Warum haben Sie Asyl beantragt? Diese Frage muss der namenlose Erzähler mehrfach täglich ins Russische übersetzen. Er arbeitet als Dolmetscher für die Schweizer Einwanderungsbehörde bei Vernehmungen von Flüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion. Doch beim Übersetzen des fremden Leids legt sich seine eigene Lebensgeschichte wie eine zweite Schicht um die Worte. Auch er ist ein Emigrant, der sich nach denen sehnt, die er nicht mehr um sich hat: nach seiner Frau und seinem Kind. Und plötzlich treten dem Dolmetscher neben seinen eigenen Erinnerungen und Gefühlen auch Geschichten aus anderen Welten und Zeiten entgegen. Auf faszinierende Weise erzählt Schischkin ein Jahrhundert russischer Geschichte und bettet außerdem das Leben des Dolmetschers durch Verweise in einen Kosmos der gesamten Weltkultur ein. "Venushaar" ist eine vielstimmige Parabel auf das verlorene Paradies - kunstvoll komponiert, stilistisch virtuos.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2011Autor auf Stimmenfang
Die Figuren suchen nach Identität, die Leser nach einer Struktur: Der preisgekrönte Roman "Venushaar" von Michail Schischkin stolpert über seine Ambition.
In jedem Batzen Spucke fliegt ein Universum" - und irgendwie hängt alles mit allem zusammen. Wenn ein Schriftsteller eine derart holistische Weltsicht in Literatur verwandelt, darf man ein "komplexes Meisterwerk" erwarten. Im Fall des in der Schweiz lebenden Russen Michail Schischkin waren sich die Juroren für den wichtigsten russischen Literaturpreis, Das Große Buch 2006, nahezu einig. Jetzt hat es der jüngste Roman des 1961 in Moskau geborenen Schriftstellers auch hierzulande auf die Shortlist des Internationalen Literaturpreises des Berliner Hauses der Kulturen der Welt geschafft. Was immer man über das Buch hört oder liest, das Komplexe scheint sein hervorstechendes Merkmal zu sein. Doch ist Komplexität ein Qualitätsmerkmal an sich?
Schon der Titel ist Programm: Frauenhaarfarn, auch Venushaar genannt, ist eine wuchernde Pflanze, die mühelos Felsen und Mauerwerk durch- und überwächst. So ähnlich ist es auch mit den Handlungslinien in Schischkins Roman. Ein bei der schweizerischen Asylbehörde angestellter Russischdolmetscher, selbst Einwanderer aus Russland und wohl das Alter Ego des Autors, erzählt in düsterem Dostojewski-Ton vom inquisitorischen Frageprozedere der Behörde und wie Asylsuchende versuchen, sich durch dieses perfide bürokratische Labyrinth zu lavieren. Er weiß, dass ihre Geschichten oft nicht stimmen, doch schließlich, so meint er, sei alles, was erzählt wird, irgendwann und irgendwo irgendeinem Menschen passiert und legitimiere somit zum staatlich sanktionierten Erbarmen.
Daneben quält sich der Dolmetsch mit seiner an einer vertrackten Dreierbeziehung - Tristan, er und Isolde! - gescheiterten Ehe und hat in seiner einsamen Zürcher Wohnung Sehnsucht nach Frau und Sohn. Darüber hinaus mutiert er selbst zum Objekt eines quälenden Frage-und-Antwort-Spiels. In seinen Pausen liest er in der "Anabasis" von Xenophon über den Krieg des Kyros gegen Artaxerxes. In einem kalten Gebirge treffen, höchst intertextuell, dessen Armeen auf tschetschenische Vertriebene, die von Stalin der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt und schließlich deportiert wurden: Feuer im Schnee, elende Menschen, Listen von Toten, und alle wollen zum rettenden Meer.
Schließlich fließen in die ambitionierte Polyphonie des Romans Tagebuchaufzeichnungen der russischen Gesangsikone Isabella Jurjewa aus den Jahren des Ersten Weltkrieges und der Nachrevolutionszeit ein. Die 1899 geborene, vom Volke umjubelte Diva und hochdekorierte Staatskünstlerin der Sowjetunion starb im Jahr 2000, alt wie Methusalem und ziemlich vergessen, in Moskau. Immer mehr dominieren ihre recht banalen Backfischphantasien und Alltagsweisheiten - "Je ärger das Unglück der einen, desto entschiedener müssen die anderen auf ihrem Glück bestehen" - die Tonlage des Buches.
Michail Schischkin ist ein Sprachvirtuose, dessen surreale, apokalyptische Szenarien an die Filme seines Landsmannes Andrei Tarkowski erinnern. Andreas Tretner hat diese Sprachkraft meisterhaft ins Deutsche übertragen. Dennoch erweist sich die Lektüre als ermüdender Kraftakt. Die umfangreichen, umsichtigen Anmerkungen des Übersetzers zu den zahllosen historischen und literarischen Anspielungen erleichtern die Rezeption nur bedingt. Denn allzu oft erschöpft sich die postmoderne Komplexität im Manierismus - und der Leser verliert in der Kakophonie der Stimmen die Orientierung.
SABINE BERKING.
Michail Schischkin: "Venushaar". Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 554 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Figuren suchen nach Identität, die Leser nach einer Struktur: Der preisgekrönte Roman "Venushaar" von Michail Schischkin stolpert über seine Ambition.
In jedem Batzen Spucke fliegt ein Universum" - und irgendwie hängt alles mit allem zusammen. Wenn ein Schriftsteller eine derart holistische Weltsicht in Literatur verwandelt, darf man ein "komplexes Meisterwerk" erwarten. Im Fall des in der Schweiz lebenden Russen Michail Schischkin waren sich die Juroren für den wichtigsten russischen Literaturpreis, Das Große Buch 2006, nahezu einig. Jetzt hat es der jüngste Roman des 1961 in Moskau geborenen Schriftstellers auch hierzulande auf die Shortlist des Internationalen Literaturpreises des Berliner Hauses der Kulturen der Welt geschafft. Was immer man über das Buch hört oder liest, das Komplexe scheint sein hervorstechendes Merkmal zu sein. Doch ist Komplexität ein Qualitätsmerkmal an sich?
Schon der Titel ist Programm: Frauenhaarfarn, auch Venushaar genannt, ist eine wuchernde Pflanze, die mühelos Felsen und Mauerwerk durch- und überwächst. So ähnlich ist es auch mit den Handlungslinien in Schischkins Roman. Ein bei der schweizerischen Asylbehörde angestellter Russischdolmetscher, selbst Einwanderer aus Russland und wohl das Alter Ego des Autors, erzählt in düsterem Dostojewski-Ton vom inquisitorischen Frageprozedere der Behörde und wie Asylsuchende versuchen, sich durch dieses perfide bürokratische Labyrinth zu lavieren. Er weiß, dass ihre Geschichten oft nicht stimmen, doch schließlich, so meint er, sei alles, was erzählt wird, irgendwann und irgendwo irgendeinem Menschen passiert und legitimiere somit zum staatlich sanktionierten Erbarmen.
Daneben quält sich der Dolmetsch mit seiner an einer vertrackten Dreierbeziehung - Tristan, er und Isolde! - gescheiterten Ehe und hat in seiner einsamen Zürcher Wohnung Sehnsucht nach Frau und Sohn. Darüber hinaus mutiert er selbst zum Objekt eines quälenden Frage-und-Antwort-Spiels. In seinen Pausen liest er in der "Anabasis" von Xenophon über den Krieg des Kyros gegen Artaxerxes. In einem kalten Gebirge treffen, höchst intertextuell, dessen Armeen auf tschetschenische Vertriebene, die von Stalin der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt und schließlich deportiert wurden: Feuer im Schnee, elende Menschen, Listen von Toten, und alle wollen zum rettenden Meer.
Schließlich fließen in die ambitionierte Polyphonie des Romans Tagebuchaufzeichnungen der russischen Gesangsikone Isabella Jurjewa aus den Jahren des Ersten Weltkrieges und der Nachrevolutionszeit ein. Die 1899 geborene, vom Volke umjubelte Diva und hochdekorierte Staatskünstlerin der Sowjetunion starb im Jahr 2000, alt wie Methusalem und ziemlich vergessen, in Moskau. Immer mehr dominieren ihre recht banalen Backfischphantasien und Alltagsweisheiten - "Je ärger das Unglück der einen, desto entschiedener müssen die anderen auf ihrem Glück bestehen" - die Tonlage des Buches.
Michail Schischkin ist ein Sprachvirtuose, dessen surreale, apokalyptische Szenarien an die Filme seines Landsmannes Andrei Tarkowski erinnern. Andreas Tretner hat diese Sprachkraft meisterhaft ins Deutsche übertragen. Dennoch erweist sich die Lektüre als ermüdender Kraftakt. Die umfangreichen, umsichtigen Anmerkungen des Übersetzers zu den zahllosen historischen und literarischen Anspielungen erleichtern die Rezeption nur bedingt. Denn allzu oft erschöpft sich die postmoderne Komplexität im Manierismus - und der Leser verliert in der Kakophonie der Stimmen die Orientierung.
SABINE BERKING.
Michail Schischkin: "Venushaar". Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 554 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.07.2011Gogol tanzt und fuchtelt mit dem Regenschirm
Die Kunst und die toten Seelen der russischen Geschichte zwischen 1917 und dem Tschetschenien-Krieg: Michail Schischkins Roman „Venushaar“
Mit einer Legende hat nach der russischen Revolution des Jahres 1917 ein Museumsdirektor die Kunstsammlungen des Grafen Scheremetew aus dem 18. Jahrhundert im Landgut Ostankino bei Moskau vor allen Attacken geschützt. Das Palais sei von Leibeigenen geschaffen worden, das Museum also ein „Museum für die Kunst der Leibeigenen“. Michail Schischkin, der 1961 in Moskau geboren wurde, hat als Schulkind dieses Museum besucht. In seinem Roman „Venushaar“ beschreibt er die kalten, dunklen Säle, die Kopie des Apoll vom Belvedere in den verschneiten Grünanlagen, und die schnurrbärtige Klassenlehrerin wird zu einer der Figuren, in denen sich die Erinnerung an Russland verdichtet.
Aber dieses Russland ist ferngerückt. Schischkin ist 1995 in die Schweiz ausgewandert, wo er seither lebt. Er hat selbst eine Zeitlang Protokolle von der Art angefertigt, wie sie den im Original 2005 erschienenen Roman eröffnen, hat als Übersetzer im Dienste der Schweizer Einwanderungsbehörden Lebensgeschichten erfragt und aufgeschrieben, die erzählt wurden, um einen Asylantrag zu begründen. Es sind Geschichten von Gewaltopfern aus Tschetschenien, aus Russland, aus dem Grenzgebiet zu Kasachstan.
„Der Dolmetsch“, so heißt im Roman die Figur, die Schischkins Erfahrungen in sich aufnimmt. Wie dem Dolmetscher seine Endung ist den Protokollen das Aktenzeichen abhanden gekommen. Der Sachbearbeiter mag mit bürgerlichem Namen Peter heißen, im Roman ist er Petrus, der darüber wacht, wer ins Paradies hinein darf, genauer gesagt, er hat einen Doppelgänger namens Petrus, der ihn und die Asylsuchenden aus der Amtsstube entführt, dorthin, wo früher die Erlösungsversprechen gegeben und am jüngsten Tag die Toten auf Himmel und Hölle verteilt wurden.
Von Beginn an lässt Schischkin keinen Zweifel daran, dass er die Bürokratie und den Schrecken der Geschichte nicht realistisch beschreiben, sondern durch die Einbildungskraft herausfordern will. Er überantwortet sie dem Geiste Nikolai Gogols, bei dem sich Wortendungen von ihrem Rumpf und ganze Riechorgane vom Körper lösen, dem sie angehören, bei dem aus Kanzleipapier und Statistiken tote Seelen aufsteigen und bei dessen Mummenschanz der heillosen Welt der Witz und das Grauen als unzertrennliches Paar Regie führen. Das Abtrennen von Körperteilen – von der Erinnerung an Ciceros Hände und Kopf, die am Forum Romanum zur Schau gestellt wurden, bis zu den Explosionen, die im Tschetschenien-Konflikt Zivilisten in einem Bus zerfetzen – ist in diesem Roman keine phantastische Allüre, sondern Teil der Realgeschichte, die er in sich aufnimmt.
Da sind die Soldatenzüge und Hinrichtungen aus der „Anabasis“ des Xenophon, da sind die Geschichten von Gewalt, Vertreibung und Grausamkeitsritualen während des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution, im Zweiten Weltkrieg und in der Stalinzeit, bis hin ins Tschetschenien und Ossetien der Ära nach dem Zerfall der Sowjetunion. In der Überblendung der Zeiten verliert aber kein Ereignis sein Eigenrecht. Den Toten des Massakers der Roten Armee in Chaibach 1944 bei der Deportation der Tschetschenen setzt dieser Roman einen massiven Grabstein.
Er hat aber von der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts auch gelernt, die Dämonen aus dem Alltag und der Fülle seiner Details hervorgehen zu lassen. So wird eine fiktive russische Sängerin, die 1899 geboren wurde und hochbetagt am Ende des Jahrzehnts starb, in dem die Sowjetunion zugrunde ging, zur heimlichen Hauptfigur des Romans. In Isabella Jurjewa (1899-2000) hat sie ein reales Vorbild. Ihr Tagebuch hat Michail Schischkin zu einem lebendigen Archiv der russischen Kunst im 20. Jahrhundert gemacht, der Puschkin- und Tolstoi-Treue ebenso wie des Aufbruchs in Theater und Kino, zu einem Album voller Liebesandenken und Backfischschwärmerei, zu einer privaten, bürgerlichen Geschichte vom Ersten Weltkrieg bis in die Sowjetunion nach 1945.
Die Erinnerung an das Ostankino-Russland und eine tieftraurige Liebesuntergangsgeschichte, in die Schischkin seinen Dolmetsch verstrickt und in der ein toter „Tristan“ höchst lebendig herumspukt, umrahmen die Zeitgeschichte des Zerfalls der Sowjetunion und ihrer Kriege von Afghanistan bis Ossetien. Schauplatz der Liebesgeschichte ist Rom, aber der Titel des Romans zitiert keine Liebesmythologie, er meint das Farnkraut, das durch die Ruinen wächst.
Gogol lebte zeitweilig in Rom, er hat in der Stadt der Toten und Statuen einen markanten Auftritt: „Wir bogen vom Palazzo Barberini nach links in eine Sackgasse, Gogol stimmte ein kleinrussisches Trinklied an, verfiel am Ende gar in einen Tanzschritt und fuchtelte mit seinem Regenschirm so gewagt in der Luft herum, dass keine zwei Minuten später nur noch der Schirmknauf in seiner Hand steckte, der Rest war beiseitegeflogen.“
Das Beiseitefliegen hat Schischkin zum poetischen Prinzip seines sprunghaften Romans gemacht, der oft seine Erzählstränge hart, übergangslos gegeneinanderschlagen lässt. Das Motto zitiert die apokryphe Offenbarung des Baruch: „Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das Wort werden wir einst auferstehen.“ Der Satz meint nicht nur die Wiedererweckung der in der Geschichte zugrundegegangenen Toten durch die Literatur. Er ist zugleich das ideale Motto eines Romans, in den ein Dolmetsch hineinführt.
Der Übersetzer Andreas Tretner stand vor der Aufgabe, einen ganzen Chor von Stimmen, eine Prosa- Polyphonie aus Bibelsprache und Verhörprotokoll, elegischer Liebesreminiszenz und hart-vulgärem Landserton, Palindromgirlanden und Wortspielen ins Deutsche zu bringen. Er hat für jeden russischen Topf einen deutschen Deckel gefunden, auch für die vielen Redewendungen, Merksätze und verballhornten Volksweisheiten, die dafür sorgen, dass in diesem Roman das komische Sprachregister nicht zu kurz kommt.
Vor kurzem haben Michail Schischkin und Andreas Tretner für „Venushaar“ den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin erhalten. In Russland ist Schischkin ein vielgelesener Autor. Hierzulande ist er noch zu entdecken.
LOTHAR MÜLLER
MICHAIL SCHISCHKIN: Venushaar. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 556 Seiten, 24,99 Euro.
Das Tagebuch einer Sängerin
wird zum Roman im Roman
Als Schüler besuchte Schischkin das Museum Ostankino. Auf unserem Bild der italienische Pavillon. Foto: Imago
Der 1961 in Moskau geborene Michail Schischkin Foto: Yvonne Boehler
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Die Kunst und die toten Seelen der russischen Geschichte zwischen 1917 und dem Tschetschenien-Krieg: Michail Schischkins Roman „Venushaar“
Mit einer Legende hat nach der russischen Revolution des Jahres 1917 ein Museumsdirektor die Kunstsammlungen des Grafen Scheremetew aus dem 18. Jahrhundert im Landgut Ostankino bei Moskau vor allen Attacken geschützt. Das Palais sei von Leibeigenen geschaffen worden, das Museum also ein „Museum für die Kunst der Leibeigenen“. Michail Schischkin, der 1961 in Moskau geboren wurde, hat als Schulkind dieses Museum besucht. In seinem Roman „Venushaar“ beschreibt er die kalten, dunklen Säle, die Kopie des Apoll vom Belvedere in den verschneiten Grünanlagen, und die schnurrbärtige Klassenlehrerin wird zu einer der Figuren, in denen sich die Erinnerung an Russland verdichtet.
Aber dieses Russland ist ferngerückt. Schischkin ist 1995 in die Schweiz ausgewandert, wo er seither lebt. Er hat selbst eine Zeitlang Protokolle von der Art angefertigt, wie sie den im Original 2005 erschienenen Roman eröffnen, hat als Übersetzer im Dienste der Schweizer Einwanderungsbehörden Lebensgeschichten erfragt und aufgeschrieben, die erzählt wurden, um einen Asylantrag zu begründen. Es sind Geschichten von Gewaltopfern aus Tschetschenien, aus Russland, aus dem Grenzgebiet zu Kasachstan.
„Der Dolmetsch“, so heißt im Roman die Figur, die Schischkins Erfahrungen in sich aufnimmt. Wie dem Dolmetscher seine Endung ist den Protokollen das Aktenzeichen abhanden gekommen. Der Sachbearbeiter mag mit bürgerlichem Namen Peter heißen, im Roman ist er Petrus, der darüber wacht, wer ins Paradies hinein darf, genauer gesagt, er hat einen Doppelgänger namens Petrus, der ihn und die Asylsuchenden aus der Amtsstube entführt, dorthin, wo früher die Erlösungsversprechen gegeben und am jüngsten Tag die Toten auf Himmel und Hölle verteilt wurden.
Von Beginn an lässt Schischkin keinen Zweifel daran, dass er die Bürokratie und den Schrecken der Geschichte nicht realistisch beschreiben, sondern durch die Einbildungskraft herausfordern will. Er überantwortet sie dem Geiste Nikolai Gogols, bei dem sich Wortendungen von ihrem Rumpf und ganze Riechorgane vom Körper lösen, dem sie angehören, bei dem aus Kanzleipapier und Statistiken tote Seelen aufsteigen und bei dessen Mummenschanz der heillosen Welt der Witz und das Grauen als unzertrennliches Paar Regie führen. Das Abtrennen von Körperteilen – von der Erinnerung an Ciceros Hände und Kopf, die am Forum Romanum zur Schau gestellt wurden, bis zu den Explosionen, die im Tschetschenien-Konflikt Zivilisten in einem Bus zerfetzen – ist in diesem Roman keine phantastische Allüre, sondern Teil der Realgeschichte, die er in sich aufnimmt.
Da sind die Soldatenzüge und Hinrichtungen aus der „Anabasis“ des Xenophon, da sind die Geschichten von Gewalt, Vertreibung und Grausamkeitsritualen während des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution, im Zweiten Weltkrieg und in der Stalinzeit, bis hin ins Tschetschenien und Ossetien der Ära nach dem Zerfall der Sowjetunion. In der Überblendung der Zeiten verliert aber kein Ereignis sein Eigenrecht. Den Toten des Massakers der Roten Armee in Chaibach 1944 bei der Deportation der Tschetschenen setzt dieser Roman einen massiven Grabstein.
Er hat aber von der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts auch gelernt, die Dämonen aus dem Alltag und der Fülle seiner Details hervorgehen zu lassen. So wird eine fiktive russische Sängerin, die 1899 geboren wurde und hochbetagt am Ende des Jahrzehnts starb, in dem die Sowjetunion zugrunde ging, zur heimlichen Hauptfigur des Romans. In Isabella Jurjewa (1899-2000) hat sie ein reales Vorbild. Ihr Tagebuch hat Michail Schischkin zu einem lebendigen Archiv der russischen Kunst im 20. Jahrhundert gemacht, der Puschkin- und Tolstoi-Treue ebenso wie des Aufbruchs in Theater und Kino, zu einem Album voller Liebesandenken und Backfischschwärmerei, zu einer privaten, bürgerlichen Geschichte vom Ersten Weltkrieg bis in die Sowjetunion nach 1945.
Die Erinnerung an das Ostankino-Russland und eine tieftraurige Liebesuntergangsgeschichte, in die Schischkin seinen Dolmetsch verstrickt und in der ein toter „Tristan“ höchst lebendig herumspukt, umrahmen die Zeitgeschichte des Zerfalls der Sowjetunion und ihrer Kriege von Afghanistan bis Ossetien. Schauplatz der Liebesgeschichte ist Rom, aber der Titel des Romans zitiert keine Liebesmythologie, er meint das Farnkraut, das durch die Ruinen wächst.
Gogol lebte zeitweilig in Rom, er hat in der Stadt der Toten und Statuen einen markanten Auftritt: „Wir bogen vom Palazzo Barberini nach links in eine Sackgasse, Gogol stimmte ein kleinrussisches Trinklied an, verfiel am Ende gar in einen Tanzschritt und fuchtelte mit seinem Regenschirm so gewagt in der Luft herum, dass keine zwei Minuten später nur noch der Schirmknauf in seiner Hand steckte, der Rest war beiseitegeflogen.“
Das Beiseitefliegen hat Schischkin zum poetischen Prinzip seines sprunghaften Romans gemacht, der oft seine Erzählstränge hart, übergangslos gegeneinanderschlagen lässt. Das Motto zitiert die apokryphe Offenbarung des Baruch: „Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das Wort werden wir einst auferstehen.“ Der Satz meint nicht nur die Wiedererweckung der in der Geschichte zugrundegegangenen Toten durch die Literatur. Er ist zugleich das ideale Motto eines Romans, in den ein Dolmetsch hineinführt.
Der Übersetzer Andreas Tretner stand vor der Aufgabe, einen ganzen Chor von Stimmen, eine Prosa- Polyphonie aus Bibelsprache und Verhörprotokoll, elegischer Liebesreminiszenz und hart-vulgärem Landserton, Palindromgirlanden und Wortspielen ins Deutsche zu bringen. Er hat für jeden russischen Topf einen deutschen Deckel gefunden, auch für die vielen Redewendungen, Merksätze und verballhornten Volksweisheiten, die dafür sorgen, dass in diesem Roman das komische Sprachregister nicht zu kurz kommt.
Vor kurzem haben Michail Schischkin und Andreas Tretner für „Venushaar“ den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin erhalten. In Russland ist Schischkin ein vielgelesener Autor. Hierzulande ist er noch zu entdecken.
LOTHAR MÜLLER
MICHAIL SCHISCHKIN: Venushaar. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 556 Seiten, 24,99 Euro.
Das Tagebuch einer Sängerin
wird zum Roman im Roman
Als Schüler besuchte Schischkin das Museum Ostankino. Auf unserem Bild der italienische Pavillon. Foto: Imago
Der 1961 in Moskau geborene Michail Schischkin Foto: Yvonne Boehler
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Ziemlich anstrengend findet Rezensentin Christiane Pöhlmann diesen Text des russischen Autors Michail Schischkin, der sie für ihre Lektüremühen letztendlich auch nicht entschädigte. Ein Labyrinth aus Motiven, Szenen und Momenten errichtet Schischkin mit diesem Text, unzählige Figuren aus Mythos und Literatur treffen aufeinander, es geht um russische Flüchtlinge in der Schweiz, Paradiese und Nebenparadiese, Daphnis in der Moskauer Metro und Agatha Christies "Zehn kleine Negerlein". Aber wird das je mehr als Selbstzweck? Die Rezensentin ist sich da nicht sicher. Zur gekonnten Verflechtung all seiner Geschichten fehle dem Buch der "erzählerische Drive", immer behalte in diesem "literarischen Wimmelbild" die Form über den Inhalt die Oberhand. Negativ zu Buche schlagen für Pöhlmann auch Schischkins Hang zum Esoterischen und ein "ärgerliches Frauenbild".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Michail Schischkin ist ein mächtig ausgreifender Erzähler und Wortgläubiger mit Klassikerpotenz, wie man ihn schon lange nicht mehr sah in der russischen Weltliteratur.« NZZ am Sonntag, 24.04.2011