Dieter Wellershoff hat mit seinem vielgestaltigen (facettenreichen) Werk die deutsche Literatur entscheidend mitgeprägt. In seinen großen Romanen, den Erzählungen, Hörspielen, Drehbüchern und Gedichten war er ein ebenso genauer wie leidenschaftlicher Beobachter seiner Zeit, mit seinen scharfsichtigen Essays öffnete er der Literatur- und Kunsttheorie neue Horizonte. Dieses Buch versammelt autobiographische Texte, Aufsätze, Briefe und Fotos, die großenteils bislang unpubliziert sind und aus dem Nachlass mitgeteilt werden. Entlang der Stationen von Wellershoffs Leben öffnen sich Einblicke in die künstlerische Entwicklung des Autors, der die existentiellen Empfindungen des modernen Menschen, seine Sinnsuche und sein Scheitern, auf unverwechselbare Art dargestellt hat. Ein Lesebuch, das anregt zum Entdecken und Weiterlesen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus preist den von Werner Jung aus dem Nachlass herausgegebenen Band mit Briefen, Fotos und Prosa von Dieter Wellershoff. Sichtbar wird für den Rezensenten das Kleine als "Keimzelle des großen Werks", aber auch, wie nah beieinander bei Wellershoff Autobiografisches und Poetisches liegen. Die Chronologie der Texte macht es ihm möglich, dem Lebens- und Schaffensweg dieses Schriftstellers zu folgen. Ein Lesebuch, das den Kosmos Wellershoff zu erschließen hilft, meint Platthaus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2022Das Private ist publizistisch
"Neuen Realismus" nannte Dieter Wellershoff seine Form fiktionalen Erzählens: Ein aus dem Nachlass des Schriftstellers schöpfendes Lesebuch zeigt das Abgründige daran
Der Rang eines lebenden Schriftstellers wurde im deutschsprachigen Verlagswesen jahrzehntelang durch Werkausgaben dokumentiert. Diese Zeiten sind vorbei, heute darf man kaum noch bei toten Klassikern damit rechnen - aktuelle Ausnahmen wie die Werkausgaben von Ingeborg Bachmann oder Uwe Johnson bestätigen die Regel. Damit war Dieter Wellershoff (1925 bis 2018) diese publizistische Bedeutungsbestätigung wohl als einem der letzten Lebenden vergönnt: 1996 erschienen die ersten sechs, 2011 dann noch einmal drei weitere Bände beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, der damit auch eine Dankesschuld bei dem Mann abstattete, der das gesamte Programm des Hauses als Lektor für Wissenschaft und deutschsprachige Literatur von 1959 bis 1981 entscheidend geprägt hat. Ein Name der von Wellershoff betreuten Kollegen mag genügen, um den Erfolg dieses Schaffensaspekts klarzumachen: Heinrich Böll, der 1972 den Literaturnobelpreis erhielt. Ein Triumph auch für jene Stilistik, die Wellershoff programmatisch förderte und selbst betrieb.
"Neuen Realismus" hatte er sie genannt, womit er sich gegen die erste erfolgreiche Neupositionierung der deutschen Nachkriegsliteratur durch dem Grotesken oder der Collage verpflichtete Autoren wie Günter Grass oder Helmut Heißenbüttel wandte. In den sechziger Jahren wurde das am französischen Vorbild des Nouveau Roman geschulte, aber auf dessen Manierismen verzichtende Erzählverständnis des Neuen Realismus wichtig sowohl für Schriftsteller als auch Publikum aus Wellershoffs Generation, die illusionslos aus dem Krieg gekommen war, aber dem Pathos des "Nie wieder" nicht recht trauen mochte. Im psychologisierenden Porträt, in akribischer Beschreibungsgenauigkeit des Alltags fand sie eine literarische Methode, die der empfundenen Entwertung der großen Gesellschaftsentwürfe gerecht zu werden schien. Und Dieter Wellershoff mit seinem geradezu sezierenden Blick auf Paarbeziehungen war seit dem Romandebüt "Ein schöner Tag" von 1966 der archetypische Repräsentant dieser Methode.
Auch deshalb, weil sich in seiner Prosa so viel Autobiographisches versteckte. Ein tieferes Verständnis dieses Schriftstellers verlangt geradezu nach Engführung von fiktionalem Werk und privatem Leben. Deshalb ist der gerade erschienene Band "Verborgene Texte des Lebens" gar nicht hoch genug zu bewerten. Werner Jung, seinerzeit schon entscheidend beteiligt an der Werkausgabe, hat ihn aus dem Nachlass des Schriftstellers zusammengestellt, und so kann man erstmals eine größere Zahl von dessen Briefen, aber auch etliche Konzepte zu nicht oder dann anders ausgeführten Prosawerken lesen, die ungeschminkt Auskunft geben über Wellershoffs Arbeitsweise. Wobei es dem Nachwort seiner älteren Tochter Irene überlassen bleibt, zwei in deren Bedeutung zentrale biographische Fakten nachzureichen: dass Wellershoff, wie so viele Protagonisten seines Erzählens, dauerhaft zwischen der Gattin und einer Geliebten hin- und hergerissen war und dass Maria Wellershoff gerade in der Anfangszeit der Ehe Mitwirkende seiner publizistischen Tätigkeit gewesen ist - namentlich 1961 bei den von ihrem Mann herausgegebenen postumen "Gesammelten Werken" von Gottfried Benn. Die Würdigung dieser philologischen Mitarbeit von Maria Wellershoff wurde durch Benns Witwe verhindert, die keine Beteiligung einer Frau an dieser Ausgabe dokumentiert sehen wollte. Aber auch Dieter Wellershoff hat darüber später nicht gesprochen.
Wer ihn in seinen letzten Jahren noch kennengelernt hat, der wird sich an einen vollendeten Gentleman und geistsprühenden Gesprächspartner erinnern, der in geradezu symbiotischer Beziehung mit seiner Frau zu stehen schien. Das psychologisch Abgründige seiner Bücher, auch deren manische Beschäftigung mit Fragen ehelicher Treue und außerehelicher Enttäuschung (was in den Entwürfen noch deutlicher wird als im letztlich Publizierten), hatte indes seine Basis im eigenen Dasein, und umso schwerer wiegt der Verlust eines beträchtlichen Teiles der Wellershoff'schen Korrespondenzen beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs im Jahr 2009, wohin der Schriftsteller seinen Vorlass gegeben hatte. Was an Lebenszeugnissen übrig blieb, das liegt überwiegend immer noch in jener Wohnung in Köln, die die Wellerhoffs mehr als ein Vierteljahrhundert lang bewohnten; Maria Wellershoff noch bis zu ihrem Tod im März vergangenen Jahres. Die Herausgabe dieses Nachlassbandes wäre zu ihren Lebzeiten schwer vorstellbar gewesen.
Ausgewiesen ist er als "Lesebuch", denn neben dem reichen unveröffentlichten Material und zahlreichen Fotos aus dem Familienarchiv haben auch Teile von Wellershoffs publizierten autobiographischen Texten Aufnahme gefunden. Sie waren zu einem immer wichtigeren Teil seines Schaffens geworden, und die letzte Neuveröffentlichung zu Lebzeiten war die mit achtundachtzig Jahren noch aufgenommene und als CDs erschienene mündliche Erzählung "Ans Ende kommen" übers eigene Altern und Sterben - Schlusspunkt eines Werks, das von Beginn an im Schatten des Todes stand, wie man den immer wieder auftauchenden existenzialistischen Reminiszenzen an die Kriegserlebnisse des jungen Soldaten entnehmen kann.
Das literarische Kunstwerk, so hatte Wellershoff schon 1959 gegenüber einem Korrespondenzpartner festgestellt, sei "die totale Existenzaussage". Gemünzt war das noch auf Benn, aber der damals gerade als Hörspielautor hervorgetretene Wellershoff sprach bereits für sich selbst. Sein drittes Hörspiel über einen jungen Mann, der seine Freundin zu einer Abtreibung drängt, war auf Bedenken beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk gestoßen; man wünschte sich dort eine Entscheidung fürs Leben des Kindes, doch Wellershoff konnte sie nicht liefern, weil auch dieser Stoff autobiographisch war. Totale Existenzaussage meinte eben auch unbedingte Wahrhaftigkeit in dem, was das Kunstwerk über den Künstler erzählt - inklusive seiner Moral. Im Lesebuch finden sich Hunderte von Seiten auseinander eine Briefstelle, in der Wellershoff vom Schaudern beim Zertreten eines Katzenkopfes berichtet, mit dem er das Leiden eines angefahrenen Tieres beendete, und ein Erzählungsentwurf, in dem ein solches Töten von Katzen zum Ausweis eines dubiosen Charakters wird.
Werner Jung hat seine Zusammenstellung streng chronologisch angeordnet. In den Entwicklungslinien des Lebens wird so der poetische Weg von Dieter Wellershoff deutlich. Der immer auch ein poetologischer war, denn dieser Schriftsteller hat nimmermüde über sein Schreiben Rechenschaft abgelegt. Allerdings auf eine Weise, dass es oft nur für ihn selbst erkennbar war. Jetzt aber können wir aus den vielen verstreuten Hinweisen, die er gab, ein Programm zusammenpuzzeln, das Wellershoff mehr literarische Größe gibt, als sie ihm ohnehin schon zugebilligt wurde. Weil nun auch das Kleine - das klein Gedachte und das Kleinkarierte - als Keimzelle eines großen Werks sichtbar wird. ANDREAS PLATTHAUS
Werner Jung (Hrsg.): "Verborgene Texte des Lebens". Dieter Wellershoff - ein Lesebuch.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022. 350 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Neuen Realismus" nannte Dieter Wellershoff seine Form fiktionalen Erzählens: Ein aus dem Nachlass des Schriftstellers schöpfendes Lesebuch zeigt das Abgründige daran
Der Rang eines lebenden Schriftstellers wurde im deutschsprachigen Verlagswesen jahrzehntelang durch Werkausgaben dokumentiert. Diese Zeiten sind vorbei, heute darf man kaum noch bei toten Klassikern damit rechnen - aktuelle Ausnahmen wie die Werkausgaben von Ingeborg Bachmann oder Uwe Johnson bestätigen die Regel. Damit war Dieter Wellershoff (1925 bis 2018) diese publizistische Bedeutungsbestätigung wohl als einem der letzten Lebenden vergönnt: 1996 erschienen die ersten sechs, 2011 dann noch einmal drei weitere Bände beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, der damit auch eine Dankesschuld bei dem Mann abstattete, der das gesamte Programm des Hauses als Lektor für Wissenschaft und deutschsprachige Literatur von 1959 bis 1981 entscheidend geprägt hat. Ein Name der von Wellershoff betreuten Kollegen mag genügen, um den Erfolg dieses Schaffensaspekts klarzumachen: Heinrich Böll, der 1972 den Literaturnobelpreis erhielt. Ein Triumph auch für jene Stilistik, die Wellershoff programmatisch förderte und selbst betrieb.
"Neuen Realismus" hatte er sie genannt, womit er sich gegen die erste erfolgreiche Neupositionierung der deutschen Nachkriegsliteratur durch dem Grotesken oder der Collage verpflichtete Autoren wie Günter Grass oder Helmut Heißenbüttel wandte. In den sechziger Jahren wurde das am französischen Vorbild des Nouveau Roman geschulte, aber auf dessen Manierismen verzichtende Erzählverständnis des Neuen Realismus wichtig sowohl für Schriftsteller als auch Publikum aus Wellershoffs Generation, die illusionslos aus dem Krieg gekommen war, aber dem Pathos des "Nie wieder" nicht recht trauen mochte. Im psychologisierenden Porträt, in akribischer Beschreibungsgenauigkeit des Alltags fand sie eine literarische Methode, die der empfundenen Entwertung der großen Gesellschaftsentwürfe gerecht zu werden schien. Und Dieter Wellershoff mit seinem geradezu sezierenden Blick auf Paarbeziehungen war seit dem Romandebüt "Ein schöner Tag" von 1966 der archetypische Repräsentant dieser Methode.
Auch deshalb, weil sich in seiner Prosa so viel Autobiographisches versteckte. Ein tieferes Verständnis dieses Schriftstellers verlangt geradezu nach Engführung von fiktionalem Werk und privatem Leben. Deshalb ist der gerade erschienene Band "Verborgene Texte des Lebens" gar nicht hoch genug zu bewerten. Werner Jung, seinerzeit schon entscheidend beteiligt an der Werkausgabe, hat ihn aus dem Nachlass des Schriftstellers zusammengestellt, und so kann man erstmals eine größere Zahl von dessen Briefen, aber auch etliche Konzepte zu nicht oder dann anders ausgeführten Prosawerken lesen, die ungeschminkt Auskunft geben über Wellershoffs Arbeitsweise. Wobei es dem Nachwort seiner älteren Tochter Irene überlassen bleibt, zwei in deren Bedeutung zentrale biographische Fakten nachzureichen: dass Wellershoff, wie so viele Protagonisten seines Erzählens, dauerhaft zwischen der Gattin und einer Geliebten hin- und hergerissen war und dass Maria Wellershoff gerade in der Anfangszeit der Ehe Mitwirkende seiner publizistischen Tätigkeit gewesen ist - namentlich 1961 bei den von ihrem Mann herausgegebenen postumen "Gesammelten Werken" von Gottfried Benn. Die Würdigung dieser philologischen Mitarbeit von Maria Wellershoff wurde durch Benns Witwe verhindert, die keine Beteiligung einer Frau an dieser Ausgabe dokumentiert sehen wollte. Aber auch Dieter Wellershoff hat darüber später nicht gesprochen.
Wer ihn in seinen letzten Jahren noch kennengelernt hat, der wird sich an einen vollendeten Gentleman und geistsprühenden Gesprächspartner erinnern, der in geradezu symbiotischer Beziehung mit seiner Frau zu stehen schien. Das psychologisch Abgründige seiner Bücher, auch deren manische Beschäftigung mit Fragen ehelicher Treue und außerehelicher Enttäuschung (was in den Entwürfen noch deutlicher wird als im letztlich Publizierten), hatte indes seine Basis im eigenen Dasein, und umso schwerer wiegt der Verlust eines beträchtlichen Teiles der Wellershoff'schen Korrespondenzen beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs im Jahr 2009, wohin der Schriftsteller seinen Vorlass gegeben hatte. Was an Lebenszeugnissen übrig blieb, das liegt überwiegend immer noch in jener Wohnung in Köln, die die Wellerhoffs mehr als ein Vierteljahrhundert lang bewohnten; Maria Wellershoff noch bis zu ihrem Tod im März vergangenen Jahres. Die Herausgabe dieses Nachlassbandes wäre zu ihren Lebzeiten schwer vorstellbar gewesen.
Ausgewiesen ist er als "Lesebuch", denn neben dem reichen unveröffentlichten Material und zahlreichen Fotos aus dem Familienarchiv haben auch Teile von Wellershoffs publizierten autobiographischen Texten Aufnahme gefunden. Sie waren zu einem immer wichtigeren Teil seines Schaffens geworden, und die letzte Neuveröffentlichung zu Lebzeiten war die mit achtundachtzig Jahren noch aufgenommene und als CDs erschienene mündliche Erzählung "Ans Ende kommen" übers eigene Altern und Sterben - Schlusspunkt eines Werks, das von Beginn an im Schatten des Todes stand, wie man den immer wieder auftauchenden existenzialistischen Reminiszenzen an die Kriegserlebnisse des jungen Soldaten entnehmen kann.
Das literarische Kunstwerk, so hatte Wellershoff schon 1959 gegenüber einem Korrespondenzpartner festgestellt, sei "die totale Existenzaussage". Gemünzt war das noch auf Benn, aber der damals gerade als Hörspielautor hervorgetretene Wellershoff sprach bereits für sich selbst. Sein drittes Hörspiel über einen jungen Mann, der seine Freundin zu einer Abtreibung drängt, war auf Bedenken beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk gestoßen; man wünschte sich dort eine Entscheidung fürs Leben des Kindes, doch Wellershoff konnte sie nicht liefern, weil auch dieser Stoff autobiographisch war. Totale Existenzaussage meinte eben auch unbedingte Wahrhaftigkeit in dem, was das Kunstwerk über den Künstler erzählt - inklusive seiner Moral. Im Lesebuch finden sich Hunderte von Seiten auseinander eine Briefstelle, in der Wellershoff vom Schaudern beim Zertreten eines Katzenkopfes berichtet, mit dem er das Leiden eines angefahrenen Tieres beendete, und ein Erzählungsentwurf, in dem ein solches Töten von Katzen zum Ausweis eines dubiosen Charakters wird.
Werner Jung hat seine Zusammenstellung streng chronologisch angeordnet. In den Entwicklungslinien des Lebens wird so der poetische Weg von Dieter Wellershoff deutlich. Der immer auch ein poetologischer war, denn dieser Schriftsteller hat nimmermüde über sein Schreiben Rechenschaft abgelegt. Allerdings auf eine Weise, dass es oft nur für ihn selbst erkennbar war. Jetzt aber können wir aus den vielen verstreuten Hinweisen, die er gab, ein Programm zusammenpuzzeln, das Wellershoff mehr literarische Größe gibt, als sie ihm ohnehin schon zugebilligt wurde. Weil nun auch das Kleine - das klein Gedachte und das Kleinkarierte - als Keimzelle eines großen Werks sichtbar wird. ANDREAS PLATTHAUS
Werner Jung (Hrsg.): "Verborgene Texte des Lebens". Dieter Wellershoff - ein Lesebuch.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022. 350 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main