Das erste Mal, 1964, in Gesellschaft einer jungen Frau. Dann, 1982, mit dem Orientexpress. Erst beim zehnten Mal das Wagnis: eine Gondelfahrt. Und schließlich, 2018, kappt ein heftiger Sturm die einzige Landverbindung zwischen der Stadt und dem Rest der Welt und sorgt dafür, dass der Gast länger bleibt als geplant.
Cees Nootebooms Liebe zu Venedig, dieser »absurden Kombination von Macht, Geld, Genie und großer Kunst«, dauert nun schon über 50 Jahre an. Viele Male hat er die Stadt besucht, wohnt in prachtvollen Hotels und düsteren Apartments, huldigt den Malern und Schriftstellern, die hier lebten und arbeiteten, beobachtet den drohenden Ausverkauf Venedigs ebenso wie das Verhalten der Bewohner und Besucher: klug und selbstironisch, fast zärtlich.
Der große niederländische Autor und Reisende Cees Nooteboom stellt sich die Frage: »Weshalb liebe ich diesen Ort mehr als andere Orte?« In seinen Texten aus drei Jahrzehnten gibt er die Antwort - und setzt Venedig, La Serenissima, ein Denkmal von ungeheurer Strahlkraft.
»An dem Tag, an dem Venedig unter Wasser verschwindet, steigen all die Marmorlöwen auf wie ein tödliches Geschwader, ein letztes Mal noch fliegen sie mit dem Geräusch von hundert Kampfflugzeugen um den Campanile und ziehen dann, einer mächtigen Sonnenfinsternis gleich, über die Lagune hinweg.«
Cees Nootebooms Liebe zu Venedig, dieser »absurden Kombination von Macht, Geld, Genie und großer Kunst«, dauert nun schon über 50 Jahre an. Viele Male hat er die Stadt besucht, wohnt in prachtvollen Hotels und düsteren Apartments, huldigt den Malern und Schriftstellern, die hier lebten und arbeiteten, beobachtet den drohenden Ausverkauf Venedigs ebenso wie das Verhalten der Bewohner und Besucher: klug und selbstironisch, fast zärtlich.
Der große niederländische Autor und Reisende Cees Nooteboom stellt sich die Frage: »Weshalb liebe ich diesen Ort mehr als andere Orte?« In seinen Texten aus drei Jahrzehnten gibt er die Antwort - und setzt Venedig, La Serenissima, ein Denkmal von ungeheurer Strahlkraft.
»An dem Tag, an dem Venedig unter Wasser verschwindet, steigen all die Marmorlöwen auf wie ein tödliches Geschwader, ein letztes Mal noch fliegen sie mit dem Geräusch von hundert Kampfflugzeugen um den Campanile und ziehen dann, einer mächtigen Sonnenfinsternis gleich, über die Lagune hinweg.«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.09.2019Es schüttet
Metaphern
Cees Nooteboom erkundet
seine Liebe zu Venedig
Mehr als fünfzig Jahre ist es her, dass der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom zum ersten Mal in Venedig war. Mindestens so oft hat er, so scheint es, über die Stadt geschrieben. Eine Sammlung dieser Essays und Vignetten, teils schon anderweitig veröffentlicht, teils bislang nicht publiziert, ist nun unter dem Titel „Der Löwe, die Stadt und das Wasser“ erschienen. Begleitet werden die Texte von, wie man freundlich sagen müsste: geschmackvoll vertrauten Bildern der Fotografin Simone Sassen, Nootebooms Ehefrau.
Ähnliches wäre auch über die imaginären Zwiegespräche zu sagen, die der Autor mit Petrarca und Palladio hält, mit Hippolyte Taine und Louis Couperus, mit den Gemälden von Carpaccio und Tintoretto. Auch diese Meditationen sind geschmackvoll und vertraut; sie sind gebildet und auf behutsame Weise originell. Warum man sie lesen sollte, da es doch gebildete und dabei erhellendere Literatur zu diesen Werken schon im Übermaß gibt, ist allerdings eine nicht leicht zu beantwortende Frage.
Cees Nooteboom ist kein schlechter Schriftsteller. Gelungen etwa ist die Beschreibung der Sirenen, die ein Hochwasser ankündigen, der mechanische, auf- und niedergehende Gesang, der für eine Weile alles durchdringt, um dann in einer „Stille ohne Stimmen und Schritte“ zu enden. Gelungen ist auch die Beschreibung der Karmeliterkirche am Canal Grande, deren Gewölbe, vom jungen Tiepolo ausgemalt, im Ersten Weltkrieg einer Bombe zum Opfer fiel (Venedig war die erste Stadt der Welt, die aus der Luft bombardiert wurde). Es gelingt Cees Nooteboom sogar manche Metapher, zum Beispiel, wenn er das töricht glückselige Gesicht beschreibt, das Menschen aufsetzen, wenn sie vor den Augen anderer Touristen in einer Gondel sitzen und sich durch die Kanäle schaukeln lassen, „als hätten sie dort unten auf dem Wasser die gesamte Stadt wie einen Umhang um sich drapiert“.
Aber es hilft nichts: Es gibt zu viele Bildvergleiche in diesen Aufsätzen, und vor allem gibt es zu viele abgenutzte Tropen: die Beschreibung der Stadt als „aberwitziger Traum“ und „Vision“ über dem Wasser zum Beispiel, oder der Vergleich der Lagune mit einem „lebendigen Organismus“, durch den sich die Wasserwege wie „Blutbahnen“ ziehen. Durch allzu häufigen Gebrauch ist solchen Vergleichen jeder Überschuss an Fantasie ausgetrieben.
Dass die Metaphern hier zu einem Problem werden, liegt aber nur zum einen daran, dass sie so zahlreich und gewöhnlich sind wie die Andenkenläden in den Gassen Venedigs. Schwerwiegender ist, dass sich in ihnen ein gestalterisches Prinzip verbirgt. Die vielen Vergleiche dienen dazu, die ästhetische Form zu sprengen. Sie tun es in Richtung der beschriebenen Gegenstände, weil sich alle Dinge in das Schicksal fügen müssen, ihr eigentliches Dasein in einem vom Schriftsteller für sie gefundenen Sprachbild zu gewinnen: So werden Gondeln zu „schlanken schwarzen Vogelbooten“. Sie tun es auch in Richtung des lesenden Publikums, dem jede Nachricht doppelt und dreifach präsentiert wird, in immer neuen Verschiebungen des Bildfeldes: „Schwarz ist der Schlick, der aus den Tiefen der Lagune kommt, Totenwasser aus der Lethe, dem Fluss der Vergessenheit.“ Viele Leser werden den Schriftsteller seiner poetischen Erfindungskraft wegen bewundern. Einige werden solche Passagen indessen für schwarzen Schmalz halten, zu Recht.
Der Schriftsteller verlangt und bedient jene Bewunderung, indem er, von Metaphern beflügelt, eine systematische Entgrenzung der Literatur betreibt. So kommt es, nüchtern betrachtet, zu allerhand lächerlichen Szenen, in denen er zum Beispiel die Dogengräber an den Wänden der Kirche Santi Giovanni e Paolo beschreibt: „Ich habe sie schon in früheren Jahren besucht und mich gefragt, ob ich das auch wollte, bis in alle Ewigkeit auf halber Höhe einer Kirchenmauer schlafen.“ Die naheliegende Frage, ob denn tatsächlich jemand wissen möchte, ob Cees Nooteboom dort oben begraben sein wolle, mit der phrygischen Mütze auf dem Kopf, verweigert sich dem Verfahren dieser Essays. Denn tatsächlich geht es in ihnen um das Ereignis, das der Schriftsteller selber sein will. Um dieses Ereignisses willen schüttet es Metaphern, und um dieses Ereignisses willen verfasst Cees Nooteboom eine Art Literatur, in der alle Trennungen aufgehoben sind, die zwischen dem Leser und dem Buch ebenso wie die zwischen dem Buch und seinem Gegenstand: Hauptsache, der Autor steht in der Mitte von allem.
„Warum bin ich nun schon zum wer weiß wievielten Mal zurückgekehrt?“, fragt der Schriftsteller in der Mitte des Buches, „worin besteht eigentlich die Anziehungskraft der Stadt?“ Eine Antwort gibt er nicht. Stattdessen treibt es Cees Nooteboom, der alles gelesen und alles gesehen zu haben scheint, immer weiter, anderen Lektüren und Ansichten Venedigs entgegen, die sich immer wieder als Varianten derselben Drehung um sich selbst entpuppen. Dabei war die Frage doch vernünftig gewesen.
THOMAS STEINFELD
Cees Nooteboom: Venedig. Der Löwe, die Stadt und das Wasser. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 240 Seiten, 24 Euro.
„Schwarz ist der Schlick, der aus
den Tiefen der Lagune kommt,
Totenwasser aus der Lethe …“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Metaphern
Cees Nooteboom erkundet
seine Liebe zu Venedig
Mehr als fünfzig Jahre ist es her, dass der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom zum ersten Mal in Venedig war. Mindestens so oft hat er, so scheint es, über die Stadt geschrieben. Eine Sammlung dieser Essays und Vignetten, teils schon anderweitig veröffentlicht, teils bislang nicht publiziert, ist nun unter dem Titel „Der Löwe, die Stadt und das Wasser“ erschienen. Begleitet werden die Texte von, wie man freundlich sagen müsste: geschmackvoll vertrauten Bildern der Fotografin Simone Sassen, Nootebooms Ehefrau.
Ähnliches wäre auch über die imaginären Zwiegespräche zu sagen, die der Autor mit Petrarca und Palladio hält, mit Hippolyte Taine und Louis Couperus, mit den Gemälden von Carpaccio und Tintoretto. Auch diese Meditationen sind geschmackvoll und vertraut; sie sind gebildet und auf behutsame Weise originell. Warum man sie lesen sollte, da es doch gebildete und dabei erhellendere Literatur zu diesen Werken schon im Übermaß gibt, ist allerdings eine nicht leicht zu beantwortende Frage.
Cees Nooteboom ist kein schlechter Schriftsteller. Gelungen etwa ist die Beschreibung der Sirenen, die ein Hochwasser ankündigen, der mechanische, auf- und niedergehende Gesang, der für eine Weile alles durchdringt, um dann in einer „Stille ohne Stimmen und Schritte“ zu enden. Gelungen ist auch die Beschreibung der Karmeliterkirche am Canal Grande, deren Gewölbe, vom jungen Tiepolo ausgemalt, im Ersten Weltkrieg einer Bombe zum Opfer fiel (Venedig war die erste Stadt der Welt, die aus der Luft bombardiert wurde). Es gelingt Cees Nooteboom sogar manche Metapher, zum Beispiel, wenn er das töricht glückselige Gesicht beschreibt, das Menschen aufsetzen, wenn sie vor den Augen anderer Touristen in einer Gondel sitzen und sich durch die Kanäle schaukeln lassen, „als hätten sie dort unten auf dem Wasser die gesamte Stadt wie einen Umhang um sich drapiert“.
Aber es hilft nichts: Es gibt zu viele Bildvergleiche in diesen Aufsätzen, und vor allem gibt es zu viele abgenutzte Tropen: die Beschreibung der Stadt als „aberwitziger Traum“ und „Vision“ über dem Wasser zum Beispiel, oder der Vergleich der Lagune mit einem „lebendigen Organismus“, durch den sich die Wasserwege wie „Blutbahnen“ ziehen. Durch allzu häufigen Gebrauch ist solchen Vergleichen jeder Überschuss an Fantasie ausgetrieben.
Dass die Metaphern hier zu einem Problem werden, liegt aber nur zum einen daran, dass sie so zahlreich und gewöhnlich sind wie die Andenkenläden in den Gassen Venedigs. Schwerwiegender ist, dass sich in ihnen ein gestalterisches Prinzip verbirgt. Die vielen Vergleiche dienen dazu, die ästhetische Form zu sprengen. Sie tun es in Richtung der beschriebenen Gegenstände, weil sich alle Dinge in das Schicksal fügen müssen, ihr eigentliches Dasein in einem vom Schriftsteller für sie gefundenen Sprachbild zu gewinnen: So werden Gondeln zu „schlanken schwarzen Vogelbooten“. Sie tun es auch in Richtung des lesenden Publikums, dem jede Nachricht doppelt und dreifach präsentiert wird, in immer neuen Verschiebungen des Bildfeldes: „Schwarz ist der Schlick, der aus den Tiefen der Lagune kommt, Totenwasser aus der Lethe, dem Fluss der Vergessenheit.“ Viele Leser werden den Schriftsteller seiner poetischen Erfindungskraft wegen bewundern. Einige werden solche Passagen indessen für schwarzen Schmalz halten, zu Recht.
Der Schriftsteller verlangt und bedient jene Bewunderung, indem er, von Metaphern beflügelt, eine systematische Entgrenzung der Literatur betreibt. So kommt es, nüchtern betrachtet, zu allerhand lächerlichen Szenen, in denen er zum Beispiel die Dogengräber an den Wänden der Kirche Santi Giovanni e Paolo beschreibt: „Ich habe sie schon in früheren Jahren besucht und mich gefragt, ob ich das auch wollte, bis in alle Ewigkeit auf halber Höhe einer Kirchenmauer schlafen.“ Die naheliegende Frage, ob denn tatsächlich jemand wissen möchte, ob Cees Nooteboom dort oben begraben sein wolle, mit der phrygischen Mütze auf dem Kopf, verweigert sich dem Verfahren dieser Essays. Denn tatsächlich geht es in ihnen um das Ereignis, das der Schriftsteller selber sein will. Um dieses Ereignisses willen schüttet es Metaphern, und um dieses Ereignisses willen verfasst Cees Nooteboom eine Art Literatur, in der alle Trennungen aufgehoben sind, die zwischen dem Leser und dem Buch ebenso wie die zwischen dem Buch und seinem Gegenstand: Hauptsache, der Autor steht in der Mitte von allem.
„Warum bin ich nun schon zum wer weiß wievielten Mal zurückgekehrt?“, fragt der Schriftsteller in der Mitte des Buches, „worin besteht eigentlich die Anziehungskraft der Stadt?“ Eine Antwort gibt er nicht. Stattdessen treibt es Cees Nooteboom, der alles gelesen und alles gesehen zu haben scheint, immer weiter, anderen Lektüren und Ansichten Venedigs entgegen, die sich immer wieder als Varianten derselben Drehung um sich selbst entpuppen. Dabei war die Frage doch vernünftig gewesen.
THOMAS STEINFELD
Cees Nooteboom: Venedig. Der Löwe, die Stadt und das Wasser. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 240 Seiten, 24 Euro.
„Schwarz ist der Schlick, der aus
den Tiefen der Lagune kommt,
Totenwasser aus der Lethe …“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2019Im Gespräch mit den Lebenden und den Toten
Riechen, Hören, Sehen, Verzeihen: Cees Nooteboom wandert durch die Fata Morgana Venedig
Es gibt in diesem wortgewaltigen Buch über Venedig wunderbare Passagen: flimmernd impressionistische Beschreibungen von Himmel und Wasser, von Sonnenuntergängen, Sonnenaufgängen, plötzlichen Regenschauern, schunkelnden Gondeln und über das Wasser der Lagune dahinjagenden Taxibooten. Und dazu sehr persönliche Reflexionen über Sehnsucht, Heimweh, das Wegfahren und das Zurückkommen.
Cees Nooteboom ist ein großer Reiseschriftsteller. Man kann sich in den Kapiteln dieses Buches - der früheste der Texte stammt aus dem Jahr 1998 - gelegentlich auch wie im Kino fühlen, so bildmächtig, dabei elegant und gänzlich unangestrengt, oft hochpoetisch und manchmal auch drastisch beschreibt der Autor Venedig; oder besser seine Liebesgeschichte mit der Lagunenstadt. Und die begann mit seiner ersten Venedig-Reise im Jahr 1964. Seitdem ist er immer wieder zurückgekehrt; hat in Hotels gewohnt, in ehemaligen Klöstern, in Palazzi oder in über Freunde angemieteten Wohnungen. Er kennt die Stadt zu jeder Jahreszeit. Den schneebedeckten Markusplatz ebenso wie das regelmäßige Hochwasser, das Venedig an betörend lichten Frühlingstagen, aber auch die in den Sommermonaten vom Massentourismus entstellte Stadt.
Vor allem - und allein das macht das Buch so lesenswert - durchstreift dieser Autor seit mehr als einem halben Jahrhundert dieses seltsame Venedig. Er sieht und beobachtet, vergleicht, riecht und hört und verzeiht - wie jeder wirklich Liebende - manche venezianische Extravaganz. Und er tut all das mit der weltläufigen Eleganz eines Flaneurs des neunzehnten Jahrhunderts: "Minutiös bis ins letzte Detail hin impressionistisch beschreiben, was es zu sehen gibt", reflektiert der Autor (im Reisegepäck ein Buch von Hippolyte Taine aus dem Jahr 1866) gleich zu Beginn einer seiner Venedig-Aufenthalte, während er in einem Wassertaxi auf die vor ihm auftauchende Stadt zurast.
Seine verschiedenen Venedig-Reisen werden in diesem Buch zu einer einzigen. Die Erinnerungen an das Gesehene und Erlebte aus fünf Jahrzehnten verweben sich zu einem großen Tableau; ähnlich einem komplizierten Wandteppich, der mehrere Geschichten gleichzeitig erzählt, und auf dem der Leser fast schon durch das Nooteboomsche Gedanken- und Erkenntnisuniversum fliegen zu können glaubt. Die ganze Lagune wird zu einer märchenhaften Fata Morgana. Nooteboom selbst - und damit auch seine Leser - sind in Venedig nie allein, denn: "man befindet sich fortwährend in der Gesellschaft Lebender und Toter, man nimmt Teil an einer seit Jahrhunderten geführten Konversation".
Gemeint sind damit Thomas Mann, Marcel Proust, Rilke, Ruskin, Brodsky oder Casanova; eben all die Dichter und Schriftsteller, die am Ruhm Venedigs mitgeschrieben haben, und die Cees Nooteboom auf seinen Spaziergängen durch die Stadt ständig herbeiimaginiert. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig in diesem langsam untergehenden Venedig. So ganz in der Gegenwart kommt dieses Buch dann auch nicht an. Zwar beklagt der Autor den alles banalisierenden und korrumpierenden Massentourismus, die Umweltverschmutzung und das von Korruptionsskandalen umwitterte "MO.S.E- Projekt" - ein Sturmflutsperrwerk, das Venedigs historische Altstadt künftig vor Hochwasser schützen soll -, doch vor allem erliegt er der morbiden Grandezza der Stadt.
Das tut er ganz wundervoll und mit altmodischem Pathos. Eher unscharf aber werden Nootebooms Betrachtungen, wenn er über seine Verehrung für die amerikanische Krimiautorin Donna Leon und ihren Commissario Brunetti fabuliert: Mman braucht nur zwei Krimis von Donna Leon zu lesen, um zu wissen, was los ist." Venezianische, aber auch italienische Realitäten überhaupt sind doch noch etwas komplexer.
ANDREAS SCHLÜTER
Cees Nooteboom: "Venedig". Der Löwe, die Stadt und das Wasser.
Fotografien von Simone Sassen. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 240 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Riechen, Hören, Sehen, Verzeihen: Cees Nooteboom wandert durch die Fata Morgana Venedig
Es gibt in diesem wortgewaltigen Buch über Venedig wunderbare Passagen: flimmernd impressionistische Beschreibungen von Himmel und Wasser, von Sonnenuntergängen, Sonnenaufgängen, plötzlichen Regenschauern, schunkelnden Gondeln und über das Wasser der Lagune dahinjagenden Taxibooten. Und dazu sehr persönliche Reflexionen über Sehnsucht, Heimweh, das Wegfahren und das Zurückkommen.
Cees Nooteboom ist ein großer Reiseschriftsteller. Man kann sich in den Kapiteln dieses Buches - der früheste der Texte stammt aus dem Jahr 1998 - gelegentlich auch wie im Kino fühlen, so bildmächtig, dabei elegant und gänzlich unangestrengt, oft hochpoetisch und manchmal auch drastisch beschreibt der Autor Venedig; oder besser seine Liebesgeschichte mit der Lagunenstadt. Und die begann mit seiner ersten Venedig-Reise im Jahr 1964. Seitdem ist er immer wieder zurückgekehrt; hat in Hotels gewohnt, in ehemaligen Klöstern, in Palazzi oder in über Freunde angemieteten Wohnungen. Er kennt die Stadt zu jeder Jahreszeit. Den schneebedeckten Markusplatz ebenso wie das regelmäßige Hochwasser, das Venedig an betörend lichten Frühlingstagen, aber auch die in den Sommermonaten vom Massentourismus entstellte Stadt.
Vor allem - und allein das macht das Buch so lesenswert - durchstreift dieser Autor seit mehr als einem halben Jahrhundert dieses seltsame Venedig. Er sieht und beobachtet, vergleicht, riecht und hört und verzeiht - wie jeder wirklich Liebende - manche venezianische Extravaganz. Und er tut all das mit der weltläufigen Eleganz eines Flaneurs des neunzehnten Jahrhunderts: "Minutiös bis ins letzte Detail hin impressionistisch beschreiben, was es zu sehen gibt", reflektiert der Autor (im Reisegepäck ein Buch von Hippolyte Taine aus dem Jahr 1866) gleich zu Beginn einer seiner Venedig-Aufenthalte, während er in einem Wassertaxi auf die vor ihm auftauchende Stadt zurast.
Seine verschiedenen Venedig-Reisen werden in diesem Buch zu einer einzigen. Die Erinnerungen an das Gesehene und Erlebte aus fünf Jahrzehnten verweben sich zu einem großen Tableau; ähnlich einem komplizierten Wandteppich, der mehrere Geschichten gleichzeitig erzählt, und auf dem der Leser fast schon durch das Nooteboomsche Gedanken- und Erkenntnisuniversum fliegen zu können glaubt. Die ganze Lagune wird zu einer märchenhaften Fata Morgana. Nooteboom selbst - und damit auch seine Leser - sind in Venedig nie allein, denn: "man befindet sich fortwährend in der Gesellschaft Lebender und Toter, man nimmt Teil an einer seit Jahrhunderten geführten Konversation".
Gemeint sind damit Thomas Mann, Marcel Proust, Rilke, Ruskin, Brodsky oder Casanova; eben all die Dichter und Schriftsteller, die am Ruhm Venedigs mitgeschrieben haben, und die Cees Nooteboom auf seinen Spaziergängen durch die Stadt ständig herbeiimaginiert. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig in diesem langsam untergehenden Venedig. So ganz in der Gegenwart kommt dieses Buch dann auch nicht an. Zwar beklagt der Autor den alles banalisierenden und korrumpierenden Massentourismus, die Umweltverschmutzung und das von Korruptionsskandalen umwitterte "MO.S.E- Projekt" - ein Sturmflutsperrwerk, das Venedigs historische Altstadt künftig vor Hochwasser schützen soll -, doch vor allem erliegt er der morbiden Grandezza der Stadt.
Das tut er ganz wundervoll und mit altmodischem Pathos. Eher unscharf aber werden Nootebooms Betrachtungen, wenn er über seine Verehrung für die amerikanische Krimiautorin Donna Leon und ihren Commissario Brunetti fabuliert: Mman braucht nur zwei Krimis von Donna Leon zu lesen, um zu wissen, was los ist." Venezianische, aber auch italienische Realitäten überhaupt sind doch noch etwas komplexer.
ANDREAS SCHLÜTER
Cees Nooteboom: "Venedig". Der Löwe, die Stadt und das Wasser.
Fotografien von Simone Sassen. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 240 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[Nootebooms] Venedig-Texte sind Etüden auf die Vergänglichkeit, in denen Beobachtung und Gedächtnis, lyrische Sensibilität und epische Phantasie sich auf eine poetische Weise durchdringen.« Andrea Köhler Neue Zürcher Zeitung 20190620