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Im Zuge der vor einigen Jahren wieder entbrannten Diskussion um die Willensfreiheit wird oft befürchtet, Verantwortung wäre unmöglich, wenn es keinen freien Willen gäbe. Dabei bleibt in der Regel jedoch ungeklärt, was es eigentlich bedeutet, verantwortlich zu sein. Hier versucht das Buch mit einer Analyse der Konzepte individueller Verantwortung Abhilfe zu schaffen. Es stellt sich heraus, dass nicht die Zuschreibung von Verantwortung, wohl aber die Zurechnung von Schuld von der Unmöglichkeit eines im anspruchsvollen Sinne freien Willens betroffen ist. Mit der Begründbarkeit von Schuld fällt…mehr

Produktbeschreibung
Im Zuge der vor einigen Jahren wieder entbrannten Diskussion um die Willensfreiheit wird oft befürchtet, Verantwortung wäre unmöglich, wenn es keinen freien Willen gäbe. Dabei bleibt in der Regel jedoch ungeklärt, was es eigentlich bedeutet, verantwortlich zu sein. Hier versucht das Buch mit einer Analyse der Konzepte individueller Verantwortung Abhilfe zu schaffen. Es stellt sich heraus, dass nicht die Zuschreibung von Verantwortung, wohl aber die Zurechnung von Schuld von der Unmöglichkeit eines im anspruchsvollen Sinne freien Willens betroffen ist. Mit der Begründbarkeit von Schuld fällt auch die Möglichkeit, Strafe zu rechtfertigen. Weil sich aber jede Gesellschaft vor Normverletzungen schützen muss, wird eine Theorie der Verantwortungsintervention entwickelt, die dem Charakter nach konsequenzialistisch und im Detail aus der Notwehr abgeleitet ist. Auf dem Weg zu dieser Lösung bietet das Buch sowohl eine ausführliche Untersuchung des Verantwortungsbegriffs als auch einen Überblick über die wichtigsten Theorien der Strafrechtfertigung sowie die der Willensfreiheit. Überdies zeigt sich einmal mehr, dass die Erkenntnisse der Hirnforschung dem, was in der Philosophie seit Jahrhunderten gegen die Willensfreiheit vorgebracht wird, nichts wesentlich Neues hinzufügt.
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Autorenporträt
Marco Stier, geb. 1966, Studium der Philosophie und Geschichte in Rostock, gegenwärtig wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster und Dozent am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin ebendort. Forschungsschwerpunkte: Bioethik, Medizinethik, Neuroethik, Willensfreiheit und Verantwortung
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Lassen wir uns die staatsnotwendige Fiktion nicht abhandeln!

Vermintes Gebiet in der Jurisprudenz: Marco Stier möchte Verantwortung und Strafe retten, ohne länger an der Möglichkeit menschlicher Freiheit festhalten zu müssen. Kann das gutgehen?

Das Gelände, auf dem Marco Stier sich bewegt, ist Erdbebengebiet. Wir haben das schon öfters mitbekommen: Nach langen Phasen ungestörter und allgemein verbreiteter Überzeugung von unser aller Freiheit und folglich unangefochtener Zuschreibung oder auch nur Feststellung von Verantwortlichkeit in Alltag und Recht brechen immer wieder, und zwar von heute auf morgen, solche selbstverständlichen Annahmen zusammen, verschieben sich Sicherheiten und stürzen Institutionen ein. Theoretisch jedenfalls.

Praktisch freilich müssen die Zurechnungsapparate im Amtsgericht, in der Personalabteilung, im Kindergarten und in der Nachbarschaft bei aller theoretischen Erschütterung weiterhin funktionieren. Man kann den geständigen Raser auf der Autobahn, der einen anderen zu Tode gebracht hat, nicht einfach nach Hause schicken, weil ein Professor nicht mehr an Freiheit glaubt und deshalb die staatliche Strafe systemisch zermalmt. Und Kinder müssen auch morgen noch lernen, dass das zufällige Anschubsen eines anderen nicht so schlimm ist wie der mit Bedacht angebrachte Nasenstüber.

Theoretisch jedoch wird der Freiheit alle paar Jahrzehnte der Marsch geblasen. Da werden an der Wende zum 20. Jahrhundert in Italien "geborene Verbrecher" entdeckt und - vor allem in Strafanstalten - identifiziert, denen man ihren Geburtsschaden ja kaum vorwerfen kann. Also: Schluss mit Schuld und Strafe? Und einige Jahrzehnte später sind - vor allem deutsche - Staats- und Gesellschaftskritiker fest davon überzeugt, wir müssten alle Strafen einschließlich des Strafrechts sofort abschaffen und uns auf sichernde Maßregeln beschränken, weil es Freiheit als Voraussetzung von Bestrafung nun einmal nicht gebe. Also: Gewaltsame Sicherungsverwahrung darf wohl sein - bei "Gefährdern". Und in unseren Tagen verkünden Neurobiologen weltweit, autonome Entscheidung sei ein frommer Wunsch, und das lasse sich wissenschaftlich auch zeigen.

Also? Man weiß nicht so recht, was daraus folgen soll. Derweil zieht die Karawane von Zurechnung und Bestrafung im staatlichen, sozialen und persönlichen Alltag ruhig weiter. Es herrscht, mit anderen Worten, ein Drunter und Drüber folgenloser Theorie und ungerührter Praxis. Dabei wäre dieses Verhältnis von Theorie und Praxis ein würdiger Gegenstand anspruchsvoller Theorie: Dass wir seit Menschengedenken unsere Welt über die wechselseitige Zuschreibung von Verantwortlichkeit ordnen, dass wir - vom Gerichtssaal über die Schule bis zum gemeinsamen Schlafzimmer - bei der Verletzung eines anderen nicht nur nach der objektiven Schwere der Verletzung, sondern auch nach der Intensität des persönlichen Dafürkönnens urteilen, vom Vorsatz bis zur Fahrlässigkeit, dass wir also nicht nur nach dem angerichteten Schaden, sondern auch nach der anrichtenden Person fragen und diese im Zweifel für verantwortlich halten: Ist das vor einer kritischen Theorie von Freiheit, Schuld und Strafe alles Verblendung, oder hat diese Praxis einen tieferen Sinn, vielleicht sogar einen Grund oder ein Recht?

Ist, anders gefragt, die Wirklichkeit der alltäglichen Zuschreibung von Verantwortlichkeit schlicht taub gegenüber theoretischer Erkenntnis, die doch - wie die aktuellen Forschungsergebnisse der Neurobiologen - unmittelbar sie betrifft, oder weiß sie das alles aus guten Gründen besser? Will man den Sinn dieser Praxis theoretisch erschließen, so braucht man freilich eine Wissenschaft, die mehr ist als eine "Naturwissenschaft" im engen Sinn: Man braucht eine Wissenschaft, die ihrerseits ein offenes Ohr für das Soziale und das Normative hat, für die Regeln unseres Umgangs miteinander, und nicht nur für den Körper und das Hirn; aber so weit greift Marco Stier nicht aus.

"Verantwortung und Strafe ohne Freiheit", verspricht er. Ist das der ersehnte Ausweg oder nur ein billiger Umweg, der den neurowissenschaftlichen Kritikern die Freiheitsidee opfert, dafür aber auf Verantwortlichkeit besteht und so das Recht zu strafen rettet? Sind freiheitskritische Theorie und strafende Praxis bei Marco Stier jetzt versöhnt, oder hat sich die Praxis am Ende einfach nur als robuster erwiesen? Bleibt Willensfreiheit, egal ob man sie nun wissenschaftlich begründen kann oder nicht, jedenfalls eine "staatsnotwendige Fiktion", wie es der Strafrechtler Eduard Kohlrausch 1910 bärbeißig und hellsichtig formuliert hat und Stier das am Rande notiert, ist also der Ausschluss menschlicher Freiheit ein Fall von Palmströms Gesetz, wonach nicht sein kann, was nicht sein darf?

Schwer zu sagen. Sicher ist, dass Stier sich nicht allein durch die aktuellen Ergebnisse der Neurowissenschaften aus dem Paradies der Willensfreiheit hat vertreiben lassen. Deren Einsichten hält er aus guten Gründen nicht für die Torpedos, wie sie noch in jüngster Zeit auf die Konzepte von Schuld und Strafe abgefeuert worden sind. Er arbeitet an konkreten Einzelheiten mit Umsicht, Genauigkeit und Scharfsinn heraus, dass die Neurowissenschaften im Bereich von Verantwortung und Strafe eher Kollateralschäden angerichtet denn Volltreffer gelandet haben, dass theoretisch unbegründbare Freiheitserwartungen nachhaltiger von anderen wissenschaftlichen Konzepten und Ergebnissen erledigt worden sind, insbesondere von der analytischen Philosophie.

Ob freilich damit die Fundamente von Zurechnung und Verantwortlichkeit in einer Gesellschaft neu oder gar besser begründet worden sind, die nach ihrem Selbstverständnis von der wechselseitigen Anerkennung der Menschen lebt, lässt sich nicht absehen und ist eher zweifelhaft. Denn auf diese Perspektive unserer aktuellen philosophischen und soziologischen Debatten lässt der Autor sich nicht ein. Er arbeitet konzentriert und ohne aufzublicken an der Rekonstruktion einer analytischen Philosophie, die weniger an einer Erkundung der Welt interessiert ist als an der Vollständigkeit und Abgrenzbarkeit ihrer Begriffe von dieser Welt. In einem solchen wissenschaftlichen Kontext hat Kant keine Chance gegen Robert Kane und Hegel keine gegen Ted Honderich. Ertrag sind ein weites und wohlgeordnetes Feld von Einteilungen der angloamerikanischen Argumente und Haltungen sowie das erschöpfte Zugeständnis des Lesers, das werde schon irgendwie richtig sein.

Das ist angesichts wissenschaftlicher Freiheit so in Ordnung und erweitert den mitteleuropäischen Horizont, aber am Ende ist es doch nicht gerade ein Fortschritt in der Sache. Mit den Einzelheiten unserer Freiheitsphilosophie entgehen dem Autor anspruchsvolle Begründungen, mit denen er hätte arbeiten und tiefer bohren können - etwa die Warnung vor einer Instrumentalisierung des Verurteilten durch eine präventiv gemeinte Beeindruckung der anderen durch Strafausspruch und Strafvollzug oder die ausgearbeitete Vorstellung, Strafe könne und solle der im Verbrechen verletzten Norm wieder aufhelfen, und darin liege ihre Rechtfertigung. Und nebenbei führt diese Haltung unweigerlich dazu, dass der Autor das Rad immer wieder neu erfinden muss - und nicht immer zu dessen Vorteil.

Am Ende der analytischen Einteilungen zeigt sich, dass eine tragfähige Basis individueller Verantwortung als Voraussetzung staatlicher Strafe nicht zur Hand ist. Das liegt auch an der Regie des Autors, der mit einer sensiblen Betrachtung von "Alltagsintuitionen" zwar die Tür öffnet zu der Frage, ob unsere alltägliche Praxis von Zurechnung und Strafe nicht nur einen Sinn, sondern vielleicht sogar einen Grund und ein Recht hat, so zu sein, wie sie ist - der diese Tür aber alsbald wieder schließt, das Ganze zu einem Exkurs herabstuft und es dann liegenlässt. Stattdessen sucht er das Heil dort, wo es nun wirklich nicht zu finden ist: in der Deutung und Rechtfertigung der staatlichen Strafe als "gesellschaftliche Notwehr". Dieser Schritt ist seinen Preis bei weitem nicht wert. Er zwingt zu absurden Zugeständnissen und führt in die Irre.

Notwehr gehört zum eisernen Bestand eines jeden Strafrechts. Das Gesetz verleiht dem Einzelnen ein Abwehrrecht gegen den rechtswidrigen Angriff eines anderen in Situationen, in denen ihm der schützende und strafende Staat, aus welchen Gründen immer, nicht helfen kann. Gäbe es diese Institution nicht, würde sie stante pede erfunden: Jeder, der kann, würde sich selbstverständlich das Recht nehmen, sich gegen den frechen Angriff zu verteidigen, und wir alle würden ihm beipflichten und vielleicht sogar beistehen. Das Recht auf Notwehr erlaubt uns allen, in der klaren Sprache des Gesetzes, die "erforderliche" Verteidigung gegen einen "gegenwärtigen" und "rechtswidrigen" Angriff.

Wer aus der Not der Begründung daraus ein Recht des Staates auf Bestrafung des Verbrechers auch nur plausibel machen will, gerät ins Ungefähre. Gewiss wehrt sich der strafende Staat auch gegen einen rechtswidrigen Angriff; aber damit sind die Ähnlichkeiten schon verbraucht. Das zentrale, weil einschränkende Moment der Gegenwärtigkeit im Notwehrrecht muss der Staat für sich nicht gelten lassen, das wäre das Ende einer Strafrechtspflege. "Verbrechen" auf "Angriff" zu reduzieren, verfehlt die Kategorie "Straftaten" und verdankt sich der umstandslosen Übertragung eines dem Individuum gewährten Rechts auf eine staatliche Pflicht. Vor allem aber verdunkelt die Verschränkung des strafenden Staats und des angegriffenen Opfers all das, was nicht beim Opfer, wohl aber beim Staat einen Sinn ergibt, was die Rechtsstaatlichkeit der Strafe ausmacht und woran wir hierzulande seit langem arbeiten: Verhältnismäßigkeit der strafenden Reaktion, Personenorientierung der Rechtsfolge, Menschenrechtsfreundlichkeit der Strafverfahren, Rationalität und Langfristigkeit der Kriminalpolitik.

Das letzte Kapitel versöhnt. Hier legt Marco Stier die Brille der analytischen Einteilerei beiseite und lässt den Blick frei für die Schwierigkeiten, die unser Leben bestimmen könnten, nachdem das Geschenk des freien Willens sich als Mogelpackung erwiesen hat. Er selbst glaubt am Ende an solche Probleme nicht und meint: "Determinismus macht glücklich." Das hat er zuvor warm beleuchtet an Lebens-Mitteln wie Entscheiden und Planen, Hoffen und Streben, Lieben und Danken, Loben und Preisen, Verstehen und Verzeihen, Einsicht und Gelassenheit und abschließend am "Sinn des Lebens". Es wäre hilfreich, würde sich dieser Trost so einsichtig ableiten lassen wie das, was ihm vorangegangen ist.

WINFRIED HASSEMER.

Marco Stier: "Verantwortung und Strafe ohne Freiheit".

Mentis Verlag, Paderborn 2011. 306 S., br., 36,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Nein, nein, so geht?s nicht, meint Winfried Hassemer etwas weitschweifig angesichts einer Arbeit von Marco Stier, die sich ausgehend von deterministischen Vorstellungen an Begrifflichkeiten, wie Freiheit, Verantwortung, Recht und Strafe abarbeitet. Dem Rezensenten ist das zu begriffsanalytisch konzentriert, um nicht zu sagen autistisch. Ein bisschen mehr Interesse für die Einzelheiten der Freiheitsphilosophie, bittesehr, und vor allem an der Welt als alltägliche Praxis, so wie es der Autor im letzten Kapitel denn auch vormacht. Das wäre schön gewesen, damit Hassemer nicht nur ungefähr und mehr erschöpft denn überzeugt sein Okay hätte geben können.

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