Eine scheinbar ganz normale Einfamilienhaus-mit-Garten-Kindheit in der Bonner Republik. Doch manchmal, unvermittelt, bekommt die Normalität Risse, und die Tochter merkt: Es gibt da noch etwas anderes.
Dieses andere sind Kindheit und Jugend des Vaters, ist die traumatische Erfahrung von Flucht und Vertreibung, von Verlust und Massensterben, vom Leben in zwei totalitären Systemen.
Die Egon-Erwin-Kisch-Preisträgerin Katja Thimm erzählt so eindringlich wie einfühlsam die Geschichte ihres Vaters, die zugleich die Geschichte Hunderttausender "Kriegskinder" ist. Sie berichtet, wie die schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit fortwirken, in ihrem Vater, der mit zunehmendem Alter immer häufiger von traumatischen Erinnerungen heimgesucht wird, aber auch in ihr selbst und damit in der Generation der "Kriegsenkel".
Dieses andere sind Kindheit und Jugend des Vaters, ist die traumatische Erfahrung von Flucht und Vertreibung, von Verlust und Massensterben, vom Leben in zwei totalitären Systemen.
Die Egon-Erwin-Kisch-Preisträgerin Katja Thimm erzählt so eindringlich wie einfühlsam die Geschichte ihres Vaters, die zugleich die Geschichte Hunderttausender "Kriegskinder" ist. Sie berichtet, wie die schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit fortwirken, in ihrem Vater, der mit zunehmendem Alter immer häufiger von traumatischen Erinnerungen heimgesucht wird, aber auch in ihr selbst und damit in der Generation der "Kriegsenkel".
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2011Wenn der Schutzpanzer bröckelt
„Vatertage“: Die Journalistin Katja Thimm hat ein Buch über die Generation der Kriegskinder geschrieben
Horst Thimm hat die Dinge gerne selbst in der Hand. Jetzt aber, im Alter, entgleiten sie ihm immer öfter. Er kriegt den Stöpsel der Badewanne nicht mehr zu greifen und muss die Nacht im Wasser verbringen. Oder er sperrt sich bei eisigen Temperaturen im Schlafanzug aus und landet auf dem Weg zum Ersatzschlüssel in den Rabatten. Thimm lebt alleine; es kann dauern, bis er gefunden wird. Er könnte sich nun Unterstützung organisieren, jemanden, der ihm hilft, auf sich aufzupassen. Aber Horst Thimm vertraut lieber sich selbst. Und jedes Mal, wenn er wieder ein solches Unglück überlebt hat, erfüllt ihn Stolz, es noch einmal geschafft zu haben.
Für seine Tochter Katja, Autorin von „Vatertage. Eine deutsche Geschichte“, sind die nicht abreißenden Schreckensnachrichten eine Tortur. Irgendwann nimmt sich der Vater endlich ein Zimmer im Altersheim, ist aber längst ein Pflegefall, gequält zudem von Angstträumen, die keiner versteht. Die Schwestern lehnen die Verantwortung für ihn ab, eine Gutachterin kommt. Horst Thimm legt sich ins Zeug, macht sich fein für den Besuch, zeigt sich als charmanter, eloquenter Erzähler seiner Missgeschicke. Mit Erfolg: Die Gutachterin stuft ihn in eine zu niedrige Pflegestufe ein.
Die überforderte Tochter will den Dingen auf den Grund gehen und endlich verstehen, was eigentlich los ist. Auch der Vater, der immer eher schweigsam war, was ihn selbst betraf, möchte nun sprechen. Vorsichtig öffnet er sich dem Gespräch, erlaubt sogar ein Aufnahmegerät und Notizen für ein Buch über sein Leben. Was sich auftut, ist nicht nur die Geschichte des Horst Thimm, sondern ein Generationenporträt der ab 1929 geborenen Kriegskinder – zu jung, um am Dritten Reich schuld zu sein, zu alt, um ihm entkommen zu können. Männer und Frauen, die als kleine Kinder die Nächte in Bunkern verbrachten, ihre Väter kaum kannten und die Sorgen der Trümmermütter mehr spürten als begriffen.
Was das für den Gefühlshaushalt bedeutet, wird manchen erst nach der Pensionierung klar, gab es in der alten Bundesrepublik doch einen Konsens des Schweigens über diese schmerzhaften Geschichten. So wie die Eltern der Kriegskinder nicht aussprachen, was sie als Soldaten und Funktionäre jüdischen Mitbürgern und anderen Völkern angetan hatten, so sahen sie oftmals auch das Leid ihrer eigenen Kinder nicht, hatten sie doch vermeintlich selbst die größten Opfer gebracht. Später gerieten die persönlichen Erinnerungen an Bombenhagel, Flucht und Vertreibung schnell unter den ideologischen Verdacht der Relativierung von NS-Verbrechen.
Und so waren es in der prosperierenden Bundesrepublik vor allem Erfolgsgeschichten, die sich mit den Kriegskindern verbanden. Auch Horst Thimm gelang nach seiner lebensgefährlichen Flucht aus Masuren und mehrjähriger Haft in der DDR ein zweites Leben: Er gründete eine Familie und machte Karriere in einem Bundesministerium. Es lief bestens – wäre da nicht das Wissen gewesen, das auch alles wieder jederzeit zusammenbrechen kann.
Katja Thimm beschreibt eindrücklich die kleinen Signale, die sie als Kind hinnahm. So packte der Vater am Vorabend jedes Urlaubs den Kofferraum auf Probe und pflegte auch ansonsten ein leidenschaftlich-qualvolles Verhältnis zum Sortieren. Bei Kriegsende hatte er als 13-Jähriger ohne seine Eltern einen vollbepackten Pferdewagen durch den ostdeutschen Winter getrieben. Dann musste er den Wagen im Flüchtlingstreck zurücklassen, während Hungernde gestrauchelte, noch lebende Pferde am Wegesrand aufschnitten. Horst fand im brandenburgischen Eberswalde seine Mutter wieder, musste nun aber mit anderen Heranwachsenden Leichen bergen und Trümmer räumen – ein Junge noch, zu früh erwachsen geworden.
Als Student wurde er beim Aufstand vom 17. Juni 1953 verhaftet. Diesmal kam er frei, das nächste Mal nicht: Er hatte Ost-Kameras geschmuggelt, um auch der Mutter eine Existenz im Westen bieten zu können, und wurde zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.
Katja Thimm, von Beruf Spiegel-Reporterin, erzählt die väterlichen Erfahrungen liebevoll-staunend und mit größtmöglicher Sachlichkeit. Sympathisch wirkt der Vater bis in seine Sturköpfigkeit. Diese hatte ihn einst ohne Selbstverrat die Haft in der DDR überstehen lassen, jetzt aber, im Alter, macht sie ihm das Leben schwerer als nötig. Die Tochter sieht dies, akzeptiert es, will nicht abrechnen, sondern anerkennen, ohne sich Horst Thimms Annahmen über die Welt zu sehr zu eigen zu machen.
Damit stößt sie eine längst überfällige Diskussion zwischen den Generationen an. 40 Prozent aller Kriegskinder in Deutschland sollen traumatisiert sein. Viele von ihnen werden in der Hilflosigkeit des Alters, in Demenz oder Pflegebedürftigkeit, von den Erinnerungen oder ihren versteckten Spuren heimgesucht. Der alte Schutzpanzer, das Was-uns-nicht-tötet-härtet-uns-ab, er hilft nicht ein Leben lang.
Jenseits der persönlichen Schicksale fragt sich, wie die Mentalität der Kriegskinder das Land und damit auch die nächsten Generationen geprägt hat. Vielleicht haben sie ihren Leistungswillen tradiert, diesen unbedingten Glauben an die eigene Kraft. Vielleicht haben sie aber auch eine gewisse selbstbezogene Kühle weitergegeben, die sich aus der German Angst vor immer noch größeren Katastrophen ergibt: Wer stets das Schlimmste vor Augen hat, vermag den Streit eines Kindes mit seinen Schulkameraden nur schwerlich als Problem erkennen. Und wer einen Flüchtlingstreck überlebt hat, kann, wie sich Katja Thimm erinnert, das Murren der kleinen Tochter auf dem Rücksitz eines Autos kaum akzeptieren.
Geht das nun immer so weiter? Jede Generation, die sich von Neuem im eigenen Elend abschottet? Das muss nicht sein. Bücher wie dieses weisen schon sachte in Richtung Neuanfang.
KIA VAHLAND
KATJA THIMM: Vatertage. Eine deutsche Geschichte. Verlag S. Fischer, Frankfurt 2011. 287 Seiten, 18,95 Euro.
Vierzig Prozent aller in der
NS-Zeit geborenen Kinder
sollen traumatisiert sein
Krieg und Nachkriegszeit scheinen weit weg – doch sie prägen die Kinder dieser Jahre bis heute. Oben: Berliner Schwarzmarkt um 1945. Unten: Horst Thimm, Jahrgang 1931, als Junge und mit Tochter Katja.
Fotos: Rudolf Zscheile / Katja Thimm (2)
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„Vatertage“: Die Journalistin Katja Thimm hat ein Buch über die Generation der Kriegskinder geschrieben
Horst Thimm hat die Dinge gerne selbst in der Hand. Jetzt aber, im Alter, entgleiten sie ihm immer öfter. Er kriegt den Stöpsel der Badewanne nicht mehr zu greifen und muss die Nacht im Wasser verbringen. Oder er sperrt sich bei eisigen Temperaturen im Schlafanzug aus und landet auf dem Weg zum Ersatzschlüssel in den Rabatten. Thimm lebt alleine; es kann dauern, bis er gefunden wird. Er könnte sich nun Unterstützung organisieren, jemanden, der ihm hilft, auf sich aufzupassen. Aber Horst Thimm vertraut lieber sich selbst. Und jedes Mal, wenn er wieder ein solches Unglück überlebt hat, erfüllt ihn Stolz, es noch einmal geschafft zu haben.
Für seine Tochter Katja, Autorin von „Vatertage. Eine deutsche Geschichte“, sind die nicht abreißenden Schreckensnachrichten eine Tortur. Irgendwann nimmt sich der Vater endlich ein Zimmer im Altersheim, ist aber längst ein Pflegefall, gequält zudem von Angstträumen, die keiner versteht. Die Schwestern lehnen die Verantwortung für ihn ab, eine Gutachterin kommt. Horst Thimm legt sich ins Zeug, macht sich fein für den Besuch, zeigt sich als charmanter, eloquenter Erzähler seiner Missgeschicke. Mit Erfolg: Die Gutachterin stuft ihn in eine zu niedrige Pflegestufe ein.
Die überforderte Tochter will den Dingen auf den Grund gehen und endlich verstehen, was eigentlich los ist. Auch der Vater, der immer eher schweigsam war, was ihn selbst betraf, möchte nun sprechen. Vorsichtig öffnet er sich dem Gespräch, erlaubt sogar ein Aufnahmegerät und Notizen für ein Buch über sein Leben. Was sich auftut, ist nicht nur die Geschichte des Horst Thimm, sondern ein Generationenporträt der ab 1929 geborenen Kriegskinder – zu jung, um am Dritten Reich schuld zu sein, zu alt, um ihm entkommen zu können. Männer und Frauen, die als kleine Kinder die Nächte in Bunkern verbrachten, ihre Väter kaum kannten und die Sorgen der Trümmermütter mehr spürten als begriffen.
Was das für den Gefühlshaushalt bedeutet, wird manchen erst nach der Pensionierung klar, gab es in der alten Bundesrepublik doch einen Konsens des Schweigens über diese schmerzhaften Geschichten. So wie die Eltern der Kriegskinder nicht aussprachen, was sie als Soldaten und Funktionäre jüdischen Mitbürgern und anderen Völkern angetan hatten, so sahen sie oftmals auch das Leid ihrer eigenen Kinder nicht, hatten sie doch vermeintlich selbst die größten Opfer gebracht. Später gerieten die persönlichen Erinnerungen an Bombenhagel, Flucht und Vertreibung schnell unter den ideologischen Verdacht der Relativierung von NS-Verbrechen.
Und so waren es in der prosperierenden Bundesrepublik vor allem Erfolgsgeschichten, die sich mit den Kriegskindern verbanden. Auch Horst Thimm gelang nach seiner lebensgefährlichen Flucht aus Masuren und mehrjähriger Haft in der DDR ein zweites Leben: Er gründete eine Familie und machte Karriere in einem Bundesministerium. Es lief bestens – wäre da nicht das Wissen gewesen, das auch alles wieder jederzeit zusammenbrechen kann.
Katja Thimm beschreibt eindrücklich die kleinen Signale, die sie als Kind hinnahm. So packte der Vater am Vorabend jedes Urlaubs den Kofferraum auf Probe und pflegte auch ansonsten ein leidenschaftlich-qualvolles Verhältnis zum Sortieren. Bei Kriegsende hatte er als 13-Jähriger ohne seine Eltern einen vollbepackten Pferdewagen durch den ostdeutschen Winter getrieben. Dann musste er den Wagen im Flüchtlingstreck zurücklassen, während Hungernde gestrauchelte, noch lebende Pferde am Wegesrand aufschnitten. Horst fand im brandenburgischen Eberswalde seine Mutter wieder, musste nun aber mit anderen Heranwachsenden Leichen bergen und Trümmer räumen – ein Junge noch, zu früh erwachsen geworden.
Als Student wurde er beim Aufstand vom 17. Juni 1953 verhaftet. Diesmal kam er frei, das nächste Mal nicht: Er hatte Ost-Kameras geschmuggelt, um auch der Mutter eine Existenz im Westen bieten zu können, und wurde zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.
Katja Thimm, von Beruf Spiegel-Reporterin, erzählt die väterlichen Erfahrungen liebevoll-staunend und mit größtmöglicher Sachlichkeit. Sympathisch wirkt der Vater bis in seine Sturköpfigkeit. Diese hatte ihn einst ohne Selbstverrat die Haft in der DDR überstehen lassen, jetzt aber, im Alter, macht sie ihm das Leben schwerer als nötig. Die Tochter sieht dies, akzeptiert es, will nicht abrechnen, sondern anerkennen, ohne sich Horst Thimms Annahmen über die Welt zu sehr zu eigen zu machen.
Damit stößt sie eine längst überfällige Diskussion zwischen den Generationen an. 40 Prozent aller Kriegskinder in Deutschland sollen traumatisiert sein. Viele von ihnen werden in der Hilflosigkeit des Alters, in Demenz oder Pflegebedürftigkeit, von den Erinnerungen oder ihren versteckten Spuren heimgesucht. Der alte Schutzpanzer, das Was-uns-nicht-tötet-härtet-uns-ab, er hilft nicht ein Leben lang.
Jenseits der persönlichen Schicksale fragt sich, wie die Mentalität der Kriegskinder das Land und damit auch die nächsten Generationen geprägt hat. Vielleicht haben sie ihren Leistungswillen tradiert, diesen unbedingten Glauben an die eigene Kraft. Vielleicht haben sie aber auch eine gewisse selbstbezogene Kühle weitergegeben, die sich aus der German Angst vor immer noch größeren Katastrophen ergibt: Wer stets das Schlimmste vor Augen hat, vermag den Streit eines Kindes mit seinen Schulkameraden nur schwerlich als Problem erkennen. Und wer einen Flüchtlingstreck überlebt hat, kann, wie sich Katja Thimm erinnert, das Murren der kleinen Tochter auf dem Rücksitz eines Autos kaum akzeptieren.
Geht das nun immer so weiter? Jede Generation, die sich von Neuem im eigenen Elend abschottet? Das muss nicht sein. Bücher wie dieses weisen schon sachte in Richtung Neuanfang.
KIA VAHLAND
KATJA THIMM: Vatertage. Eine deutsche Geschichte. Verlag S. Fischer, Frankfurt 2011. 287 Seiten, 18,95 Euro.
Vierzig Prozent aller in der
NS-Zeit geborenen Kinder
sollen traumatisiert sein
Krieg und Nachkriegszeit scheinen weit weg – doch sie prägen die Kinder dieser Jahre bis heute. Oben: Berliner Schwarzmarkt um 1945. Unten: Horst Thimm, Jahrgang 1931, als Junge und mit Tochter Katja.
Fotos: Rudolf Zscheile / Katja Thimm (2)
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für Kia Vahland stoßen Bücher wie dieses den längst überfälligen Dialog zwischen den Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs und ihren Nachkommen an. Die Spiegelreporterin Katja Thimm hat ihren Vater, dessen in Krieg und DDR-Haft erlittenen Traumata im Alter massiv an die Oberfläche drängen, eingehend nach seinen Erinnerungen befragt und sie mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen an in Beziehung gesetzt, erfahren wir. Der Rezensentin fällt angenehm auf, wie sich die Autorin, bei allem Bemühen um eine sachliche Haltung, vor allem "liebevoll-staunend" in die Vergangenheit ihres Vaters begibt und dabei eine einnehmende Persönlichkeit porträtiert. Wichtig findet Vahland dieses Buch vor allem, weil es die Frage stellt, wie sehr die Erfahrungen der Kriegskinder-Generation mit ihren verdrängten Traumata die nachfolgenden Generationen geprägt haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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