Hier zeigt ein Autor, was Gedichte heute noch vermögen: Paul Wührs großer Zyklus Venus im Pudel verhandelt neu über das Paar, über Ehe, Familie, Kirche und Staat. Streng und frivol zugleich wird nahezu alles von Ihr und von Ihm erzählt, vorgespielt und dargestellt. Einmal mehr beweist Paul Wühr seinen Rang als einer der großen, eigenständigen und vollkommen unvergleichbaren Dichter seiner Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2000Es gibt hier doch keine Dualitäten
Paul Wühr sucht das Ursprüngliche im Haustier · Von Friedmar Apel
Im Gegensatz zu Enzensberger oder Rühmkorf gilt der 1927 geborene Paul Wühr als der große Unzeitgemäße unter den Dichtern seiner Generation. Vielleicht deshalb, weil er sich in hochfahrendem Anspruch auf höhere Erkenntnis mit dem neuesten Denken auseinander gesetzt hat. Als Gärtner im totgesagten Park hat er sich nie verstanden, sein Forum ist der imaginäre Marktplatz, auf dem seit Diogenes und Sokrates große Geister fragen. In Gesellschaft von Philosophen und Wissenschaftlern fühlt er sich wohler als unter dichterischen Kleingewerbetreibenden. In seiner lyrischen Enzyklopädie versammelt er mit Vorliebe alte und neue Flüchtlinge aus dem Reich der Vernunft um sich, die der Poesie schon entgegengeeilt sind: Hamann und Novalis, Nietzsche, Bataille, Lacan, Derrida oder Baudrillard.
"Venus im Pudel" ist der Versuch, die Verknotungen in der Dialektik der Aufklärung mit dem lyrischen Skalpell zu durchtrennen und den vitalen Kern zu finden, der die Welt im Innersten zusammen hält. Der verbirgt sich augenscheinlich im Begehren. Alles Sprechen oder Schweigen gründet in Lust und Not des Fleisches, alles Denken und Handeln resultiert aus dessen Aufstehen und Erschlaffen. Im Gegensatz zu Sacher-Masoch, auf den der Titel auch anspielt, und zum häufig zitierten Weininger erscheint Sexualität nicht als pathologisches Phänomen. Die körperliche Ich-Du-Beziehung soll als wahrer Text alles Sozialen und Gesellschaftlichen lesbar werden, und solche Poesie scheut sich auch nicht, "mit zwei Brüsten und Bauch / Schwanz Schenkel und dem / Hintern unter der Haube der / Pornografie" zuzustreben.
In antidiskursivem Furor treibt Wühr Philosopheme jeglicher Provenienz, vor allem die Aussagen zum Verhältnis von Geist und Körper, durch die Sprache: "was für ein Wahn es gibt hier doch / keine Dualitäten Wirkliches wird / bei Gott nicht vernichtet das Wesen / zerfällt nicht weil es im Geist Physis / bleibt . . ." Nur in seiner Sichtbarkeit und Leiblichkeit ist der Mensch in Wührs poetischer Welt für den Menschen das höchste Wesen. Sprache und Denken sind in ihrem Ursprung fleischlich und venerisch, generativ und doch immateriell. So will Wührs Werk als ein barocker Textkörper erscheinen, der die Schönheit und Abscheulichkeit des vergänglichen Leiblichen zur Lesbarkeit bringt, ohne dass das Dingliche und Leibliche zur Unsichtbarkeit von Normen und Ordnungsprinzipien transformiert und dem fälschlich Abgespaltenen unterworfen würde.
Sätze, die mit einem Punkt enden, und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, Brot und Wein also des Rezensenten, die er dem vermutlich konventionellen Leser reicht, sind eigentlich eine Sünde wider Geist und Fleisch der Lyrik Wührs. Seine poetische Methode besteht im Verzicht auf Satzzeichen und die gewohnten Ordnungselemente des Satzbaus. Vielfältig kalkulierte Zeilenbrüche lassen mehrere syntaktische Lesarten zu, oder sie emanzipieren einzelne Wortfolgen und Wörter vom Satz- und Sinnzusammenhang. Insbesondere verselbständigen sich nichtbezeichnende Wörter wie als, so, seitdem, wie, es oder freilich, und es sorgen Partikelgestöber für einen verwirrenden Verweisungszusammenhang. Rhythmische Retardierungen und Beschleunigungen treiben jeden Ansatz zu einer Aussage über sich hinaus. Derart inszeniert Wühr die Vielstimmigkeit der Welt.
Die Methode zielt auf systematische Entautomatisierung kognitiver Rede, die dann gelegentlich selbst die Begriffe des logischen Positivismus zu poetischen Chiffren transformiert. Sätze und Worte verzichten auf ihre Rückbindung im System der Sprachlogik, sie kommen gleichsam niemals im Satz zur Ruhe und lassen so den Zusammenhang von Begehren, Sprechen und Denken als unaufhörlich strömenden Prozess erscheinen, in dem das Begehren unvorhersehbare Strudel bildet. Wührs negative lyrische Dialektik verspricht die Befreiung von mühseligen Identitäts- und Systemvorstellungen.
Der Mensch mit seinen Begriffen und seinen sozialen und gesellschaftlichen Konstruktionen erscheint als "totale Diskontinuität". Regelgerechte Rede als Bedingung des Denkens und Handelns ist damit natürlich insgesamt in Frage gestellt. Ein eitler Ton ist darin unüberhörbar, dabei träumt auch Wühr nur den altbekannten Mythos von der reinen Poesie einer nichtsignifikativen Sprache weiter. In seinem lyrischen Antiidealismus soll die Sprache nicht mehr System und Abdruck des Geistes und seiner Operationen sein, sondern eine vom Begehren getriebene unendliche Wucherung, in der die alte mystische Sehnsucht nach Sprachergänzung als triebhaftes Geschehen sichtbar wird. Daher soll es in diesem Buch auch kein lyrisches Ich im konventionellen Sinne mehr geben, vielmehr wollen virtuell unendliche Stimmen als moderner Sirenengesang ins Reich subjektloser Begehrung locken.
Wird der Leser mit seinen Gefährten dem Ruf folgen wollen, oder hat er einmal wieder ihnen die Ohren verstopft und sich selbst an den Mast der konventionellen Ordnung der Dinge gefesselt? Keine Angst vorm Versagen! Dieser hochgelehrte und im unfassenden Sinne aufgeklärte Autor treibt nur sein Spiel mit uns minder Gebildeten, das alle seine Effekte selbst der Tradition verdankt. Und bis wir "gleich weit weg von der / Norm sein werden und gar nichts / mehr mit uns anfangen können / oder beenden", ist es vermutlich noch ein Weilchen hin.
Paul Wühr: "Venus im Pudel". Carl Hanser Verlag, München und Wien 2000. 700 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Paul Wühr sucht das Ursprüngliche im Haustier · Von Friedmar Apel
Im Gegensatz zu Enzensberger oder Rühmkorf gilt der 1927 geborene Paul Wühr als der große Unzeitgemäße unter den Dichtern seiner Generation. Vielleicht deshalb, weil er sich in hochfahrendem Anspruch auf höhere Erkenntnis mit dem neuesten Denken auseinander gesetzt hat. Als Gärtner im totgesagten Park hat er sich nie verstanden, sein Forum ist der imaginäre Marktplatz, auf dem seit Diogenes und Sokrates große Geister fragen. In Gesellschaft von Philosophen und Wissenschaftlern fühlt er sich wohler als unter dichterischen Kleingewerbetreibenden. In seiner lyrischen Enzyklopädie versammelt er mit Vorliebe alte und neue Flüchtlinge aus dem Reich der Vernunft um sich, die der Poesie schon entgegengeeilt sind: Hamann und Novalis, Nietzsche, Bataille, Lacan, Derrida oder Baudrillard.
"Venus im Pudel" ist der Versuch, die Verknotungen in der Dialektik der Aufklärung mit dem lyrischen Skalpell zu durchtrennen und den vitalen Kern zu finden, der die Welt im Innersten zusammen hält. Der verbirgt sich augenscheinlich im Begehren. Alles Sprechen oder Schweigen gründet in Lust und Not des Fleisches, alles Denken und Handeln resultiert aus dessen Aufstehen und Erschlaffen. Im Gegensatz zu Sacher-Masoch, auf den der Titel auch anspielt, und zum häufig zitierten Weininger erscheint Sexualität nicht als pathologisches Phänomen. Die körperliche Ich-Du-Beziehung soll als wahrer Text alles Sozialen und Gesellschaftlichen lesbar werden, und solche Poesie scheut sich auch nicht, "mit zwei Brüsten und Bauch / Schwanz Schenkel und dem / Hintern unter der Haube der / Pornografie" zuzustreben.
In antidiskursivem Furor treibt Wühr Philosopheme jeglicher Provenienz, vor allem die Aussagen zum Verhältnis von Geist und Körper, durch die Sprache: "was für ein Wahn es gibt hier doch / keine Dualitäten Wirkliches wird / bei Gott nicht vernichtet das Wesen / zerfällt nicht weil es im Geist Physis / bleibt . . ." Nur in seiner Sichtbarkeit und Leiblichkeit ist der Mensch in Wührs poetischer Welt für den Menschen das höchste Wesen. Sprache und Denken sind in ihrem Ursprung fleischlich und venerisch, generativ und doch immateriell. So will Wührs Werk als ein barocker Textkörper erscheinen, der die Schönheit und Abscheulichkeit des vergänglichen Leiblichen zur Lesbarkeit bringt, ohne dass das Dingliche und Leibliche zur Unsichtbarkeit von Normen und Ordnungsprinzipien transformiert und dem fälschlich Abgespaltenen unterworfen würde.
Sätze, die mit einem Punkt enden, und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, Brot und Wein also des Rezensenten, die er dem vermutlich konventionellen Leser reicht, sind eigentlich eine Sünde wider Geist und Fleisch der Lyrik Wührs. Seine poetische Methode besteht im Verzicht auf Satzzeichen und die gewohnten Ordnungselemente des Satzbaus. Vielfältig kalkulierte Zeilenbrüche lassen mehrere syntaktische Lesarten zu, oder sie emanzipieren einzelne Wortfolgen und Wörter vom Satz- und Sinnzusammenhang. Insbesondere verselbständigen sich nichtbezeichnende Wörter wie als, so, seitdem, wie, es oder freilich, und es sorgen Partikelgestöber für einen verwirrenden Verweisungszusammenhang. Rhythmische Retardierungen und Beschleunigungen treiben jeden Ansatz zu einer Aussage über sich hinaus. Derart inszeniert Wühr die Vielstimmigkeit der Welt.
Die Methode zielt auf systematische Entautomatisierung kognitiver Rede, die dann gelegentlich selbst die Begriffe des logischen Positivismus zu poetischen Chiffren transformiert. Sätze und Worte verzichten auf ihre Rückbindung im System der Sprachlogik, sie kommen gleichsam niemals im Satz zur Ruhe und lassen so den Zusammenhang von Begehren, Sprechen und Denken als unaufhörlich strömenden Prozess erscheinen, in dem das Begehren unvorhersehbare Strudel bildet. Wührs negative lyrische Dialektik verspricht die Befreiung von mühseligen Identitäts- und Systemvorstellungen.
Der Mensch mit seinen Begriffen und seinen sozialen und gesellschaftlichen Konstruktionen erscheint als "totale Diskontinuität". Regelgerechte Rede als Bedingung des Denkens und Handelns ist damit natürlich insgesamt in Frage gestellt. Ein eitler Ton ist darin unüberhörbar, dabei träumt auch Wühr nur den altbekannten Mythos von der reinen Poesie einer nichtsignifikativen Sprache weiter. In seinem lyrischen Antiidealismus soll die Sprache nicht mehr System und Abdruck des Geistes und seiner Operationen sein, sondern eine vom Begehren getriebene unendliche Wucherung, in der die alte mystische Sehnsucht nach Sprachergänzung als triebhaftes Geschehen sichtbar wird. Daher soll es in diesem Buch auch kein lyrisches Ich im konventionellen Sinne mehr geben, vielmehr wollen virtuell unendliche Stimmen als moderner Sirenengesang ins Reich subjektloser Begehrung locken.
Wird der Leser mit seinen Gefährten dem Ruf folgen wollen, oder hat er einmal wieder ihnen die Ohren verstopft und sich selbst an den Mast der konventionellen Ordnung der Dinge gefesselt? Keine Angst vorm Versagen! Dieser hochgelehrte und im unfassenden Sinne aufgeklärte Autor treibt nur sein Spiel mit uns minder Gebildeten, das alle seine Effekte selbst der Tradition verdankt. Und bis wir "gleich weit weg von der / Norm sein werden und gar nichts / mehr mit uns anfangen können / oder beenden", ist es vermutlich noch ein Weilchen hin.
Paul Wühr: "Venus im Pudel". Carl Hanser Verlag, München und Wien 2000. 700 S., geb., 98,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Im Gegensatz zu Enzensberger oder Rühmkorf, findet Rezensent Friedmar Apel, gilt Wühr als der "große Unzeitgemäße seiner Generation". Vielleicht, meint Apel, weil Wühr sich nie "als Gärtner im totgesagten Park" verstanden habe. Dann nimmt der Rezensent das Seziermesser und beginnt, Wührs Dichtung zu zerlegen: zum Zweck der Vorführung. Zunächst ergibt das Unternehmen noch messerscharfe Formulierungen. Bald aber blickt man bloß noch auf unansehnliche Einzelteile, die auf dem Seziertisch des Lyrikpathologen liegen. Den Gedichten dieses "hochgelehrten und im umfassenden Sinne aufgeklärten" Autors, die er doch eigentlich loben wollte, hat der Rezensent damit keinen Gefallen getan.
© Perlentaucher Medien GmbH
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