Er ist einer der schillerndsten Vertreter der Lebensreformbewegung im späten 19. Jahrhundert: Der Maler Karl Wilhelm Diefenbach predigt seine Heilslehre von Rohkosternährung, Nacktkörperkultur und freier Liebe als viel geschmähter »Kohlrabiapostel« auf Münchens Straßen. Dass er selbst von wiederkehrenden heftigen Magen- und Gliederschmerzen geplagt wird, schwächt weder seine Überzeugung noch seine Ablehnung der konventionellen Medizin. Zu gesundheitlichen gesellen sich regelmäßig finanzielle Nöte, die der begabte Maler durch Auftragsarbeiten immer wieder knapp abwenden kann. In einem verlassenen Steinbruch in der Nähe von München gründet er in den 1880er Jahren eine Kommune, doch damit beginnen seine Probleme erst richtig ...Felix Kucher erzählt von einem, der die Welt radikal verändern will und an seinen eigenen hehren Ansprüchen immer wieder scheitert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2022Bekannter Sonderling
Felix Kuchers Roman über einen Lebensreformer
Karl Wilhelm Diefenbach, 1851 bis 1913, Maler, Lebensreformer, Eigenbrötler, geriet lange Zeit in Vergessenheit. Heute gilt er aber - wieder - in der Kunstgeschichte als ein früher, sehr spezieller Vertreter des Symbolismus und, was seine reformerischen Ansätze betrifft, als im deutschen Sprachraum wichtiger Propagandist von Vegetarismus (damals noch "Vegetarianismus" genannt), Tierschutz, Freikörperkultur und Pazifismus. Die erste Friedensnobelpreisträgerin, Bertha von Suttner ("Die Waffen nieder"), war mit ihm in Freundschaft verbunden. Beide mussten übrigens, er um etwa ein halbes Jahr, sie um einen knappen Monat, den Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr erleben.
Felix Kucher hat sich in unserer Pandemiezeit zu seinem Roman, eigentlich eher eine Mischung aus Biographie, Roman und Anekdoten, über Diefenbach vermutlich dadurch inspirieren lassen, dass dieser auch vehementer Impfgegner und mehr als skeptisch gegenüber den "Pharmakologen" (will heißen: den Herstellern pharmazeutischer Produkte und der sogenannten Schulmedizin) war. Damals freilich nicht ganz unbegründet, weigerten sich doch Ärzte und Krankenhauspersonal noch in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts, trotz der Erkenntnisse von Ignaz Semmelweis (um 1848) und Florence Nightingale (nach dem Krimkrieg), auch nur die geringsten Forderungen der Körperhygiene - Händewaschen! - während der Ausübung ihrer Berufe in Betracht zu ziehen. Andererseits hielt Diefenbach selbst Wasser, Frischluft und Sonnenlicht für ausreichend reinigend. Seife wurde damals ja auch noch zu einem gewissen Anteil aus Tierfetten hergestellt, was seine Abneigung begründet haben mag.
Für seine Erzählung greift Kucher in etwa den Zeitraum von 1880 bis 1892 heraus. Die Jahre zuvor, also die Kindheit Diefenbachs und das Verhältnis zu seinen Eltern, lässt er den "Meister", wie Diefenbach auch gerne von seinen Anhängern genannt wurde - er selbst sah sich eher als "primus inter pares", ließ sich auch als "Homo", also Lateinisch für "Mensch", bezeichnen -, in einem Gespräch gleich zu Anfang erzählen. Den auch nicht gerade ereignislosen Rest seines Lebens, nach der großen, künstlerisch erfolgreichen, finanziell aber desaströsen Ausstellung in Wien zu Beginn des Jahres 1892, schildert Kucher in einer knappen "Nachschrift".
Diese bisweilen doch recht eigenartig altertümliche Wortwahl findet sich im ganzen Werk. Für den nicht in Details geschilderten, aber öfters erwähnten Sex zwischen - meistens - Diefenbach, der zwar verheiratet war, es aber als Verfechter nicht nur des Nudismus, sondern auch der "freien Liebe" mit ehelicher Treue gar nicht genau nahm, und einer erklecklichen Anzahl von Frauen liest man etwa den antiquierten, eventuell aber noch im Juristendeutsch verbreiteten Begriff "Geschlechtsakt". Die ersten Gespräche, bevor der "Meister" den Leuten das Du anbietet und ihnen lateinische Spitznamen (Fidelis, Fidus, Helios, Lucidus et cetera) gibt, finden in einer "Sage Er - sage Sie"-Form statt, die man eher dem achtzehnten als dem neunzehnten Jahrhundert zuordnen würde. Nun ja, vielleicht kann sich Kucher da auf Quellen stützen, die er uns aber nicht verrät. Oder hat man damals in und um München herum, wo sich der Großteil der Handlung in von Diefenbach gegründeten "Kommunen" abspielt, tatsächlich noch so gesprochen?
Festzuhalten bleibt jedenfalls, und Belege dafür findet man heute mit Leichtigkeit in Bibliotheken und selbstverständlich im Internet, dass der oft von seinen Gegnern - "Feinde" wäre zu viel unterstellt - als "Kohlrabiapostel" betitelte, in der Stadt zumindest nicht nackte, aber nur in eine Wollkutte gehüllte, meist bloßfüßige, bei strenger Kälte in Gummistiefeln (wegen des Tierwohls niemals Lederschuhe!), mit wallender Mähne und wildem Vollbart auftretende und seine Lehren predigende Diefenbach ein stadtbekannter Sonderling war.
Ganz wird man freilich den Eindruck nicht los, dass der aus Kärnten stammende Autor seinen Romanhelden nie ganz ernst nimmt, sich gar, trotz gewissen Respekts für manche der Überzeugungen Diefenbachs, über ihn lustig macht. Das geht allerdings schon in Ordnung so und macht die Lektüre, trotz einiger Lücken in der Schilderung jener Jahre, durchaus unterhaltsam. MARTIN LHOTZKY
Felix Kucher: "Vegetarianer". Roman.
Picus Verlag, Wien 2022. 232 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Felix Kuchers Roman über einen Lebensreformer
Karl Wilhelm Diefenbach, 1851 bis 1913, Maler, Lebensreformer, Eigenbrötler, geriet lange Zeit in Vergessenheit. Heute gilt er aber - wieder - in der Kunstgeschichte als ein früher, sehr spezieller Vertreter des Symbolismus und, was seine reformerischen Ansätze betrifft, als im deutschen Sprachraum wichtiger Propagandist von Vegetarismus (damals noch "Vegetarianismus" genannt), Tierschutz, Freikörperkultur und Pazifismus. Die erste Friedensnobelpreisträgerin, Bertha von Suttner ("Die Waffen nieder"), war mit ihm in Freundschaft verbunden. Beide mussten übrigens, er um etwa ein halbes Jahr, sie um einen knappen Monat, den Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr erleben.
Felix Kucher hat sich in unserer Pandemiezeit zu seinem Roman, eigentlich eher eine Mischung aus Biographie, Roman und Anekdoten, über Diefenbach vermutlich dadurch inspirieren lassen, dass dieser auch vehementer Impfgegner und mehr als skeptisch gegenüber den "Pharmakologen" (will heißen: den Herstellern pharmazeutischer Produkte und der sogenannten Schulmedizin) war. Damals freilich nicht ganz unbegründet, weigerten sich doch Ärzte und Krankenhauspersonal noch in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts, trotz der Erkenntnisse von Ignaz Semmelweis (um 1848) und Florence Nightingale (nach dem Krimkrieg), auch nur die geringsten Forderungen der Körperhygiene - Händewaschen! - während der Ausübung ihrer Berufe in Betracht zu ziehen. Andererseits hielt Diefenbach selbst Wasser, Frischluft und Sonnenlicht für ausreichend reinigend. Seife wurde damals ja auch noch zu einem gewissen Anteil aus Tierfetten hergestellt, was seine Abneigung begründet haben mag.
Für seine Erzählung greift Kucher in etwa den Zeitraum von 1880 bis 1892 heraus. Die Jahre zuvor, also die Kindheit Diefenbachs und das Verhältnis zu seinen Eltern, lässt er den "Meister", wie Diefenbach auch gerne von seinen Anhängern genannt wurde - er selbst sah sich eher als "primus inter pares", ließ sich auch als "Homo", also Lateinisch für "Mensch", bezeichnen -, in einem Gespräch gleich zu Anfang erzählen. Den auch nicht gerade ereignislosen Rest seines Lebens, nach der großen, künstlerisch erfolgreichen, finanziell aber desaströsen Ausstellung in Wien zu Beginn des Jahres 1892, schildert Kucher in einer knappen "Nachschrift".
Diese bisweilen doch recht eigenartig altertümliche Wortwahl findet sich im ganzen Werk. Für den nicht in Details geschilderten, aber öfters erwähnten Sex zwischen - meistens - Diefenbach, der zwar verheiratet war, es aber als Verfechter nicht nur des Nudismus, sondern auch der "freien Liebe" mit ehelicher Treue gar nicht genau nahm, und einer erklecklichen Anzahl von Frauen liest man etwa den antiquierten, eventuell aber noch im Juristendeutsch verbreiteten Begriff "Geschlechtsakt". Die ersten Gespräche, bevor der "Meister" den Leuten das Du anbietet und ihnen lateinische Spitznamen (Fidelis, Fidus, Helios, Lucidus et cetera) gibt, finden in einer "Sage Er - sage Sie"-Form statt, die man eher dem achtzehnten als dem neunzehnten Jahrhundert zuordnen würde. Nun ja, vielleicht kann sich Kucher da auf Quellen stützen, die er uns aber nicht verrät. Oder hat man damals in und um München herum, wo sich der Großteil der Handlung in von Diefenbach gegründeten "Kommunen" abspielt, tatsächlich noch so gesprochen?
Festzuhalten bleibt jedenfalls, und Belege dafür findet man heute mit Leichtigkeit in Bibliotheken und selbstverständlich im Internet, dass der oft von seinen Gegnern - "Feinde" wäre zu viel unterstellt - als "Kohlrabiapostel" betitelte, in der Stadt zumindest nicht nackte, aber nur in eine Wollkutte gehüllte, meist bloßfüßige, bei strenger Kälte in Gummistiefeln (wegen des Tierwohls niemals Lederschuhe!), mit wallender Mähne und wildem Vollbart auftretende und seine Lehren predigende Diefenbach ein stadtbekannter Sonderling war.
Ganz wird man freilich den Eindruck nicht los, dass der aus Kärnten stammende Autor seinen Romanhelden nie ganz ernst nimmt, sich gar, trotz gewissen Respekts für manche der Überzeugungen Diefenbachs, über ihn lustig macht. Das geht allerdings schon in Ordnung so und macht die Lektüre, trotz einiger Lücken in der Schilderung jener Jahre, durchaus unterhaltsam. MARTIN LHOTZKY
Felix Kucher: "Vegetarianer". Roman.
Picus Verlag, Wien 2022. 232 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensentin Julia Schröder weiß nicht so recht, wieso Felix Kucher einen Roman über den viel geschmähten Ahnen der Alternativkultur schreiben musste. Die Bezüge zur Gegenwart jedenfalls, die die Figur des Karl Wilhelm Diefenbach bietet, hat Kucher schnell ausgebeutet, meint sie. Was dann kommt, findet sie bestenfalls überflüssig. Problematisch erscheint ihr der ironische Ton der brav chronologisch vorgehenden Darstellung. Der wirkt auf sie nicht nur staubig und ermüdend, sondern auch schief, weil der Autor ironischen Stil mit dem gerechten Bewusstsein vom historischen Abstand zu seinem Gegenstand verwechselt, wie sie findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der Mann hat eine Mission: Nichts weniger als der neue Mensch soll es sein: sich fleischlos ernährend, auf die Naturmedizin vertrauend, der Ehe und anderen Zwangssystemen entsagend. Felix Kucher erzählt mit Verve und kritischer Empathie von den Aufschwüngen und Niederschlägen des Karl Wilhelm Diefenbach.«Günther Steinke, Schaefer Bücher