Vorsaison, noch ist das stille Ostseebad menschenleer. Draußen vor der Bucht ein Tanker, der auseinanderbricht. Claire, eine Trickkünstlerin, bereitet sich nach erfolgloser Kur auf ihre Abreise vor. Da taucht der undurchschaubare Mattak auf. Mattok, der auf der Flucht ist, in den Osten. Er scheint genaueste Pläne zu haben. auch für Claire, die sich auf unerklärliche Weise fast willenlos zu ihm hingezogen fühlt. Die beiden beginnen eine Liebesgeschichte zu spielen, mit ganz eigenen Gesetzen. Julia Schoch erzählt mit eindringlicher Präzision die ungewöhnliche Begegnung zweier an der Gegenwart Verzweifenden, deren Wege sich für einen kurzen, bemerkenswerten Augenblick kreuzen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2004Die Unberührbaren
Wieviel Wille steckt im Körpersack? Julia Schochs erster Roman
Der Auftakt ist das Beste an diesem Buch. Er ist so präzise, als handele es sich um eine Novelle von Heinrich von Kleist. Mit einem einzigen Satz öffnet Julia Schoch den Horizont ihrer Erzählung und verknüpft eine persönliche Tragödie mit einer umfassenden Katastrophe. Die Taschentrickkünstlerin Claire Elling, die sich zur Kur in einem Ostseebad befindet, erfährt, daß das Ekzem an ihrer rechten Hand unheilbar ist, während draußen vor der Küste ein Öltanker sinkt. Für Claire ist klar, daß sie ihren auf Fingerfertigkeit beruhenden Beruf nicht mehr wird ausüben können. Mit der Diagnose des Arztes fällt sie aus ihrem Leben heraus. Die Vitrine, die im Behandlungszimmer zu Bruch geht, weil sie eine Dekorationskugel hineinwirft, ist das erste, klirrende Zeichen, daß noch mehr kaputtgehen wird.
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren und in Mecklenburg aufgewachsen, hat 2001 für ihre Debüterzählungen "Der Körper des Salamanders" viel Lob erhalten, unter anderem auch deshalb, weil sie sich als Berichte über die Stimmungslage im deutschen Osten lesen ließen. Ihr zweites Buch, "Verabredungen mit Mattok", spielt zwar auch im äußersten deutschen Osten, zielt aber auf eine allgemeinere, parabelhafte Existenzleere. Während die Feriengäste übers Meer starren, um am Horizont die Konturen des sinkenden Tankers zu erkennen, entdeckt Claire am Strand einen seltsamen Mann mit seltsamer Frisur, der sich das Kinn reibt, als handele es sich um ein verabredetes Zeichen. Alles, was in diesem Buch geschieht, hat Zeichencharakter. Ohne viel zu reden, gehören die beiden nun zusammen - ein merkwürdiges, schweigsames Paar als Notgemeinschaft zweier Unzugehöriger.
Er, Mattok, ist mit einer Tasche voller Kleingeld, die er Bankräubern abgenommen hat, auf der Flucht in Richtung Polen. Sie ist orientierungslos genug, um ihn attraktiv zu finden und seinen Kommandos zu gehorchen. Aber weit kommen sie nicht. Mal fahren sie in einem Auto rückwärts durch die Gegend wie Traumgestalten, mal gehen sie in scheiterndem Gleichtakt nebeneinanderher wie spielende Kinder. Es geht nicht ums Vorwärtskommen, sondern ums Auf-der-Stelle-Treten. Die beiden Figuren sind Kunstprodukte: Geheimnissimulanten, die sich selbst ein Rätsel bleiben. Aber weil sie so künstlich sind, interessiert man sich schon bald nicht mehr für ihre Bewegungsbemühungen.
Keine Liebesgeschichte also. Eher eine Prosaübung zum Thema Oberflächengestaltung und Osmose, ein literarisches Experiment über Unberührbarkeit. Die Haut wird schon in der Eingangsszene zum eigentlichen Schauplatz des Geschehens. Claires Ekzem an der Hand macht sie nicht nur handlungsunfähig, sondern besetzt symbolisch die Nahtstelle zwischen innen und außen, zwischen Ich und umgebender Welt. Insofern mag es auch von Bedeutung sein, daß Mattok einen "Mantel aus Igelit" trägt. Claire wohnt in ihrem Körper wie in einer Puppenhülle. Sie hat das Gefühl, das Gesicht sei vorn am Kopf festgesteckt und jederzeit abnehmbar. Es kommt ihr merkwürdig, ja wunderbar vor, daß die dünne, verletzliche Haut, die jederzeit zu zerreißen droht, den Menschen dauerhaft zusammenhält. Aber was drin ist in diesem Körpersack, ob es da einen Willen gibt, ein Ziel, ein Wünschen und Begehren, davon erfährt man kaum etwas. Claire ist so blutarm wie diese kalkulierte Prosa. Und Mattok geht schließlich neben einer Landstraße in die Knie und brüllt: "Vom Willen des einzelnen hängt ja überhaupt nichts mehr ab." Dazu hebt er Claires Hand "als Beweisstück" in die Höhe.
Vielleicht will Julia Schoch uns sagen, daß die Zerstörung der Welt etwas mit der Identitätsstörung der Individuen, mit ihrer unheilbaren Einsamkeit und Spracharmut zu tun hat. Der verletzlichen Haut entsprechen der bald schon ölverkrustete Sandstrand mit den verklumpten Körpern toter Vögel und das zäh schwappende, ölbedeckte Meer. Auch angesichts der Katastrophe finden die beiden Protagonisten nicht zur Handlungsfähigkeit zurück. Fast schon verächtlich beobachten sie die Helfer in den gelben Jacken, die vergeblich gegen die Ölpest ankämpfen. Ein finaler Ringkampf auf der Seebrücke endet schließlich tödlich: Claire wirft einen der Helfer ins Meer, wo er wort- und spurlos unter der Öldecke verschwindet. Anschließend steckt sie die Arme bis zu den Ellenbogen in ein Ölfaß, vielleicht deshalb, weil es sie nach einer neuen, dickeren Haut verlangt. Oder will sie damit sagen: "Auch ich wasche meine Hände nicht in Unschuld"?
Julia Schoch, die an der Universität Potsdam französische Literatur lehrt, schreibt kühl und pointiert. Doch leider vertraut sie nicht auf ihren Erzählton, sondern pflanzt unentwegt Zeichen und Bedeutungen, als wolle sie Erkenntnisse der Semiologie erproben. Das wäre weniger störend, wenn zumindest die beiden Hauptfiguren mehr wären als Bedeutungsträger. Stille Wasser sind tief, mag Julia Schoch sich gedacht haben, als sie ihre schweigende Heldin konzipierte, die aus nichts als dünner Haut zu bestehen scheint. Und über das Meer legte sie einen Ölfilter, damit man nicht mehr in die geheimnisvolle Tiefe blicken kann. Es könnte aber auch sein, daß sich darunter gar nichts verbirgt. In Ufernähe ist das Meer eher flach.
JÖRG MAGENAU
Julia Schoch: "Verabredungen mit Mattok". Roman. Piper Verlag, München 2004. 132 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wieviel Wille steckt im Körpersack? Julia Schochs erster Roman
Der Auftakt ist das Beste an diesem Buch. Er ist so präzise, als handele es sich um eine Novelle von Heinrich von Kleist. Mit einem einzigen Satz öffnet Julia Schoch den Horizont ihrer Erzählung und verknüpft eine persönliche Tragödie mit einer umfassenden Katastrophe. Die Taschentrickkünstlerin Claire Elling, die sich zur Kur in einem Ostseebad befindet, erfährt, daß das Ekzem an ihrer rechten Hand unheilbar ist, während draußen vor der Küste ein Öltanker sinkt. Für Claire ist klar, daß sie ihren auf Fingerfertigkeit beruhenden Beruf nicht mehr wird ausüben können. Mit der Diagnose des Arztes fällt sie aus ihrem Leben heraus. Die Vitrine, die im Behandlungszimmer zu Bruch geht, weil sie eine Dekorationskugel hineinwirft, ist das erste, klirrende Zeichen, daß noch mehr kaputtgehen wird.
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren und in Mecklenburg aufgewachsen, hat 2001 für ihre Debüterzählungen "Der Körper des Salamanders" viel Lob erhalten, unter anderem auch deshalb, weil sie sich als Berichte über die Stimmungslage im deutschen Osten lesen ließen. Ihr zweites Buch, "Verabredungen mit Mattok", spielt zwar auch im äußersten deutschen Osten, zielt aber auf eine allgemeinere, parabelhafte Existenzleere. Während die Feriengäste übers Meer starren, um am Horizont die Konturen des sinkenden Tankers zu erkennen, entdeckt Claire am Strand einen seltsamen Mann mit seltsamer Frisur, der sich das Kinn reibt, als handele es sich um ein verabredetes Zeichen. Alles, was in diesem Buch geschieht, hat Zeichencharakter. Ohne viel zu reden, gehören die beiden nun zusammen - ein merkwürdiges, schweigsames Paar als Notgemeinschaft zweier Unzugehöriger.
Er, Mattok, ist mit einer Tasche voller Kleingeld, die er Bankräubern abgenommen hat, auf der Flucht in Richtung Polen. Sie ist orientierungslos genug, um ihn attraktiv zu finden und seinen Kommandos zu gehorchen. Aber weit kommen sie nicht. Mal fahren sie in einem Auto rückwärts durch die Gegend wie Traumgestalten, mal gehen sie in scheiterndem Gleichtakt nebeneinanderher wie spielende Kinder. Es geht nicht ums Vorwärtskommen, sondern ums Auf-der-Stelle-Treten. Die beiden Figuren sind Kunstprodukte: Geheimnissimulanten, die sich selbst ein Rätsel bleiben. Aber weil sie so künstlich sind, interessiert man sich schon bald nicht mehr für ihre Bewegungsbemühungen.
Keine Liebesgeschichte also. Eher eine Prosaübung zum Thema Oberflächengestaltung und Osmose, ein literarisches Experiment über Unberührbarkeit. Die Haut wird schon in der Eingangsszene zum eigentlichen Schauplatz des Geschehens. Claires Ekzem an der Hand macht sie nicht nur handlungsunfähig, sondern besetzt symbolisch die Nahtstelle zwischen innen und außen, zwischen Ich und umgebender Welt. Insofern mag es auch von Bedeutung sein, daß Mattok einen "Mantel aus Igelit" trägt. Claire wohnt in ihrem Körper wie in einer Puppenhülle. Sie hat das Gefühl, das Gesicht sei vorn am Kopf festgesteckt und jederzeit abnehmbar. Es kommt ihr merkwürdig, ja wunderbar vor, daß die dünne, verletzliche Haut, die jederzeit zu zerreißen droht, den Menschen dauerhaft zusammenhält. Aber was drin ist in diesem Körpersack, ob es da einen Willen gibt, ein Ziel, ein Wünschen und Begehren, davon erfährt man kaum etwas. Claire ist so blutarm wie diese kalkulierte Prosa. Und Mattok geht schließlich neben einer Landstraße in die Knie und brüllt: "Vom Willen des einzelnen hängt ja überhaupt nichts mehr ab." Dazu hebt er Claires Hand "als Beweisstück" in die Höhe.
Vielleicht will Julia Schoch uns sagen, daß die Zerstörung der Welt etwas mit der Identitätsstörung der Individuen, mit ihrer unheilbaren Einsamkeit und Spracharmut zu tun hat. Der verletzlichen Haut entsprechen der bald schon ölverkrustete Sandstrand mit den verklumpten Körpern toter Vögel und das zäh schwappende, ölbedeckte Meer. Auch angesichts der Katastrophe finden die beiden Protagonisten nicht zur Handlungsfähigkeit zurück. Fast schon verächtlich beobachten sie die Helfer in den gelben Jacken, die vergeblich gegen die Ölpest ankämpfen. Ein finaler Ringkampf auf der Seebrücke endet schließlich tödlich: Claire wirft einen der Helfer ins Meer, wo er wort- und spurlos unter der Öldecke verschwindet. Anschließend steckt sie die Arme bis zu den Ellenbogen in ein Ölfaß, vielleicht deshalb, weil es sie nach einer neuen, dickeren Haut verlangt. Oder will sie damit sagen: "Auch ich wasche meine Hände nicht in Unschuld"?
Julia Schoch, die an der Universität Potsdam französische Literatur lehrt, schreibt kühl und pointiert. Doch leider vertraut sie nicht auf ihren Erzählton, sondern pflanzt unentwegt Zeichen und Bedeutungen, als wolle sie Erkenntnisse der Semiologie erproben. Das wäre weniger störend, wenn zumindest die beiden Hauptfiguren mehr wären als Bedeutungsträger. Stille Wasser sind tief, mag Julia Schoch sich gedacht haben, als sie ihre schweigende Heldin konzipierte, die aus nichts als dünner Haut zu bestehen scheint. Und über das Meer legte sie einen Ölfilter, damit man nicht mehr in die geheimnisvolle Tiefe blicken kann. Es könnte aber auch sein, daß sich darunter gar nichts verbirgt. In Ufernähe ist das Meer eher flach.
JÖRG MAGENAU
Julia Schoch: "Verabredungen mit Mattok". Roman. Piper Verlag, München 2004. 132 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Julia Schoch hat 2001mit einem Erzählband debütiert, der bei Eberhard Falcke in guter Erinnerung geblieben ist. Ihr neues Werk, um es neutral auszudrücken, gefällt ihm auch, bloß die Bezeichnung Roman findet er zu hochtrabend für die "höchst übersichtliche Fabel", die mit rabenschwarzem Humor zwei Helden des "vergeblichen Widerstands" in den Mittelpunkt der Handlung stelle: eine Taschentrickspielerin, deren Hand durch ein Ekzem aktionsunfähig geworden ist, und ein verschrobener Typ namens Mattok, der ein paar Bankräubern das Kleingeld statt der Scheine abgeknöpft hat. Die beiden, so Falcke, eint der Ekel vor der Welt, die gerade einer ökologischen Katastrophe in Form eines havarierten Öltankers zu entkommen sucht. Katastrophenroutine entfaltet sich; wie eine Dokumentarkamera registriere Schochs Protagonistin die medialen Aufgeregtheiten, die das ganze letztlich als bedeutungslos im Nachrichtenmeer versickern ließen. Mit solchen Beobachtungen bringt Schoch für Falcke die Schwachpunkte unserer Gegenwart zielsicher auf den Punkt. Anders als in den sozialkritischen Büchern der siebziger oder achtziger Jahre müssten aber die Anti-Helden unserer Zeit nicht mehr ihr beschädigtes Innenleben dafür in die Waagschale schmeißen, resümiert Falcke; was schief laufe, sei an der Außenwelt hinlänglich abzulesen. Schoch gelinge es bis zum Schluss, die Spannung in ihrer Geschichte zu halten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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