Dieses Buch ist ein gutes Buch, ein vernünftiges außerdem, klug und abwägend geschrieben, viel wenn nicht alle Umstände berücksichtigend – es ist das Portrait eines Vaters, das von der Tochter zu Papier gebracht worden ist. Er ist als 13-jähriger vor dem Kriege geflohen und doch von ihm eingeholt
worden, er wurde aus Not zum Schwarzmarkthändler und Schieber und wurde zur Strafe in…mehrDieses Buch ist ein gutes Buch, ein vernünftiges außerdem, klug und abwägend geschrieben, viel wenn nicht alle Umstände berücksichtigend – es ist das Portrait eines Vaters, das von der Tochter zu Papier gebracht worden ist. Er ist als 13-jähriger vor dem Kriege geflohen und doch von ihm eingeholt worden, er wurde aus Not zum Schwarzmarkthändler und Schieber und wurde zur Strafe in DDR-Gefängnisse eingesperrt. Dann kam der Aufstieg, er wurde Verwaltungsbeamter im Westen und in Bonn bis zum Ministerialrat befördert. Nach seiner Pensionierung der schnelle Abstieg, er wird krank, sterbenskrank. Erst angesichts des nahenden Todes und von seiner Tochter dazu gedrängt, ist der Vater bereit, die verschütteten Stationen seiner Vergangenheit: Vertreibung, Gefängnis und Beruf, mit Hilfe der Tochter wieder auszugraben. Dazwischen die Stationen der Gegenwart: Krankheiten, Pflege, Pflegeheime, Pflegepersonal, Ärzte; die Tochter dokumentiert den Prozess des geistigen und körperlichen Zerfalls des Vaters.
Das Buch erzählt nicht viel Neues, es gibt viele Geschichten dieser Art, auch wenn ich nur wenige davon kenne. Was macht das Buch dennoch so lesenswert? A) Das Buch ist glaubwürdig, ich habe den festen Eindruck, so kann es gewesen sein. B) Katja Thimm schreibt diszipliniert (die Tochter ihres Vaters!) aber nicht distanziert (die Tochter ihrer Mutter?), denn aus ihrer Darstellung lese ich Verständnis und eine zarte Form der Zuneigung C) Sie erklärt das Handeln, die Merkwürdigkeiten, die Entscheidungen, kurzum das ganze Leben dieses charakterfesten Sonderlings aus den Ereignissen, mit denen er konfrontiert war. Diese Ereignisse waren extrem, unvorhersehbar, lebens-bedrohlich und haben sein Leben zum großen Teil bestimmt.
Das Leben, das durch die Umgebung bedingte: Katja Thimm hat es aufgeschrieben. Die Pedanterie des Vaters passt zum Ministerialbeamten, seine Starrköpfigkeit oder besser Unbeugsamkeit eher weniger: auch in den Ministerien haben die Biegsamen die Mehrheit. Gleichwohl, nicht alles lässt sich durch äußere Einflüsse erklären, so seine Prinzipientreue, damit ist er zur Welt gekommen, das ist seine auch durch das Äußere nicht veränderbare Größe. Egal ob Flüchtling, Strafgefangener, Beamter, Vater oder Ehemann: ich behaupte, daß er in diesem Punkt immer derselbe geblieben wäre.
Seine Tochter hat ihm mit diesem Buch eine würdige Erinnerung geschenkt. Aber: wo bleibt seine Frau? Kein Mann ist so fest, auch der Herr Thimm nicht, dass er nicht durch das Zusammenleben mit einer Frau, selbst wenn es möglicherweise zeitlich begrenzt war, beeinflußt wird. In dieser Geschichte kommt seine Frau nur ganz am Rande vor. Aber auch das gehörte, so vermute ich, zu den Eigenarten des Vaters und den besonderen Umständen, denen er ausgesetzt war.