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Fünf weltberühmte Wissenschaftler decken vergessene Aspekte der Wissenschaftsgeschichte auf, Aspekte, die einmal bekannt waren, dann verdrängt wurden, bis sie schließlich als anerkannte Grundlagen der Wissenschaft wiederkehrten.

Produktbeschreibung
Fünf weltberühmte Wissenschaftler decken vergessene Aspekte der Wissenschaftsgeschichte auf, Aspekte, die einmal bekannt waren, dann verdrängt wurden, bis sie schließlich als anerkannte Grundlagen der Wissenschaft wiederkehrten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996

Descartes gab es zweimal
Oliver Sacks und andere Archäologen des Wissens entdecken verborgene und altbekannte Geschichten der Wissenschaft

Der berühmte und vielgeschmähte, also der berüchtigte Descartes hatte nicht nur einen Hund namens "Monsieur Grat", sondern auch einen Namensvetter, von dem bis heute nur bekannt ist, daß er zwei Traktate geschrieben hat. Der eine behandelt das Problem der Quantität. Der andere erschien 1667 in Paris. Darin hielt der Gelehrte, dessen Vorname verblüffenderweise auch mit einem "R" beginnt, auf 242 engbedruckten Seiten Gericht über den Aberwitz der Astrologie. Weitere Nachforschungen über diesen Descartes II, den Gaston Bachelard um 1937 in Dijon entdeckte, verliefen bis heute im Sand.

Descartes II scheint die Theorien des unvergessenen Descartes I nicht gekannt zu haben, obgleich ihm genausoviel daran lag wie diesem, der Mär vom Einfluß der Gestirne auf den Menschen und anderen Vorurteilen mit bloßer Verstandeskraft den Garaus zu machen. Gewichtet man Vorgehensweise, Denkstringenz und Erklärungsgeschick der beiden Autoren, kann man Descartes II getrost im Verborgenen belassen, wohin ihn vielleicht schon seine Zeitgenossen abgeschoben haben.

Wie soll man es dagegen mit Monsieur Grat halten? Der Hund des Descartes I war hundemäßig allem Anschein nach ein ganz gewöhnliches Tier. Trotzdem vermochte er seinem Herrchen einige Reflexionen zu entlocken, mit denen der Gelehrte eine Berichtigung seiner Lehre, Tiere seien nichts als Automaten ohne Leidenschaften, andeutet. Die Tatsache, daß der späte Descartes I mit seiner Sicht vom animalischen Leben auf den Hund kam, blieb allerdings den offiziellen Exegeten verborgen. Sonst hätte R. C. Lewontin in seinem Beitrag zu dem Band über verborgene Geschichten der Wissenschaft wohl nicht die für langweilige Korrektheit bürgende Automaten-Interpretation erneut aufgelegt, die dem Stand der Dinge bei Descartes I und Monsieur Grat nur zu zwei Dritteln entspricht.

Ausgewogen war das Verhältnis zwischen erfolglosen Anläufen und überdauernden Innovationen in der Wissenschaft noch nie. Und dies aus leicht durchschaubaren Gründen: Wer forscht, findet zumeist nicht auf Anhieb den Königsweg zur Erkenntnis. Deshalb wimmelt es in der Geschichte der Wissenschaft von verborgenen Geschichten. Aber nicht jede dieser Geschichten ist narrationswürdig, wie das Beispiel des Descartes II zeigt. Und nicht jede verschriftungswürdige Episode ist schon deshalb ein Gewinn für das Wissenschaftsgedächtnis, weil darüber berichtet wird - immerhin sollte die Narration des Verborgenen so betrieben werden, daß Vergegenwärtigung und Aufklärung auch materiell aufeinander reimen.

Dem von Robert B. Silvers herausgegebenen Buch liegt eine von der New York Public Library veranstaltete Vorlesungsreihe zugrunde, in der das "Problem vergessener und ignorierter Entdeckungen in der Wissenschaftsgeschichte" behandelt wurde. Zu Wort kam Jonathan Miller mit einem Vortrag über die Entdeckung des Unbewußten in der Zeit vor der Begründung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud; Stephen Jay Gould brillierte mit einer Analyse der Verführung evolutionären Denkens durch Versinnbildlichungen der Naturgeschichte; Daniel Kevles ging den Spuren jener Forscher nach, die seit etwa 1910 die Auslösung bestimmter Krebsarten durch Viren angenommen und experimentell nachzuweisen versucht hatten. Der schon erwähnte Lewontin machte das Publikum mit einer Version der Naturgeschichte als Koevolution von Organismen und Umwelten vertraut; schließlich unternahm Oliver Sacks den Versuch, aus den verkannten Entdeckungen vor allem im Bereich der Neurowissenschaften ein konstantes Muster herauszufiltern und den Prozeß der Verkennung mit einer Mischung aus Zufall und Notwendigkeit zu erklären.

Doch das im Vorwort gemachte Versprechen, daß die dargestellten "wissenschaftlichen Endeckungen mit ihrem jeweiligen historischen Hintergrund und ihren gesellschaftlichen Folgen" verknüpft würden, erweist sich als schal. Da erschließt beispielsweise Miller die am Vorabend der Französischen Revolution in Paris zur Mode gewordene Therapie durch den sogenannten tierischen Magnetismus. Dessen Erfinder, Franz Anton Mesmer, hatte behauptet, er könne eine von ihm entdeckte Kraft - ebenjenen Magnetismus - bündeln, auf Kranke übertragen und so die Heilung von allerlei Leiden herbeiführen. Miller berichtet nun, daß die von der Akademie der Wissenschaften zu Paris mit einer Untersuchung beauftragte Kommission "zu den aus wissenschaftlicher Sicht verheerendsten Schlußfolgerungen" gelangt sei: Die Kommissare hätten hervorgehoben, "daß weder die Trancen noch die Kuren irgend etwas mit Magnetismus zu tun hätten, sondern auf einer Wirkung beruhten, die man heute als Placeboeffekt bezeichnen würde".

In Wirklichkeit hatten die Kommissare lediglich die Existenz der von Mesmer postulierten Kraft zu untersuchen und nicht die Güte seiner Magnetotherapie. In Wirklichkeit wurde das Ergebnis geheimgehalten, da lediglich eine knappe Mehrheit der Kommissare von der Inexistenz des tierischen Magnetismus überzeugt war, so daß der zur Veröffentlichung freigegebene Bericht aus politischen Gründen geschönt war. In Wirklichkeit führten die Kommissare ihre Experimente nicht geräuschlos mit magnetisch undurchlässigen Schirmen durch, wie Miller schreibt, vielmehr variierten sie mit System die den Versuchspersonen zugespielten Informationen, um die psychische Ursache des Phänomens - die Suggestion - von der physischen auseinanderzuhalten. Und in Wirklichkeit ist diese Episode seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch schon mehrfach geschildert worden. Verborgen war sie lediglich einem Autor, der auszog, um Amerika wiederzuentdecken, und nebenbei nicht einmal bemerkt hat, wie brisant das Thema der unbewußten Hirntätigkeit für jede politische Theorie sein kann, die mit dem Begriff des Bürgers als autonomem Bewußtseinssubjekt operiert.

Keiner der Autoren hat sich übrigens um Klarheit darüber bemüht, für wen welche Entdeckungen (noch) verborgen sein könnten und nach welchen Maßstäben vergangene Entdeckungen, gleichgültig, ob sie wissenschaftliche Eintagsfliegen waren oder inzwischen in das Lehrbuchwissen aufgenommen wurden, zu beurteilen wären. So verläßt man das zwischen zwei Buchdeckeln gebaute Minipanoptikum der Wissenschaftsgeschichte nach fünf Kapiteln mit gespaltenem Eindruck. Einige Bilder sind gestochen scharf geraten (für Klarheit haben in diesem Falle Gould und Kevles gesorgt), während die übrigen schlecht gefertigten Blaupausen gleichen, die der Übersichtlichkeit über die diachron betrachteten Wissenschaften nicht förderlich sind. ALEXANDRE MÉTRAUX

Oliver Sacks / Jonathan Miller / Stephen Jay Gould / Daniel J. Kevles / R. C. Lewontin: "Verborgene Geschichten der Wissenschaft". Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht, Barbara Schaden und Sebastian Vogel. Berlin Verlag, Berlin 1996. 189 S., geb., 36,- Mark.

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