Produktdetails
- Verlag: Wagenbach
- Seitenzahl: 240
- Abmessung: 320mm x 231mm x 22mm
- Gewicht: 1434g
- ISBN-13: 9783803135742
- ISBN-10: 3803135745
- Artikelnr.: 25020419
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.1996Liebesgöttinnen aus weicher Knetmasse
Tizian ist der Renoir der Renaissance: Roberto Longhis furioser Essay zur venezianischen Malerei · Von Gustav Seibt
Im Sommer 1945 feierte die Stadt Venedig den Frieden mit einer Ausstellung über die glanzvollen Jahrhunderte ihrer Malerei zwischen dem vierzehnten Jahrhundert und dem spätbarocken Meister Tiepolo. Italien hatte den Reichtum seiner Kunstschätze noch einmal retten können und zeigte dies nicht nur in Venedig. Es meldete sich zurück in den Kreis der großen Kulturnationen. Damals besuchte Roberto Longhi aus Florenz, der angesehenste gelehrte Kenner der italienischen Malerei, mit seinen Studenten die eilends zusammengestellte Schau. Für sie und für sich warf er einen kurzen Führer aufs Papier - kaum hundert Seiten Prosa, ergänzt durch einen Malerkatalog, die eins der erstaunlichsten Beispiele von Kunstschriftstellerei in diesem Jahrhundert darstellen.
Man lauscht einem absichtsvoll inszenierten Selbstgespräch, dessen effektsicher gesetzte Pointen wie der Unwille, sich auf Erklärungen und Begründungen einzulassen, den Zuhörer mit einer Autorität konfrontieren, der gegenüber er sich zunächst völlig wehrlos fühlen muß. Hier spricht, nein höhnt, schimpft, brabbelt und rühmt ein Kenner, der alles gesehen und alles im Kopf zu haben scheint. Die deutschen Kunsthistoriker haben Veronese verachtet? Ach, als sie gerade Tintoretto auf ihren Leichenkarren geworfen hatten und noch schnell bei Veronese vorbeischauten, war der wohl gerade nicht zu Hause, "und daher strich ihn der intelligenteste dieser Leichenträger kurzerhand von seiner Liste mit dem Vermerk "Für die Entwicklung unbedeutend'". Unglaublich! Diese Deutschen sind blind, sonst sähen sie, daß sich bei Veronese die Welt entfaltet "wie auf einem prächtigen Gobelin, der sich bei jedem leisen Windhauch von der Wand abhebt und dabei in allen Farben changiert".
Tintoretto, den Vielzuvielmaler, zu verehren verrät dagegen nur die naive Verwechslung von akademischer Bravour mit künstlerischem Furor: "Ebendiese technische Gigantomanie war es, die dem gerade vergangenen zwanzigjährigen Regime gefiel." Es hagelt Urteile: Tizians Johannes der Täufer ist grobschlächtig, Piazzettas Märtyrerdramen nehmen schon "schlimmstes neunzehntes Jahrhundert" vorweg, das siebzehnte Jahrhundert liefert bestenfalls "banale Liebesgöttinnen aus weicher Knetmasse für deutsche Fürsten". Auch die Ausstellung selbst ist für diesen Besucher vielfach unbefriedigend. Für Bellini schaut man besser in die benachbarten Kirchen, Giorgione hätte man glücklicher auswählen können - und so fort.
All dies wird in einem atemlosen, teils verschachtelten, teils parataktischen Stil vorgetragen, der die Mühe verrät, eine überquellende Wissensfülle gerade noch im Zaum zu halten, bevor die Sätze platzen und nur noch Einzelheiten und Exklamationen herauspurzeln lassen. Roberto Longhi: Hier steht er zum ersten Mal unverkennbar vor dem deutschen Leser. Bisher war ihm der berühmteste italienische Kunstschriftsteller des Jahrhunderts nur mit zwei Monographien zu Caravaggio und zu Masaccio und Masolino vorgestellt worden. Diese raffiniert ausgearbeiteten, gleichsam gutachterlichen Schriften haben aber bei uns noch keinen zureichenden Begriff von Longhi schaffen können.
Dabei war Longhi seit längerem auch in Deutschland eine vielberaunte Legende. Man wußte, daß der 1970 im Alter von achtzig Jahren verstorbene Kenner und Gelehrte als junger Mann ein begeisterter Zeitgenosse der Futuristen, von Morandi und von De Chiricos metaphysischer Malerei gewesen war. Die Spezialforscher stießen immer wieder auf Zuschreibungen Longhis, die sich einer besonderen Autorität erfreuten, weil die Italiener ihm ein untrügliches Auge zutrauten. Carlo Ginzburg, der ihn verehrte, bekämpfte ihn in seinem Buch über Piero della Francesca; nun vernahmen auch Historiker den Namen Longhis. Und Leser Pasolinis und Bassanis wußten immerhin, daß diese Schriftsteller bei Longhi Kunstgeschichte studiert hatten.
Seine Bücher und Essays aber galten als nahezu unübersetzbar, habe Longhi doch bei seinen Kunstbeschreibungen nach "wörtlichen Entsprechungen" ("equivalenze verbali") gesucht, die zu übertragen ungefähr so leicht sei wie einen violett-grau-rötlich schimmernden Seidenärmel Tizians zu kopieren. Noch eine jüngere biographische Studie verzichtet deshalb auf wörtliche Zitate und verweist statt dessen auf eine vielbändige Werkausgabe, die so gewaltig ist, als habe hier ein Tintoretto zur Schreibfeder gegriffen. Die meist zuverlässige Übersetzung von Heinz-Georg Held hat jetzt die Schwelle glücklich überschritten und damit in Deutschland einen Typus von Kunstbetrachtung zugänglich gemacht, der in unserem akademischen System keinen Platz mehr hat. Beklagen muß man nur die teilweise miserable Farbqualität der Reproduktionen in der deutschen Ausgabe, übrigens nicht nur bei entlegenem und schwer beschaffbarem Material.
Der Essay zur venezianischen Malerei eignet sich für eine erste Bekanntschaft mit Longhi besonders gut, nicht nur weil sein Gegenstand - nach Burckhardt die Schule der höchsten Augenlust - einer der bedeutendsten der Kunstgeschichte überhaupt ist. Wichtiger ist, daß der rasche Gang durch vier Jahrhunderte der Sprache Longhis alles abverlangt, das knappe Urteil, die schlagende Charakteristik, den Vergleich, die ausgeruht innehaltende Beschreibung. Den heiligen Georg von Carpaccio (unsere Abbildung oben) etwa charakterisiert Longhi zunächst als archaisierende Profilzeichnung, die mit einer überalterten heraldischen Ikonographie die Antiquiertheit der Rittergeschichte zum Ausdruck bringe.
Darunter aber entdeckt Longhi ein verzaubertes Erdreich, "wo der allenthalben durchscheinende Tod zwischen den grünen Eidechsen, den Kröten und den giftigen Schlingpflanzen seine verschiedenen memento mori darbietet: die Kollektion von Schädeln, das vermoderte Fragment eines unglücklichen Helden, die Überreste des jungen Mädchens, sein zernagtes Leibchen über dem noch vollständig erhaltenen Busen, der zerfledderte Torso, der wie eine leckere Kruste von allen Seiten angeknabbert ist - all dies Zeichen höchster Affekte. Weiter hinten die Palmen, die sich zu einer Stadtpromenade formieren; auf den zahllosen Balkons die allesamt minutiös gestalteten Bewohner der Stadt, die von der gegenüberliegenden Seite genau dasselbe Schauspiel verfolgen; und noch weiter im Hintergrund, unter dem mit Wolken gleichsam beschmutzten Himmel der meeresblaue Horizont mit dem Segelschiff, das vor lauter Verblüffung unter dem durchstoßenen Felsen regungslos verharrt."
Diese ausführliche Einschätzung und Beschreibung läßt Longhis Methode erkennen: Er ordnet Carpaccios Bild in einen stilgeschichtlichen Ablauf ein durch die Wahrnehmung, daß es archaisiere (Longhi verweist auf Uccello, der ein halbes Jahrhundert früher malte). Dann streift er Inhaltsfragen, freilich ohne zu einer ikonologischen Analyse vorzustoßen. Am wichtigsten ist ihm die räumliche Rekonstruktion des fast surrealen Raumes. Hier entfernt sich Longhi vollständig von den historischen Aspekten des Bildes, vielmehr behandelt er es wie ein zeitgenössisches Gemälde der pittura metafisica. Er verhält sich auch vor diesem berühmten, oft interpretierten Bild wie ein Kritiker und Liebhaber, der es zum ersten Mal betrachtet.
Dabei trägt die Beschreibung - beispielsweise mit der Behauptung, das ferne Schiff bleibe aus Verblüffung stehen - einen Gefühlswert ins Bild, der nur in den vom Autor gewählten Metaphern begründet ist. Darin liegt sowohl das Überzeugende wie das Prekäre von Longhis Beschreibungskunst. Sie ist ganz auf das Individuelle abgestellt. Longhi behandelt Bilder nie als Belege für allgemeine Stiltendenzen, sondern er versteht sie als Einzelleistungen, die mit Stilelementen souverän operieren. Die großen Meister erscheinen so durchweg als Herren des ganzen produktiven Verfahrens. Daher kann Longhis Sprache sie in einen von äußerer Geschichte unbehelligten Raum ziehen, einen Raum, den seine Sprache erst schafft und begrenzt. Das Schiff verharrt unter dem Felsen regunglos in voller Ansicht, weil Carpaccio einen Moment der Verblüffung ausdrücken will und nicht, weil die Stilgesetze der Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts etwa ein angeschnittenes, gerade hinter dem Felsen verschwindendes Schiff nicht zugelassen hätten.
Von einer Stadtansicht bei Carpaccio sagt Longhi, ihre Szenerie entstehe aus einer leichten Drehung der Horizontlinie, "so als wenn man, in einer Gondel stehend, während die Ruder bereits eingezogen werden und der Schatten über das ruhige Wasser gleitet, sich völlig lautlos und desto spektakulärer dem Anlegeplatz nähert". Wieder fragt er nicht, ob die Formgesetze der Zeit Carpaccios eine solche untergründige Bewegung überhaupt zugelassen hätten. So wird die Grenze zwischen einer Beschreibung, die vor Augen liegendes bewußtmacht, und einer souveränen Weiterdichtung des Bildes durch den Betrachter unsicher. Ein Madonnenbild stehe in der "schweigsamen, geradezu geschliffenen, dünnen Luft Flanderns", heißt es einmal. Der Verweis auf Flandern ist ein philologischer Befund (der venezianische Maler hat einen Van-Eyck-artigen Himmel gemalt), alles andere ist produktives Ausdeuten oder Hineinlesen.
Solches Beschreiben setzt einen Raum von Gleichzeitigkeit voraus, in dem es nur die Entwicklung und Lösung von Kunstaufgaben gibt, die Epochen ansonsten aber beliebig verglichen und ausgetauscht werden können. So etwa schematisiert Longhi das sechzehnte Jahrhundert: Giorgione sei der Manet, Tizian der Renoir, Bassano aber der Monet der venezianischen Malerei. Man stockt, aber man versteht sofort, was gemeint ist und lernt solche Vergleiche als gebildete Abkürzungen ausführlicherer Metaphern schätzen. Daß diese Beschreibungen und Vergleiche nicht zu völlig willkürlichen Assoziationen werden, sondern wirkliche Erkenntnisse vermitteln, liegt nur an ihrer Feinmaschigkeit, an der Fülle von Belegen, die Longhis Methode erfordert und die seine Sätze so lang und übervoll macht.
Natürlich weiß Longhi, daß nicht zu allen Zeiten alles möglich ist und daß kein Zeitgenosse des fünfzehnten Jahrhunderts von der dünnen, geschliffenen Luft Flanderns gesprochen hätte und daß also kein Maler es sich hätte vornehmen können, sie zu malen. Doch Longhi konstruiert die Kunstgeschichte eben mit seinem Auge, dem des zwanzigsten Jahrhunderts, und er überführt sie in seine Sprache. Und recht überlegt, kann es anders nicht gehen; es wird nur meist nicht so deutlich erkennbar, weil die Kunsthistorie sich in der Regel einer künstlich neutralisierten Sprache bedient, die ihre Standortgebundenheit nur verstecken, aber nicht aufheben kann. Longhis sinnliche Sprache schafft dagegen erst einmal ein Phänomen, das man dann immer noch modifizieren und historisieren kann. Denn erst solcher Wortreichtum macht bewußt, was Kunsthistoriker oft vergessen: Bilder sprechen nicht, sie leuchten fremd und stumm.
Longhi verhält sich also wie ein Kritiker, der der Zeitgenosse aller Zeiten ist. Und er setzt voraus, daß Poesie immer aus Poesie entsteht, er beansprucht für die Kunst eine autonome Entwicklung. Für ihn sind die Maler souveräne Geister, die mit den Mitteln ihrer Schulen und Epochen frei schalten und diese im besten Fall erweitern und vermehren. Vielleicht war seit den Sammlern der Barockzeit oder sogar seit Giorgio Vasari kein Auge mehr so empfindlich für alles Schematische, Abgekupferte, Unechte wie das Longhis. Hinter den Abbreviaturen seiner Urteile verbergen sich ein Wissen und eine Erfahrenheit, die vielfach kaum mehr nachzuvollziehen sind.
Dieses geniale, überfeinerte Sehen produziert Urteile, die überraschen und noch in der Ungerechtigkeit überzeugen. Die Aufwertung Lorenzo Lottos als potentieller Rembrandt gegenüber dem desaströsen Tintoretto gehört dazu und ebenso die raffiniert bösartige Abfertigung Tiepolos. Dieser habe, so Longhi, die pompöse Rhetorik des Barock in das überhelle, objektive Licht seiner Zeitgenossen, der Vedutenmaler Guardi und Canaletto, gestellt. Herausgekommen sei dabei eine Art filmischer Historienschinken, "aber in Technicolor"; Faltenwürfe wirkten wie drapiertes Packpapier. Viel kleiner sei der laute Tiepolo als der Genremaler Pietro Longhi, dessen Gesichter aussähen wie die spätantiken, auf Mumien gemalten Porträts aus Fajum und in dessen Familienszenen die Seide knistere und der Holzwurm klopfe.
Roberto Longhi: "Venezianische Malerei". Aus dem Italienischen übersetzt von Heinz-Georg Held. Wagenbach Verlag, Berlin 1995. 214 S., zahlr. Abb., geb., 98,- DM (nach dem 31. Januar 128,- DM).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tizian ist der Renoir der Renaissance: Roberto Longhis furioser Essay zur venezianischen Malerei · Von Gustav Seibt
Im Sommer 1945 feierte die Stadt Venedig den Frieden mit einer Ausstellung über die glanzvollen Jahrhunderte ihrer Malerei zwischen dem vierzehnten Jahrhundert und dem spätbarocken Meister Tiepolo. Italien hatte den Reichtum seiner Kunstschätze noch einmal retten können und zeigte dies nicht nur in Venedig. Es meldete sich zurück in den Kreis der großen Kulturnationen. Damals besuchte Roberto Longhi aus Florenz, der angesehenste gelehrte Kenner der italienischen Malerei, mit seinen Studenten die eilends zusammengestellte Schau. Für sie und für sich warf er einen kurzen Führer aufs Papier - kaum hundert Seiten Prosa, ergänzt durch einen Malerkatalog, die eins der erstaunlichsten Beispiele von Kunstschriftstellerei in diesem Jahrhundert darstellen.
Man lauscht einem absichtsvoll inszenierten Selbstgespräch, dessen effektsicher gesetzte Pointen wie der Unwille, sich auf Erklärungen und Begründungen einzulassen, den Zuhörer mit einer Autorität konfrontieren, der gegenüber er sich zunächst völlig wehrlos fühlen muß. Hier spricht, nein höhnt, schimpft, brabbelt und rühmt ein Kenner, der alles gesehen und alles im Kopf zu haben scheint. Die deutschen Kunsthistoriker haben Veronese verachtet? Ach, als sie gerade Tintoretto auf ihren Leichenkarren geworfen hatten und noch schnell bei Veronese vorbeischauten, war der wohl gerade nicht zu Hause, "und daher strich ihn der intelligenteste dieser Leichenträger kurzerhand von seiner Liste mit dem Vermerk "Für die Entwicklung unbedeutend'". Unglaublich! Diese Deutschen sind blind, sonst sähen sie, daß sich bei Veronese die Welt entfaltet "wie auf einem prächtigen Gobelin, der sich bei jedem leisen Windhauch von der Wand abhebt und dabei in allen Farben changiert".
Tintoretto, den Vielzuvielmaler, zu verehren verrät dagegen nur die naive Verwechslung von akademischer Bravour mit künstlerischem Furor: "Ebendiese technische Gigantomanie war es, die dem gerade vergangenen zwanzigjährigen Regime gefiel." Es hagelt Urteile: Tizians Johannes der Täufer ist grobschlächtig, Piazzettas Märtyrerdramen nehmen schon "schlimmstes neunzehntes Jahrhundert" vorweg, das siebzehnte Jahrhundert liefert bestenfalls "banale Liebesgöttinnen aus weicher Knetmasse für deutsche Fürsten". Auch die Ausstellung selbst ist für diesen Besucher vielfach unbefriedigend. Für Bellini schaut man besser in die benachbarten Kirchen, Giorgione hätte man glücklicher auswählen können - und so fort.
All dies wird in einem atemlosen, teils verschachtelten, teils parataktischen Stil vorgetragen, der die Mühe verrät, eine überquellende Wissensfülle gerade noch im Zaum zu halten, bevor die Sätze platzen und nur noch Einzelheiten und Exklamationen herauspurzeln lassen. Roberto Longhi: Hier steht er zum ersten Mal unverkennbar vor dem deutschen Leser. Bisher war ihm der berühmteste italienische Kunstschriftsteller des Jahrhunderts nur mit zwei Monographien zu Caravaggio und zu Masaccio und Masolino vorgestellt worden. Diese raffiniert ausgearbeiteten, gleichsam gutachterlichen Schriften haben aber bei uns noch keinen zureichenden Begriff von Longhi schaffen können.
Dabei war Longhi seit längerem auch in Deutschland eine vielberaunte Legende. Man wußte, daß der 1970 im Alter von achtzig Jahren verstorbene Kenner und Gelehrte als junger Mann ein begeisterter Zeitgenosse der Futuristen, von Morandi und von De Chiricos metaphysischer Malerei gewesen war. Die Spezialforscher stießen immer wieder auf Zuschreibungen Longhis, die sich einer besonderen Autorität erfreuten, weil die Italiener ihm ein untrügliches Auge zutrauten. Carlo Ginzburg, der ihn verehrte, bekämpfte ihn in seinem Buch über Piero della Francesca; nun vernahmen auch Historiker den Namen Longhis. Und Leser Pasolinis und Bassanis wußten immerhin, daß diese Schriftsteller bei Longhi Kunstgeschichte studiert hatten.
Seine Bücher und Essays aber galten als nahezu unübersetzbar, habe Longhi doch bei seinen Kunstbeschreibungen nach "wörtlichen Entsprechungen" ("equivalenze verbali") gesucht, die zu übertragen ungefähr so leicht sei wie einen violett-grau-rötlich schimmernden Seidenärmel Tizians zu kopieren. Noch eine jüngere biographische Studie verzichtet deshalb auf wörtliche Zitate und verweist statt dessen auf eine vielbändige Werkausgabe, die so gewaltig ist, als habe hier ein Tintoretto zur Schreibfeder gegriffen. Die meist zuverlässige Übersetzung von Heinz-Georg Held hat jetzt die Schwelle glücklich überschritten und damit in Deutschland einen Typus von Kunstbetrachtung zugänglich gemacht, der in unserem akademischen System keinen Platz mehr hat. Beklagen muß man nur die teilweise miserable Farbqualität der Reproduktionen in der deutschen Ausgabe, übrigens nicht nur bei entlegenem und schwer beschaffbarem Material.
Der Essay zur venezianischen Malerei eignet sich für eine erste Bekanntschaft mit Longhi besonders gut, nicht nur weil sein Gegenstand - nach Burckhardt die Schule der höchsten Augenlust - einer der bedeutendsten der Kunstgeschichte überhaupt ist. Wichtiger ist, daß der rasche Gang durch vier Jahrhunderte der Sprache Longhis alles abverlangt, das knappe Urteil, die schlagende Charakteristik, den Vergleich, die ausgeruht innehaltende Beschreibung. Den heiligen Georg von Carpaccio (unsere Abbildung oben) etwa charakterisiert Longhi zunächst als archaisierende Profilzeichnung, die mit einer überalterten heraldischen Ikonographie die Antiquiertheit der Rittergeschichte zum Ausdruck bringe.
Darunter aber entdeckt Longhi ein verzaubertes Erdreich, "wo der allenthalben durchscheinende Tod zwischen den grünen Eidechsen, den Kröten und den giftigen Schlingpflanzen seine verschiedenen memento mori darbietet: die Kollektion von Schädeln, das vermoderte Fragment eines unglücklichen Helden, die Überreste des jungen Mädchens, sein zernagtes Leibchen über dem noch vollständig erhaltenen Busen, der zerfledderte Torso, der wie eine leckere Kruste von allen Seiten angeknabbert ist - all dies Zeichen höchster Affekte. Weiter hinten die Palmen, die sich zu einer Stadtpromenade formieren; auf den zahllosen Balkons die allesamt minutiös gestalteten Bewohner der Stadt, die von der gegenüberliegenden Seite genau dasselbe Schauspiel verfolgen; und noch weiter im Hintergrund, unter dem mit Wolken gleichsam beschmutzten Himmel der meeresblaue Horizont mit dem Segelschiff, das vor lauter Verblüffung unter dem durchstoßenen Felsen regungslos verharrt."
Diese ausführliche Einschätzung und Beschreibung läßt Longhis Methode erkennen: Er ordnet Carpaccios Bild in einen stilgeschichtlichen Ablauf ein durch die Wahrnehmung, daß es archaisiere (Longhi verweist auf Uccello, der ein halbes Jahrhundert früher malte). Dann streift er Inhaltsfragen, freilich ohne zu einer ikonologischen Analyse vorzustoßen. Am wichtigsten ist ihm die räumliche Rekonstruktion des fast surrealen Raumes. Hier entfernt sich Longhi vollständig von den historischen Aspekten des Bildes, vielmehr behandelt er es wie ein zeitgenössisches Gemälde der pittura metafisica. Er verhält sich auch vor diesem berühmten, oft interpretierten Bild wie ein Kritiker und Liebhaber, der es zum ersten Mal betrachtet.
Dabei trägt die Beschreibung - beispielsweise mit der Behauptung, das ferne Schiff bleibe aus Verblüffung stehen - einen Gefühlswert ins Bild, der nur in den vom Autor gewählten Metaphern begründet ist. Darin liegt sowohl das Überzeugende wie das Prekäre von Longhis Beschreibungskunst. Sie ist ganz auf das Individuelle abgestellt. Longhi behandelt Bilder nie als Belege für allgemeine Stiltendenzen, sondern er versteht sie als Einzelleistungen, die mit Stilelementen souverän operieren. Die großen Meister erscheinen so durchweg als Herren des ganzen produktiven Verfahrens. Daher kann Longhis Sprache sie in einen von äußerer Geschichte unbehelligten Raum ziehen, einen Raum, den seine Sprache erst schafft und begrenzt. Das Schiff verharrt unter dem Felsen regunglos in voller Ansicht, weil Carpaccio einen Moment der Verblüffung ausdrücken will und nicht, weil die Stilgesetze der Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts etwa ein angeschnittenes, gerade hinter dem Felsen verschwindendes Schiff nicht zugelassen hätten.
Von einer Stadtansicht bei Carpaccio sagt Longhi, ihre Szenerie entstehe aus einer leichten Drehung der Horizontlinie, "so als wenn man, in einer Gondel stehend, während die Ruder bereits eingezogen werden und der Schatten über das ruhige Wasser gleitet, sich völlig lautlos und desto spektakulärer dem Anlegeplatz nähert". Wieder fragt er nicht, ob die Formgesetze der Zeit Carpaccios eine solche untergründige Bewegung überhaupt zugelassen hätten. So wird die Grenze zwischen einer Beschreibung, die vor Augen liegendes bewußtmacht, und einer souveränen Weiterdichtung des Bildes durch den Betrachter unsicher. Ein Madonnenbild stehe in der "schweigsamen, geradezu geschliffenen, dünnen Luft Flanderns", heißt es einmal. Der Verweis auf Flandern ist ein philologischer Befund (der venezianische Maler hat einen Van-Eyck-artigen Himmel gemalt), alles andere ist produktives Ausdeuten oder Hineinlesen.
Solches Beschreiben setzt einen Raum von Gleichzeitigkeit voraus, in dem es nur die Entwicklung und Lösung von Kunstaufgaben gibt, die Epochen ansonsten aber beliebig verglichen und ausgetauscht werden können. So etwa schematisiert Longhi das sechzehnte Jahrhundert: Giorgione sei der Manet, Tizian der Renoir, Bassano aber der Monet der venezianischen Malerei. Man stockt, aber man versteht sofort, was gemeint ist und lernt solche Vergleiche als gebildete Abkürzungen ausführlicherer Metaphern schätzen. Daß diese Beschreibungen und Vergleiche nicht zu völlig willkürlichen Assoziationen werden, sondern wirkliche Erkenntnisse vermitteln, liegt nur an ihrer Feinmaschigkeit, an der Fülle von Belegen, die Longhis Methode erfordert und die seine Sätze so lang und übervoll macht.
Natürlich weiß Longhi, daß nicht zu allen Zeiten alles möglich ist und daß kein Zeitgenosse des fünfzehnten Jahrhunderts von der dünnen, geschliffenen Luft Flanderns gesprochen hätte und daß also kein Maler es sich hätte vornehmen können, sie zu malen. Doch Longhi konstruiert die Kunstgeschichte eben mit seinem Auge, dem des zwanzigsten Jahrhunderts, und er überführt sie in seine Sprache. Und recht überlegt, kann es anders nicht gehen; es wird nur meist nicht so deutlich erkennbar, weil die Kunsthistorie sich in der Regel einer künstlich neutralisierten Sprache bedient, die ihre Standortgebundenheit nur verstecken, aber nicht aufheben kann. Longhis sinnliche Sprache schafft dagegen erst einmal ein Phänomen, das man dann immer noch modifizieren und historisieren kann. Denn erst solcher Wortreichtum macht bewußt, was Kunsthistoriker oft vergessen: Bilder sprechen nicht, sie leuchten fremd und stumm.
Longhi verhält sich also wie ein Kritiker, der der Zeitgenosse aller Zeiten ist. Und er setzt voraus, daß Poesie immer aus Poesie entsteht, er beansprucht für die Kunst eine autonome Entwicklung. Für ihn sind die Maler souveräne Geister, die mit den Mitteln ihrer Schulen und Epochen frei schalten und diese im besten Fall erweitern und vermehren. Vielleicht war seit den Sammlern der Barockzeit oder sogar seit Giorgio Vasari kein Auge mehr so empfindlich für alles Schematische, Abgekupferte, Unechte wie das Longhis. Hinter den Abbreviaturen seiner Urteile verbergen sich ein Wissen und eine Erfahrenheit, die vielfach kaum mehr nachzuvollziehen sind.
Dieses geniale, überfeinerte Sehen produziert Urteile, die überraschen und noch in der Ungerechtigkeit überzeugen. Die Aufwertung Lorenzo Lottos als potentieller Rembrandt gegenüber dem desaströsen Tintoretto gehört dazu und ebenso die raffiniert bösartige Abfertigung Tiepolos. Dieser habe, so Longhi, die pompöse Rhetorik des Barock in das überhelle, objektive Licht seiner Zeitgenossen, der Vedutenmaler Guardi und Canaletto, gestellt. Herausgekommen sei dabei eine Art filmischer Historienschinken, "aber in Technicolor"; Faltenwürfe wirkten wie drapiertes Packpapier. Viel kleiner sei der laute Tiepolo als der Genremaler Pietro Longhi, dessen Gesichter aussähen wie die spätantiken, auf Mumien gemalten Porträts aus Fajum und in dessen Familienszenen die Seide knistere und der Holzwurm klopfe.
Roberto Longhi: "Venezianische Malerei". Aus dem Italienischen übersetzt von Heinz-Georg Held. Wagenbach Verlag, Berlin 1995. 214 S., zahlr. Abb., geb., 98,- DM (nach dem 31. Januar 128,- DM).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main