Das große mythologische Thema Venus stellte für Maler seit dem 16. Jh. eine Herausforderung dar, ging es doch um die Darstellung verführerischer Frauenakte und die Schönheit des nackten Körpers. Von besonderer Vielschichtigkeit ist Velázquez' Bild "Die Venus mit dem Spiegel", das die Kritiker zu immer neuen Interpretationen veranlaßte. Der Autor untersucht die vielfältigen Bedeutungen des Bildesund seine Auswirkungen auf die Aktmalerei. Er beschreibt die Geschichte des Bildes, auf das 1914 eine Frauenrechtlerin in der Londoner National Gallery ein Messerattentat unternahm, und setzt es in Bezug zu den wichtigsten und schönsten Venusdarstellungen der Kunstgeschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002Macht die Jungfrau frei
Wer ist so ritterlich, ihr beizustehen? Andreas Prater ficht für die "Venus" des Velázquez / Von Ilona Lehnart
Das ist ungewöhnlich: In seiner so schönen wie eminent gelehrten Studie über die "Venus mit dem Spiegel" von Velázquez überläßt der Autor das letzte Wort einem anderen. Doch warum das so ist, warum der Freiburger Kunsthistoriker Andreas Prater zu guter Letzt, nach unablässig-obsessivem Umkreisen eines Kunstgeschöpfes, das er mit den Augen des Liebenden zu verlebendigen wünscht, das Wort an George Steiner gibt, erschließt sich. Denn in Steiners Schlußsatz: "Der Busch brannte heller, weil sein Interpret ihm nicht zu nahe treten durfte", kondensiert sich für Prater aufs schönste die Demut vor einem unentschlüsselbaren Meisterwerk. Eine Demut, die der Leser mit dem Autor teilt, ja die ihn überhaupt veranlaßt hat, staunend den Exkursen, assoziativen Verknüpfungen und kühnen Gedankenflügen zu folgen.
Und auch das ist ungewöhnlich: Der Leser, dem der Autor, wie sich selbst, die Freiheit des Deutens zugesteht, löst die Metapher vom Dornbusch auf seine Weise auf. Ist der lodernde Busch nicht das Sinnbild für die Emanation des Göttlichen, das sich verflüchtigt, sobald aus der Annäherung Zudringlichkeit wird? Was Luhmann die "operative Unzugänglichkeit von Kunstwerken" nannte, das Eingeständnis nämlich, daß große Bildschöpfungen wie die "Venus" des Velázquez oder Giorgiones verrätselte Bildpoesien - man denke an die "Tempestá" oder das "Ländliche Konzert" - niemals widerspruchsfrei zu entschlüsseln sind, bedeutet für die Kunstgeschichte einen ungeheuren Befreiungsakt. Denn wo die spärliche Quellenlage keine ultimativen Erklärungsmodelle zuläßt, eröffnet sich ihr ein Spielraum für die Phantasie. Eben deswegen darf Steiner in der Rolle des Apologeten das letzte Wort führen und gleichsam autoritativ bestätigen: "Lohnende Interpretationen und Kritiken, die ernst zu nehmen sind, das sind diejenigen, die ihre Grenzen, ihre Niederlagen sichtbar machen. Die Sichtbarkeit trägt ihrerseits dazu bei, die Unerschöpflichkeit des Gegenstandes offenbar werden zu lassen."
Wenn nun trotz der Apologie auf das Wagnis einer poetisch-assoziativen Methode des Autors, die freilich in den Überlegungen von Eco oder Salvatore Settis ihr postmodernistisches Echo hat, wenn trotzdem der Tadel der Überinterpretation laut werden sollte, dann schmälert dies kaum den Lesegenuß. Das Buch betört nicht nur durch opulente Bebilderung, durch die Wiederbegegnung mit dem Altbekannten: von den noblen "Venus"-Inventionen Giorgiones, Tizians, Lottos und Correggios bis hin zu Goyas "Nackter Maja", Manets "Olympia" und Ingres' "Großer Badender". Mehr noch fesselt es durch profunde, zu überraschend neuen Schlüssen fähige Sachkenntnis und nie versiegende Neugier an einem Bildgegenstand, der doch durch die großen "Venus"-Ausstellungen in Bonn, München und Antwerpen vor zwei Jahren hinreichend erschöpft schien. Freilich, die spanische Variante der Aktmalerei blieb dort ausgespart. Aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt dem, daß die spanische Malerei "diferente" ist, anders jedenfalls, als sie prima vista erscheint.
Praters essayistische Form der Abhandlung hindert ihn nicht, eine systematische und erschöpfende Analyse des Sach- und Forschungsstands zu erstellen. Das vor allem rechtfertigt seine Methode. Doch fern von didaktischem Furor weiß er um die magische Präsenz der nackten Liebesgöttin. Um die Augenlust, die bis zur Sinnverwirrung führt, wie damals, am Mittag des 10. März 1914, als eine unauffällige, grau gekleidete Frau im Raum 17 der National Gallery mit einem Hackmesser mehrere Hiebe gegen die "Rokeby Venus" führte, die seit acht Jahren der Stolz der Nation war.
Der Anschlag der militanten Suffragette galt, wie die "Times" erschüttert ausführte, dem "vielleicht schönsten Gemälde einer Nackten in der Welt". Und geradeso hatte sich Lion Feuchtwanger in seinem Künstlerroman von 1949 das Urteil Goyas vorgestellt: den erregenden Moment, in dem der Maler der List beizukommen versucht, mit "welcher der Kollege das Antlitz der Frau im Dämmer des unklaren Spiegels gelassen und alle Aufmerksamkeit des Beschauers auf die wunderbaren Linien des Körpers gelenkt hatte". So romanhaft übersteigert Feuchtwangers Vision auch sein mag, so darf doch - trotz mangelnden Belegen - als sicher gelten, daß Goya die "Venus" kannte. Zu offenkundig ist sein Gegenentwurf durch das Concetto seines Vorgängers inspiriert. Die schillernde Alternative indes, die sich in Goyas zwei Varianten einer nackten und einer bekleideten Frau manifestiert, ist bezeichnend für eine neue, nun ganz und gar unverhülltes Begehren stimulierende Weiblichkeit, von der die Liebesgöttin des Velázquez nichts weiß.
Aber was weiß sie, die in ihrer ostentativen Teilnahmslosigkeit so selbstgenügsam erscheint, von der Empfänglichkeit des Betrachters für ihre "sündhafte Erscheinung"? Als "mujer desnuda" - als nackte Frau, nicht als Göttin - wird sie 1651 im Inventarverzeichnis des kunstliebenden Aristokraten Don Gaspar Méndez de Haro, Marqués de Eliche, erstmals aufgeführt. Offenbar ein "Schlafzimmerbild", das Don Gaspar unter der Decke einer "galería" befestigte, und zwar in einer Anordnung, die geeignet war, seine erotische Phantasie angenehm zu beflügeln.
Ist da nur Eros, sonst nichts? So hätten wir, wie der Autor selbst, mit Gelassenheit zu tragen, daß ein Meisterwerk wie die "Venus mit dem Spiegel" vor allem uns selbst widerspiegelt. "Wir analysieren eine Kunst", gibt der Autor zu bedenken, "die für manchen ihrer vermögenden Sammler mehr Diktat der Mode als geistige Widmung gewesen ist." Gut möglich, daß unsere Diskurse über alte Kunst nur jene anzunehmenden Unterhaltungen fortsetzen, die sich aus den Schriften der Kunstliteratur - lückenhaft - erschließen lassen. Projektionen mithin, aber schön sind sie doch.
Andreas Prater: "Im Spiegel der Venus". Velázquez und die Kunst, einen Akt zu malen. Prestel Verlag, München 2002. 128 S., 95 Farb- u. S/W-Abb., geb., 39,95 [Euro].
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Wer ist so ritterlich, ihr beizustehen? Andreas Prater ficht für die "Venus" des Velázquez / Von Ilona Lehnart
Das ist ungewöhnlich: In seiner so schönen wie eminent gelehrten Studie über die "Venus mit dem Spiegel" von Velázquez überläßt der Autor das letzte Wort einem anderen. Doch warum das so ist, warum der Freiburger Kunsthistoriker Andreas Prater zu guter Letzt, nach unablässig-obsessivem Umkreisen eines Kunstgeschöpfes, das er mit den Augen des Liebenden zu verlebendigen wünscht, das Wort an George Steiner gibt, erschließt sich. Denn in Steiners Schlußsatz: "Der Busch brannte heller, weil sein Interpret ihm nicht zu nahe treten durfte", kondensiert sich für Prater aufs schönste die Demut vor einem unentschlüsselbaren Meisterwerk. Eine Demut, die der Leser mit dem Autor teilt, ja die ihn überhaupt veranlaßt hat, staunend den Exkursen, assoziativen Verknüpfungen und kühnen Gedankenflügen zu folgen.
Und auch das ist ungewöhnlich: Der Leser, dem der Autor, wie sich selbst, die Freiheit des Deutens zugesteht, löst die Metapher vom Dornbusch auf seine Weise auf. Ist der lodernde Busch nicht das Sinnbild für die Emanation des Göttlichen, das sich verflüchtigt, sobald aus der Annäherung Zudringlichkeit wird? Was Luhmann die "operative Unzugänglichkeit von Kunstwerken" nannte, das Eingeständnis nämlich, daß große Bildschöpfungen wie die "Venus" des Velázquez oder Giorgiones verrätselte Bildpoesien - man denke an die "Tempestá" oder das "Ländliche Konzert" - niemals widerspruchsfrei zu entschlüsseln sind, bedeutet für die Kunstgeschichte einen ungeheuren Befreiungsakt. Denn wo die spärliche Quellenlage keine ultimativen Erklärungsmodelle zuläßt, eröffnet sich ihr ein Spielraum für die Phantasie. Eben deswegen darf Steiner in der Rolle des Apologeten das letzte Wort führen und gleichsam autoritativ bestätigen: "Lohnende Interpretationen und Kritiken, die ernst zu nehmen sind, das sind diejenigen, die ihre Grenzen, ihre Niederlagen sichtbar machen. Die Sichtbarkeit trägt ihrerseits dazu bei, die Unerschöpflichkeit des Gegenstandes offenbar werden zu lassen."
Wenn nun trotz der Apologie auf das Wagnis einer poetisch-assoziativen Methode des Autors, die freilich in den Überlegungen von Eco oder Salvatore Settis ihr postmodernistisches Echo hat, wenn trotzdem der Tadel der Überinterpretation laut werden sollte, dann schmälert dies kaum den Lesegenuß. Das Buch betört nicht nur durch opulente Bebilderung, durch die Wiederbegegnung mit dem Altbekannten: von den noblen "Venus"-Inventionen Giorgiones, Tizians, Lottos und Correggios bis hin zu Goyas "Nackter Maja", Manets "Olympia" und Ingres' "Großer Badender". Mehr noch fesselt es durch profunde, zu überraschend neuen Schlüssen fähige Sachkenntnis und nie versiegende Neugier an einem Bildgegenstand, der doch durch die großen "Venus"-Ausstellungen in Bonn, München und Antwerpen vor zwei Jahren hinreichend erschöpft schien. Freilich, die spanische Variante der Aktmalerei blieb dort ausgespart. Aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt dem, daß die spanische Malerei "diferente" ist, anders jedenfalls, als sie prima vista erscheint.
Praters essayistische Form der Abhandlung hindert ihn nicht, eine systematische und erschöpfende Analyse des Sach- und Forschungsstands zu erstellen. Das vor allem rechtfertigt seine Methode. Doch fern von didaktischem Furor weiß er um die magische Präsenz der nackten Liebesgöttin. Um die Augenlust, die bis zur Sinnverwirrung führt, wie damals, am Mittag des 10. März 1914, als eine unauffällige, grau gekleidete Frau im Raum 17 der National Gallery mit einem Hackmesser mehrere Hiebe gegen die "Rokeby Venus" führte, die seit acht Jahren der Stolz der Nation war.
Der Anschlag der militanten Suffragette galt, wie die "Times" erschüttert ausführte, dem "vielleicht schönsten Gemälde einer Nackten in der Welt". Und geradeso hatte sich Lion Feuchtwanger in seinem Künstlerroman von 1949 das Urteil Goyas vorgestellt: den erregenden Moment, in dem der Maler der List beizukommen versucht, mit "welcher der Kollege das Antlitz der Frau im Dämmer des unklaren Spiegels gelassen und alle Aufmerksamkeit des Beschauers auf die wunderbaren Linien des Körpers gelenkt hatte". So romanhaft übersteigert Feuchtwangers Vision auch sein mag, so darf doch - trotz mangelnden Belegen - als sicher gelten, daß Goya die "Venus" kannte. Zu offenkundig ist sein Gegenentwurf durch das Concetto seines Vorgängers inspiriert. Die schillernde Alternative indes, die sich in Goyas zwei Varianten einer nackten und einer bekleideten Frau manifestiert, ist bezeichnend für eine neue, nun ganz und gar unverhülltes Begehren stimulierende Weiblichkeit, von der die Liebesgöttin des Velázquez nichts weiß.
Aber was weiß sie, die in ihrer ostentativen Teilnahmslosigkeit so selbstgenügsam erscheint, von der Empfänglichkeit des Betrachters für ihre "sündhafte Erscheinung"? Als "mujer desnuda" - als nackte Frau, nicht als Göttin - wird sie 1651 im Inventarverzeichnis des kunstliebenden Aristokraten Don Gaspar Méndez de Haro, Marqués de Eliche, erstmals aufgeführt. Offenbar ein "Schlafzimmerbild", das Don Gaspar unter der Decke einer "galería" befestigte, und zwar in einer Anordnung, die geeignet war, seine erotische Phantasie angenehm zu beflügeln.
Ist da nur Eros, sonst nichts? So hätten wir, wie der Autor selbst, mit Gelassenheit zu tragen, daß ein Meisterwerk wie die "Venus mit dem Spiegel" vor allem uns selbst widerspiegelt. "Wir analysieren eine Kunst", gibt der Autor zu bedenken, "die für manchen ihrer vermögenden Sammler mehr Diktat der Mode als geistige Widmung gewesen ist." Gut möglich, daß unsere Diskurse über alte Kunst nur jene anzunehmenden Unterhaltungen fortsetzen, die sich aus den Schriften der Kunstliteratur - lückenhaft - erschließen lassen. Projektionen mithin, aber schön sind sie doch.
Andreas Prater: "Im Spiegel der Venus". Velázquez und die Kunst, einen Akt zu malen. Prestel Verlag, München 2002. 128 S., 95 Farb- u. S/W-Abb., geb., 39,95 [Euro].
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"Wonderful how the colours melted into each other! The mother-of-pearl of the flesh, the whitish darperies, the greenish-grey of the lokking-glass, the dark brown of the hair, the reddish-purple ribbons on the naked boy, the faint rainbow hues of his wings. The nude woman was painted with an airy delicacy, a severe elegance; there was nothing cheap about her ..." (Lion feuchtwanger on Velazquez' Rokeby venus)