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Kollektiv verursachte Schäden stellen die moderne Gesellschaft in Frage. Appelle gibt es überall - aber wie lässt sich kollektive Verantwortung organisieren? Die Organisation von Verantwortung ist in der Praxis Sache des Rechts. Der Verlag schließt daher an die traditionelle juristischen Konzepte und ihre aktuellen Fortentwicklungen an. Deren handlungstheoretischer und zurechnungstheoretischer Gehalt wird an zahlreichen Beispielen herausgearbeitet und für die allgemeinere verantwortungsethische Diskussion fruchtbar gemacht.

Produktbeschreibung
Kollektiv verursachte Schäden stellen die moderne Gesellschaft in Frage. Appelle gibt es überall - aber wie lässt sich kollektive Verantwortung organisieren? Die Organisation von Verantwortung ist in der Praxis Sache des Rechts. Der Verlag schließt daher an die traditionelle juristischen Konzepte und ihre aktuellen Fortentwicklungen an. Deren handlungstheoretischer und zurechnungstheoretischer Gehalt wird an zahlreichen Beispielen herausgearbeitet und für die allgemeinere verantwortungsethische Diskussion fruchtbar gemacht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.1998

Prinzip Verantwortungslosigkeit
Weyma Lübbe widersteht der Komplexität der Welt

"Jeder ist an allem schuld, aber wenn alle das wüßten, hätten wir das Himmelreich." Daß jeder an allem schuld sei, ließe sich leicht als Selbstüberhebung der Kreatur zurückweisen. Nemo ultra posse oligatur. Indes redet der Satz, zumal mit der ruhigen, warmen Stimme von Alexander Kluge vorgetragen, nicht von Pflichten oder der Ahndung ihrer Verletzung. Er meint etwas, was schön wäre und so einfach scheint. Weyma Lübbe würdigt das, was schön wäre, keines Interesses. Sie geht vom Bestehenden aus und ist gegen die, die dagegen sind. Von Verantwortung zu reden habe nur Sinn, wenn man jemanden auch zur Verantwortung ziehen und das heißt rechtlich belangen kann.

Immer weniger geschehe von Natur aus, einfach so, immer mehr ist Folge menschlichen Tuns. Dies gilt vorzüglich, wenn wir bedenken, daß bei Entstehen einer Eingriffsmöglichkeit auch dem Nichteingreifen eine Entscheidung zugrunde liegt. Mit dem Anwachsen des Gestaltbaren aber sinkt die Risikoakzeptanz. Wo früher Gottergebenheit waltete, wird heute eine Bürgerinitiative gegründet. Die Betroffenen, und wer wäre nicht irgendwo betroffen, verlangen, daß etwas getan werde, daß man die Schuldigen dingfest mache. Und die Aufrechten unter den Betroffenen "trennen besonders gewissenhaft ihren Müll, verwenden in der Cafeteria statt des Plastikbechers mitgebrachte Gefäße, verzichten auf Wochenendtrips mit dem Flugzeug, verkaufen vielleicht gar ihr Automobil oder betreiben auf andere einschneidende Weise Konsumverzicht", um, unter Hinweis auf ihre eigene Konsequenz, dann dasselbe Verhalten von anderen zu verlangen.

Empfindet Weyma Lübbe solche Anforderungen als Zudringlichkeit, so wird sie doch geneigt sein, sie als Unfähigkeit zu entschuldigen, mit komplexen subjektlosen kulturellen Prozessen umzugehen, mit Geschehnissen, von denen wir in Wahrheit sagen müssen, keiner war es. Ihre wahren Gegner sind die professionellen Denker, die, letztlich marktorientiert, auf den wachsenden öffentlichen Zurechnungsdruck unverantwortlicherweise mit der Ausbildung von Verantwortungsethiken antworten. Wie unverantwortlich diese Verantwortungsethiken sind, sehe man an ihrer Berührungsangst gegenüber juristischen Problemen. Denn sie sei Folge der Tatsache, daß die Ethiker selbst nicht genau sagen könnten, wer angesichts schädigender Technikfolgen nun in welchem Ausmaß schuldig geworden ist und zur Verantwortung gezogen werden sollte, und wofür genau. Um so unbekümmerter ziehe man sich auf die konsequenzfreie, daher meist auch ohne Widerspruch bleibende Forderung nach weitreichenden moralischen Verantwortlichkeiten zurück und unterbiete damit das Niveau der in die Institutionen eingegangenen Vernunft - eine Praxisferne, die durch die jahrzehntelange Konzentration der Moralphilosophie auf Letztbegründungsfragen und Probleme der Metaethik noch zusätzlich verschärft werde.

Um nun eine "echte Befriedigung der Nachfrage" zu geben, wendet sich Weyma Lübbe der Frage zu, was es für die herrschende juristische Zurechnungspraxis so schwierig macht, für evidente Schäden, die evidenterweise Folgen menschlichen Verhaltens sind, mit ebensolcher Evidenz Täter zu benennen. So kundig wie klar breitet sie strafrechtliche Probleme des Notstandes, der Äquivalenz von Tun und Unterlassen, der Mit- und Nebentäterschaft aus. Indes sind weder juristische noch rechtsphilosophische Themen Gegenstand ihrer Habilitation, sondern die Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen. Und da ist dann der Leser, er bei der Einleitung eingewandt haben mochte, die Verantwortungsethiken ließen mit Fug die juristischen Probleme beiseite, da es um politische Fragen gehe, gegen Ende der Arbeit erstaunt, als Ergebnis zu finden, daß das Strafrecht bei der Ermittlung von Verantwortung mit Gründen machtlos ist und erst eine Repolitisierung der Zurechnungsstrukturen die Probleme der Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen lösen könne.

Wir haben Lübbes politischer Philosophie zufolge nicht nur ein Recht auf einen Bereich legitimer Freiheitsausübung, wir haben auch ein Interesse an der Verfügbarkeit von Schemata legitimen Handelns. Die verantwortliche Reflexion auf alle möglichen Folgen unseres Handelns machte jedes Handeln unmöglich. Angesichts einer fortschreitenden Denaturalisierung der Welt und einer fortschreitenden Verdichtung der Handlungszusammenhänge werde es zunehmend unvermeidlich sein, die Gefährlichkeit des Handelns explizit zuzugeben und seine Erlaubtheit mit der Unzumutbarkeit der Unterlassungsfolgen zu begründen. Genauer: Dem Staat wachse die Aufgabe zu, unter Anhörung der Experten in Abwägung der Interessen die Grenzen des erlaubten Risikos festzusetzen, um innerhalb dieser Grenzen dem Individuum seine Freiheit zu sichern.

Hätte die Autorin, da es zumal in Fragen des Umweltschutzes selbstverständlich primär um Gesetze und Verordnungen geht, mit der Diskussion der strafrechtlich relevanten individuellen Zurechnung ihre Gegner nicht nur bei ihrem schwächsten Punkt angegriffen, sondern bei einem Punkt, über den diese ausdrücklich gar nicht reden? Nun, nicht ganz. Weyma Lübbe übernimmt bis in die Wortwahl hinein identifikatorisch die Gesellschaftsanalyse von Hermann Lübbe. Wie dort geht es auch hier darum, gegen die Nörgler die Vernünftigkeit des Weltlaufs zu erweisen (Wird nicht die Gesamtschadensmenge immer niedriger? Wissen wir denn bei technischen Risiken, ob nicht eher Günstiges folgt?) und denen, die noch nicht dagegen sind, das Bewußtsein ihres Rechts ("Unzumutbar ist es, um unbekannter Folgen willen auf bekannte Güter zu verzichten.") und das gute Gewissen zu stützen. "Die wichtigste universale, also von jedermann zu erbringende moralische Leistung, um die es sich konkret handelt, wenn die Bürger abstrakt zur Bewahrung der Schöpfung aufgerufen werden, ist die Bereitschaft zur Akzeptanz der mit politischen Eingriffen unvermeidlich verbundenen Ungleichheit in der Verteilung der Lasten", zum Beispiel die größere Nähe zu einem Kernkraftwerk, das nun einmal irgendwo stehen muß.

Verpanzert wie neuere Luxuslimousinen kommt dieser Konservatismus daher. Wobei sich denn freilich die Wahrheit eines Wortes erweist, das Hegel für die Religion geprägt hatte: Sobald sie anfängt, sich zu verteidigen, ist sie schon verloren. Im allerletzten Absatz blinkt der Dolch des Vatermordes. Das Hineinwirken vieler - und sei es permanent gemeinwohlorientierter - Steuerungssubjekte zeitige große Reibungsverluste. Angesichts dessen habe die Vorstellung eines über den Institutionen schwebenden Entscheidungspunktes immer eine gewisse Attraktivität gehabt. Nur hebe die Aufhebung begrenzter Zuständigkeit nicht auch die Begrenztheit der Kenntnisse auf. Auch gehe (das hat Hermann Lübbe, so kann man ergänzen, versäumt, am Sozialismus zu lernen) mit der Organisierung von Verantwortung die Organisierung der Unzuständigkeit einher.

Mit solchen Konzessionen aber ist alles verloren. Wenn, wie Weyma Lübbe ausführt, die Experten genauso streiten wie die Laien und die Politiker ebenso die Verantwortung scheuen, brauchen wir genau die öffentliche Debatte über das, was man tun oder lassen sollte, die die Verantwortungsethiker betreiben oder einklagen. In der Tat werden in dieser Debatte die Schemata legitimen Handelns ermittelt, deren Unabdingbarkeit Weyma Lübbe begründet. Bei aller Sympathie, die man für die Kritik an den selbstgerechten und politikvergessenen Moralisierern haben mag, die ethischen Debatten geben auch das Fundament, auf dem die politischen Entscheidungen gefällt werden. Und daß ich überhaupt nicht einsehe, warum ich meine eigene Tasse mitbringen soll, obwohl Plastikbecher staatlich nicht verboten sind, ist eine Haltung, die von aller Komplexität nichts wissen will. GUSTAV FALKE

Weyma Lübbe: "Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen". Alber Verlag, Freiburg 1998. 215 S., geb., 68,- DM.

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