schulden. Geblieben ist nur eine Kiste, die der Sohn nach fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal in Augenschein nimmt und die ihn zurückführt in seine eigene, schwierige Kindheit, in eine Jugend auf der Straße. Die Fragen werden drängend: Was hat er geerbt von seinem abwesenden, kriminellen Vater? Wie steht es um ein auf Privatvermögen zielendes Erbrecht, das uns, obwohl kaum hundert Jahre alt, wie ein Naturgesetz vorkommt? Wie steht es um die Verantwortlichkeit jenseits der familiären Bindung, wie steht es um die Teilhabe der Nachgeborenen, deren Schicksal wir bestimmen mit dem, was wir ihnen hinterlassen, mit unserem Erbe, unserem Müll?
Antworten werden sich nicht finden lassen, solange das planende Denken vor dem Wegfall aller Selbstverständlichkeiten die Augen verschließt, solange es sich einer Enttäuschung verweigert, die uns die wichtigen Fragen erst ermöglichen würde: Wollen wir weiter so leben wie bisher?
Und wenn nicht: wie dann?
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Das Erbe seines Vaters hat Lukas Bärfuss ausgeschlagen: Es waren vor allem Schulden. Geblieben ist nur eine Kiste, die der Sohn nach fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal in Augenschein nimmt und die ihn zurückführt in seine eigene, schwierige Kindheit, in eine Jugend auf der Straße. Die Fragen werden drängend: Was hat er geerbt von seinem abwesenden, kriminellen Vater? Wie steht es um ein auf Privatvermögen zielendes Erbrecht, das uns, obwohl kaum hundert Jahre alt, wie ein Naturgesetz vorkommt? Wie steht es um die Verantwortlichkeit jenseits der familiären Bindung, wie steht es um die Teilhabe der Nachgeborenen, deren Schicksal wir bestimmen mit dem, was wir ihnen hinterlassen, mit unserem Erbe, unserem Müll?
Antworten werden sich nicht finden lassen, solange das planende Denken vor dem Wegfall aller Selbstverständlichkeiten die Augen verschließt, solange es sich einer Enttäuschung verweigert, die uns die wichtigen Fragen erst ermöglichen würde: Wollen wir weiter so leben wie bisher?
Und wenn nicht: wie dann?
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Der Tod seines Vaters wird für den Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss zum Anlass, sich nicht nur über Sprache und Familie Gedanken zu machen, sondern auch über die Bedingungen des Erbens, berichtet Rezensentin Judith von Sternburg. Der Vater habe eine Biografie mit Rissen und Schwierigkeiten gehabt, womit sich der Sohn nun zweifelnd, misstrauisch gegenüber der Sprache auseinandersetzen müsse, das Erbe habe er ausgeschlagen, es sei nur Müll. Die Rezensentin erklärt, dass diese persönlichen Berührungspunkte zum Ausgang für Vorschläge über Ökonomie und Erbrecht werden, die sie sich in Bärfuss' besonderer, klarer Sprache gern zu Herzen nimmt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Der Tod seines Vaters wird für den Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss zum Anlass, sich nicht nur über Sprache und Familie Gedanken zu machen, sondern auch über die Bedingungen des Erbens, berichtet Rezensentin Judith von Sternburg. Der Vater habe eine Biografie mit Rissen und Schwierigkeiten gehabt, womit sich der Sohn nun zweifelnd, misstrauisch gegenüber der Sprache auseinandersetzen müsse, das Erbe habe er ausgeschlagen, es sei nur Müll. Die Rezensentin erklärt, dass diese persönlichen Berührungspunkte zum Ausgang für Vorschläge über Ökonomie und Erbrecht werden, die sie sich in Bärfuss' besonderer, klarer Sprache gern zu Herzen nimmt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.11.2022Was haben wir
zu vererben?
Lukas Bärfuss’ Essay über die
Verantwortung für die Nachgeborenen ist so
persönlich wie frei von Befindlichkeit:
Er übt damit das gerade Denken in wirren Zeiten
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Das klingt fast gemütlich: „Vaters Kiste“. Beinahe so, als wollte Lukas Bärfuss, notorischer Diskurs-Provokateur aus der Schweiz, sich nun einreihen unter die vielen Schriftsteller seiner Generation, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten literarisch im Nachlass ihrer Vorfahren gestöbert haben, um Ahnenforschung zu betreiben, Kindheitserinnerungen ans Licht zu holen, familiäre Verstrickungen aufzudecken oder über die Weitergabe von Dingen zu meditieren.
Auch der Untertitel, „Eine Geschichte über das Erben“, scheint in diese Richtung zu deuten, aber schon der Rückentext räumt jedes Missverständnis aus: „Erben“, das ist im dezidiert politischen und radikal moralischen Denken des 1971 geborenen Autors ein Vorgang, der weit über private Konstellationen hinausweist, der sich vielmehr bezieht auf die „Teilhabe der Nachgeborenen, deren Schicksal wir bestimmen mit dem, was wir ihnen hinterlassen“. Dieses schmale Buch zielt also wieder auf die Frage, um die das Werk des Dramatikers, Romanciers, Erzählers und Essayisten Bärfuss seit zwei Jahrzehnten hartnäckig kreist: „Wollen wir weiter so leben wie bisher? Und wenn nicht: wie dann?“
Mit „wir“ ist hier der Teil der Spezies gemeint, der den Reichtum und die Macht besitzt, um seine Lebensweise dem restlichen Teil zu verordnen und damit zu definieren, wie künftige Generationen den Planeten und die menschliche Gesellschaft vorfinden werden. Mittlerweile sind Ereignisse eingetreten, die dafür sorgen, dass jene Frage nicht mehr nur von Intellektuellen und Umweltaktivisten gestellt wird, sondern das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit erreicht hat und beunruhigend an den Verdrängungsinstrumenten nagt. Bärfuss’ Text ist so nahe am Zeitgeschehen, wie er es verlagstechnisch sein kann; er basiert auf einem Vortrag, den der Autor im vorigen Herbst an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich und, in erweiterter Form, im März dieses Jahres als eine der „Weimarer Reden“ im Deutschen Nationaltheater hielt. Aus dem Versuch, über die „Rechte der Nachgeborenen“ nachzudenken, notiert er, sei bald die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, dem eigenen Erbe geworden.
Lukas Bärfuss wäre eigentlich prädestiniert, diese Auseinandersetzung im Breitwandformat zu führen, in der Tradition des vor allem in Frankreich blühenden Genres der „Autosoziobiografie“, dessen Grande Dame Anni Ernaux gerade mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Sein Weg aus Armut, Bildungsferne und Obdachlosigkeit über verschiedene Handwerksberufe bis zum Büchnerpreisträger und Hochschulprofessor ist beispielhaft für den literarisch so wirkmächtig gewordenen Aufstieg eines Benachteiligten, der kraft intellektueller Anstrengung die soziale Determination überwindet und dennoch stets markiert bleibt durch sein Ursprungsmilieu. Doch die kritische Gesellschaftsanalyse, die bei den französischen Vorbildern in epischen Lebenserzählungen eingebettet ist, hat Bärfuss stets unabhängig von seiner individuellen Befindlichkeit betrieben.
Hier nun, innerhalb eines Essays von Vortragslänge, schildert er auf wenigen Seiten sehr plastisch seinen familiären Hintergrund, seine desolate Jugend und Adoleszenz und seine Selbstbefreiung durch die Literatur. Und er lässt gleichzeitig durchblicken, dass er nicht beabsichtigt, ausführlicher davon zu berichten: Lange habe er sich dazu nicht stark genug gefühlt, „und jetzt, da ich es war und ich diese Geschichte hätte erzählen können, gab es keine Notwendigkeit mehr dafür“.
Eine Notwendigkeit ist es indessen für den Beobachter und Denker Bärfuss, historische, politische und ökonomische Zusammenhänge zu erhellen, die dazu führen, dass Biografien wie die seinige im globalen Kontext vereinzelte Glücksfälle bleiben. Denn bei allem, was er gegen die Verhältnisse in seinem Herkunftsland vorzubringen hat, ist er sich dessen bewusst, welch ein Privileg es war, in eine der wohlhabendsten Wirtschaftsnationen der Welt hineingeboren zu werden und bei seinem – wenn auch selbst erarbeiteten – Milieuwechsel auf Infrastrukturen zugreifen zu können, die nur im reichen Westen zur Verfügung stehen.
„Vaters Kiste“, der Auslöser für den Rückblick, ist ein Pappkarton, eine Bananenschachtel, die Bärfuss ausgehändigt wurde, nachdem der „Mann, von dem es hieß, er sei mein Vater gewesen“, als schwarzes Schaf der Familie einsam auf der Straße gestorben war, und die der Sohn dann 25 Jahre lang verschlossen hielt wie die Büchse der Pandora. Was sie bei der Öffnung preisgab, waren die spärlichen, aber prägnanten Zeugnisse eines verpfuschten Lebens, Dokumente über Armut, Schulden und Kriminalität. Sie konfrontierten den Autor noch einmal mit dem Elend, in dem er um ein Haar selbst versunken wäre. Und sie lösen einen immer wieder durch kurze Erzählpassagen unterbrochenen Gedankengang aus, in dem Bärfuss den gegenwärtigen Zustand seiner, unserer Gesellschaft, so wie er sich ihm aus Erfahrung und Analyse erschließt, in Beziehung setzt zu Vergangenheit und Zukunft. Das geschieht sprunghaft und assoziativ, kühn behauptend und scharf sezierend, in Rundumschlägen und Detailbetrachtungen, aber stets auf der Grundlage von Lektüre und Anschauung zu gleichen Teilen.
Es geht dabei um Erbrecht und Privateigentum, um Darwins „Entstehung der Arten“ und die Erfindung des Nationalstaats, um Sozialanthropologie und Metaphysik, Sprache und Demokratie, Technologie und Ungleichheit. Es geht um geistige Hinterlassenschaften und profanen Müll, um Krieg, Kondensstreifen am Himmel und das Kenotaph in Hebron, um Täuschungen und Lügen und die Frage, „was wir verschweigen und wann“. Und dazwischen geht es immer wieder um den Vater, der es, trotz günstigerer Voraussetzungen, anders als der Sohn nicht geschafft hatte, sich in einem bürgerlichen Leben einzurichten.
Über solche Widersprüche hinweg spannt Bärfuss seinen essayistischen Bogen von der Genesis bis zur Gegenwart, um dann aus seinen Befunden konkrete Handlungsvorschläge abzuleiten, die der Verantwortung für das Erbe künftiger Generationen Rechnung tragen. Das mag abenteuerlich anmuten – und ist es auch. Es lohnt, sich die leicht abweichende Fassung als „Weimarer Rede“, die noch auf der Homepage von MDR Kultur steht, zum Vergleich anzuhören. In beiden Varianten wird deutlich, dass Lukas Bärfuss hier einen dramaturgischen Leitfaden für das Denken in Zusammenhängen vorlegt – und es gibt kaum etwas, das in diesen desorientierten und existenziell bedrohlichen Zeiten dringender gebraucht wird.
Warum Milieuwechsel wie
seiner im globalen Kontext
vereinzelte Glücksfälle bleiben
Von Bildungsferne bis Büchnerpreis: Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss spricht in seinem Essay von sich selbst. Das tut er nicht oft.
Foto: Boris Roessler/dpa
Lukas Bärfuss:
Vaters Kiste.
Eine Geschichte
über das Erben.
Rowohlt, Hamburg 2022. 96 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
zu vererben?
Lukas Bärfuss’ Essay über die
Verantwortung für die Nachgeborenen ist so
persönlich wie frei von Befindlichkeit:
Er übt damit das gerade Denken in wirren Zeiten
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Das klingt fast gemütlich: „Vaters Kiste“. Beinahe so, als wollte Lukas Bärfuss, notorischer Diskurs-Provokateur aus der Schweiz, sich nun einreihen unter die vielen Schriftsteller seiner Generation, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten literarisch im Nachlass ihrer Vorfahren gestöbert haben, um Ahnenforschung zu betreiben, Kindheitserinnerungen ans Licht zu holen, familiäre Verstrickungen aufzudecken oder über die Weitergabe von Dingen zu meditieren.
Auch der Untertitel, „Eine Geschichte über das Erben“, scheint in diese Richtung zu deuten, aber schon der Rückentext räumt jedes Missverständnis aus: „Erben“, das ist im dezidiert politischen und radikal moralischen Denken des 1971 geborenen Autors ein Vorgang, der weit über private Konstellationen hinausweist, der sich vielmehr bezieht auf die „Teilhabe der Nachgeborenen, deren Schicksal wir bestimmen mit dem, was wir ihnen hinterlassen“. Dieses schmale Buch zielt also wieder auf die Frage, um die das Werk des Dramatikers, Romanciers, Erzählers und Essayisten Bärfuss seit zwei Jahrzehnten hartnäckig kreist: „Wollen wir weiter so leben wie bisher? Und wenn nicht: wie dann?“
Mit „wir“ ist hier der Teil der Spezies gemeint, der den Reichtum und die Macht besitzt, um seine Lebensweise dem restlichen Teil zu verordnen und damit zu definieren, wie künftige Generationen den Planeten und die menschliche Gesellschaft vorfinden werden. Mittlerweile sind Ereignisse eingetreten, die dafür sorgen, dass jene Frage nicht mehr nur von Intellektuellen und Umweltaktivisten gestellt wird, sondern das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit erreicht hat und beunruhigend an den Verdrängungsinstrumenten nagt. Bärfuss’ Text ist so nahe am Zeitgeschehen, wie er es verlagstechnisch sein kann; er basiert auf einem Vortrag, den der Autor im vorigen Herbst an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich und, in erweiterter Form, im März dieses Jahres als eine der „Weimarer Reden“ im Deutschen Nationaltheater hielt. Aus dem Versuch, über die „Rechte der Nachgeborenen“ nachzudenken, notiert er, sei bald die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, dem eigenen Erbe geworden.
Lukas Bärfuss wäre eigentlich prädestiniert, diese Auseinandersetzung im Breitwandformat zu führen, in der Tradition des vor allem in Frankreich blühenden Genres der „Autosoziobiografie“, dessen Grande Dame Anni Ernaux gerade mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Sein Weg aus Armut, Bildungsferne und Obdachlosigkeit über verschiedene Handwerksberufe bis zum Büchnerpreisträger und Hochschulprofessor ist beispielhaft für den literarisch so wirkmächtig gewordenen Aufstieg eines Benachteiligten, der kraft intellektueller Anstrengung die soziale Determination überwindet und dennoch stets markiert bleibt durch sein Ursprungsmilieu. Doch die kritische Gesellschaftsanalyse, die bei den französischen Vorbildern in epischen Lebenserzählungen eingebettet ist, hat Bärfuss stets unabhängig von seiner individuellen Befindlichkeit betrieben.
Hier nun, innerhalb eines Essays von Vortragslänge, schildert er auf wenigen Seiten sehr plastisch seinen familiären Hintergrund, seine desolate Jugend und Adoleszenz und seine Selbstbefreiung durch die Literatur. Und er lässt gleichzeitig durchblicken, dass er nicht beabsichtigt, ausführlicher davon zu berichten: Lange habe er sich dazu nicht stark genug gefühlt, „und jetzt, da ich es war und ich diese Geschichte hätte erzählen können, gab es keine Notwendigkeit mehr dafür“.
Eine Notwendigkeit ist es indessen für den Beobachter und Denker Bärfuss, historische, politische und ökonomische Zusammenhänge zu erhellen, die dazu führen, dass Biografien wie die seinige im globalen Kontext vereinzelte Glücksfälle bleiben. Denn bei allem, was er gegen die Verhältnisse in seinem Herkunftsland vorzubringen hat, ist er sich dessen bewusst, welch ein Privileg es war, in eine der wohlhabendsten Wirtschaftsnationen der Welt hineingeboren zu werden und bei seinem – wenn auch selbst erarbeiteten – Milieuwechsel auf Infrastrukturen zugreifen zu können, die nur im reichen Westen zur Verfügung stehen.
„Vaters Kiste“, der Auslöser für den Rückblick, ist ein Pappkarton, eine Bananenschachtel, die Bärfuss ausgehändigt wurde, nachdem der „Mann, von dem es hieß, er sei mein Vater gewesen“, als schwarzes Schaf der Familie einsam auf der Straße gestorben war, und die der Sohn dann 25 Jahre lang verschlossen hielt wie die Büchse der Pandora. Was sie bei der Öffnung preisgab, waren die spärlichen, aber prägnanten Zeugnisse eines verpfuschten Lebens, Dokumente über Armut, Schulden und Kriminalität. Sie konfrontierten den Autor noch einmal mit dem Elend, in dem er um ein Haar selbst versunken wäre. Und sie lösen einen immer wieder durch kurze Erzählpassagen unterbrochenen Gedankengang aus, in dem Bärfuss den gegenwärtigen Zustand seiner, unserer Gesellschaft, so wie er sich ihm aus Erfahrung und Analyse erschließt, in Beziehung setzt zu Vergangenheit und Zukunft. Das geschieht sprunghaft und assoziativ, kühn behauptend und scharf sezierend, in Rundumschlägen und Detailbetrachtungen, aber stets auf der Grundlage von Lektüre und Anschauung zu gleichen Teilen.
Es geht dabei um Erbrecht und Privateigentum, um Darwins „Entstehung der Arten“ und die Erfindung des Nationalstaats, um Sozialanthropologie und Metaphysik, Sprache und Demokratie, Technologie und Ungleichheit. Es geht um geistige Hinterlassenschaften und profanen Müll, um Krieg, Kondensstreifen am Himmel und das Kenotaph in Hebron, um Täuschungen und Lügen und die Frage, „was wir verschweigen und wann“. Und dazwischen geht es immer wieder um den Vater, der es, trotz günstigerer Voraussetzungen, anders als der Sohn nicht geschafft hatte, sich in einem bürgerlichen Leben einzurichten.
Über solche Widersprüche hinweg spannt Bärfuss seinen essayistischen Bogen von der Genesis bis zur Gegenwart, um dann aus seinen Befunden konkrete Handlungsvorschläge abzuleiten, die der Verantwortung für das Erbe künftiger Generationen Rechnung tragen. Das mag abenteuerlich anmuten – und ist es auch. Es lohnt, sich die leicht abweichende Fassung als „Weimarer Rede“, die noch auf der Homepage von MDR Kultur steht, zum Vergleich anzuhören. In beiden Varianten wird deutlich, dass Lukas Bärfuss hier einen dramaturgischen Leitfaden für das Denken in Zusammenhängen vorlegt – und es gibt kaum etwas, das in diesen desorientierten und existenziell bedrohlichen Zeiten dringender gebraucht wird.
Warum Milieuwechsel wie
seiner im globalen Kontext
vereinzelte Glücksfälle bleiben
Von Bildungsferne bis Büchnerpreis: Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss spricht in seinem Essay von sich selbst. Das tut er nicht oft.
Foto: Boris Roessler/dpa
Lukas Bärfuss:
Vaters Kiste.
Eine Geschichte
über das Erben.
Rowohlt, Hamburg 2022. 96 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein dramaturgischer Leitfaden für das Denken in Zusammenhängen ... es gibt kaum etwas, das in diesen desorientierten und existenziell bedrohlichen Zeiten dringender gebraucht wird. Kristina MAIDT-ZINKE Süddeutsche Zeitung 20221122