Ein Reflex lähmt die politischen Debatten um den Klimawandel. Sobald es um Maßnahmen geht, die Einschränkungen bedeuten, ist die Empörung groß: Tempolimit? Der sichere Weg in die Ökodiktatur! Veggie-Day? Das war's mit dem Nackensteak! Dabei waren Verbot und Verzicht lange bewährte Instrumente, um Ressourcen zu schonen oder ökologische Krisen zu bewältigen. Man denke nur an das FCKW-Verbot.
Philipp Lepenies untersucht die Ursprünge dieser eingeübten Fundamentalopposition. Er führt sie auf die neoliberale Haltung zurück, die im Staat einen Gegner sieht und individuelle Konsumentscheidungen über moralische und ökologische Bedenken stellt. Dieser Geist falsch verstandener Freiheit hat allerdings eine Politik des Unterlassens hervorgebracht, die sich scheut, das Offensichtliche auszusprechen: dass eine sozialökologische Transformation ohne Verbot und Verzicht nicht gelingen wird.
Philipp Lepenies untersucht die Ursprünge dieser eingeübten Fundamentalopposition. Er führt sie auf die neoliberale Haltung zurück, die im Staat einen Gegner sieht und individuelle Konsumentscheidungen über moralische und ökologische Bedenken stellt. Dieser Geist falsch verstandener Freiheit hat allerdings eine Politik des Unterlassens hervorgebracht, die sich scheut, das Offensichtliche auszusprechen: dass eine sozialökologische Transformation ohne Verbot und Verzicht nicht gelingen wird.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Meredith Haaf kommt mit Philipp Lepenies Buch nicht sehr gut zurecht. Schon die Aussage des Autors, dem deutschen Staat werde von seinen Bürgern das Verbotsrecht aberkannt, findet er angesichts breiter Zustimmung zu Coronamaßnahmen absurd. Doch dem Autor geht es um den Klimaschutz und die vermuteten Proteste gegen verordnete "Konsumeinschränkungen", räumt Haaf ein. Hier fragt sich die Rezensentin, wieso die Diskussion staatlicher Verbote eigentlich nicht legitim sein sollte. Eine Antwort bietet ihr der Autor nicht, sondern drischt stattdessen auf den Neoliberalismus und seine "Konsumverherrlichung" ein und plädiert für größere staatliche Handlungsspielräume. Einen echten Mangel daran, etwa in Brüssel, kann Haaf allerdings nicht erkennen. Eine tiefe, treffende Kritik des "neoliberalen Staatsverständnisses" bleibt ihr der Autor überdies schuldig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2022Team Ökodiktatur
Der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies fragt sich, warum wir so schlecht darin sind, Einschränkungen hinzunehmen – und was dagegen helfen könnte
Ein guter Teil der gesellschaftlichen Debatten der vergangenen fünf Jahre kreiste um Zumutungen. Wie viel der Einzelne und die Gesellschaft zum Beispiel an Einschränkungen und Fleischverzicht auf sich nehmen müssten, um die Erderwärmung zu bremsen, wie viel oder wie wenig Maske und Abstand und Lockdown einer pandemiegeplagten Gesellschaft zumutbar sei. Aktuell mutet man der Gesellschaft noch eine Debatte darüber zu, wie hoch die Preise allgemein und die Energiepreise im Besonderen vom Markt gemacht werden dürften, wem man das Frieren für den Frieden zumuten könne und wem nicht.
Staatliche Verbote, moralisch, hygienisch und pragmatisch motivierter Verzicht dominieren seit zwei Jahren das Leben vieler Menschen, jetzt kommt noch ein Krieg dazu. Da passt es gut, dass ein Buch erscheint, das verspricht, sich mit den Fragen von Verbot und Verzicht in der Politik zu befassen. Der Autor des Buchs heißt Philipp Lepenies und ist Professor für Ökonomie und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, und um eines gleich voraus zu schicken: Er ist eher „Team Ökodiktatur“. Eine Politik, die Verbote ausspricht und Konsumverzicht fördert hält er angesichts des Klimawandels für unverzichtbar.
Aus dieser Haltung heraus erklärt sich vielleicht auch seine leicht kurios anmutende Ausgangsbehauptung, dass sich in Deutschland und anderswo eine Haltung etabliert habe, die Staat und Demokratie das Verbotsrecht aberkenne. Wo lebt der Mann? Offenbar in einer Parallelrealität zu dem Land, in dem nach allen Umfragen und Studien übereinstimmend alle Hygieneverordnungen, Schulschließungen, kultureller Dauerschlaf von einer breiten Mehrheit nicht nur akzeptiert sondern aktiv eingefordert und mitgetragen wurden.
Lepenies geht es aber vor allem um Klimaschutz. Und hier ist durchaus Widerstand gegen eine Politik der vorbeugenden Maßnahmen zu erwarten, zumal er davon ausgeht, dass solche Maßnahmen insbesondere das individuelle Konsumverhalten betreffen dürften: „Für das Thema Verbot und Verzicht ist der Stellenwert des individuellen Konsums entscheidend. Zum einen weil in den aktuellen Transformationsdebatten ein Verbot immer den individuellen Konsum beschneiden würde; zum anderen weil Konsum und das Recht, ungehindert zu konsumieren, das genaue Gegenteil von Verzicht sind.“
Angekündigte Konsumeinschränkungen zum Wohl der Allgemeinheit passen, so Lepenies’ These nicht zum Selbstverständnis der meisten Menschen als freie Bürger – obwohl Konsum eigentlich gar keine genuin bürgerschaftliche Aufgabe ist: „Die französischen Gelbwesten-Proteste zeigen deutlich eine mögliche Reaktion auf eine Preispolitik, die bestimmte Dinge nicht mehr möglich macht“, schreibt Lepenies, und weiter: „Die Frage nach der sozioökonomischen Legitimität des Auflehnens gegen höhere Preise muss hier nicht erörtert werden. Es reicht festzustellen, dass auch in diesem Fall die klare Haltung überwiegt, dass bestimmte Güter und deren Konsum den Menschen zustehen und Verhalten nicht durch staatliches Tun unterbunden werden darf.“
Genau hier stößt man allerdings auf eine erste Ungereimtheit: Warum bedarf es nicht der Erörterung, ob ein staatliches Verbot fair ist und die richtigen trifft? Denn tatsächlich kranken ja viele der zirkulierenden Verbotsvorschläge – Lepenies lobt für ihre Ideen explizit die Grünen und Fridays for Future – daran, dass sie auf das Verhalten von Individuen abheben, statt etwa auf Praxis-Verbote und Profit-Verzichte der Industrien, die an der Erderwärmung den größten Anteil haben.
Interessant wäre also schon auch die Frage, wie sich Verbot und Verzicht politisch legitimieren lassen, jenseits von normativen Argumenten. Lepenies aber will wissen, warum es der Staat heute selbst in einem relativ staatsfreundlichen Land wie Deutschland so schwer hat, den Leuten klar zu machen, dass er in ihre Privatangelegenheiten eingreifen darf. Und warum sich eine nicht sehr große, aber dafür sehr wortstarke Meinungsfront gegen die so genannte „Verbotspolitik“ formiert.
Das gehe, so Lepenies, auf den Siegeszug des „Neoliberalismus“ und dessen Konsumverherrlichung zurück. Dem ideologischen Siegeszug von Hayek, Friedman und ihrer Londoner „Society“-Clique widmet er großes Kapitel. Eine Lebenswelt, in der Konsum zur zentralen Praxis und für viele längst auch zur ultimativen Form von Selbstwirksamkeit geworden ist, beschreibt er überzeugend als Gemeinsinn-Vernichtungsraum. Das Individuum selbst wird zum Produkt. Mäßigung, gewählte Sparsamkeit oder Verzicht zugunsten anderer erscheinen obskur.
Lepenies geht es aber weniger um individuelle Handlungsspielräume, als um staatliche. Und die will er vergrößern. Seine Kritik richtet sich an eine Schlanker-Staat-Ideologie, an das, was er Politik aus dem „Geiste des Unterlassens“ nennt. Damit meint Lepenies einerseits die Erwartung der Individuen, nicht „so dermaßen regiert zu werden“, wie es Foucault in einem anderen Zusammenhang formuliert hat. Und andererseits das Paradigma „einer realen Politik, die sich am Vorbild eines möglichst untätigen neoliberalen Minimalstaats orientiert“ und wenig aktiv ist.
Hier fragt man sich wieder, welche Regierenden er eigentlich genau meint. Die durchaus auch als neoliberal verschriene Europäische Union etwa muss sich diverse Vorwürfe gefallen lassen und unterlässt so manches – etwa im Bereich der Seenotrettung. Aber einen Mangel an Handlungs- und Gestaltungswille kann man der Kommission in Brüssel nicht nachsagen, gerade nicht in wirtschaftspolitischen Fragen. Das radikalliberale Staatsverständnis fußt auf der Idee, dass der Staat dafür da ist, Infrastruktur für die Vermehrung von Kapital bereit zu stellen. Und aus dem Weg zu gehen, wo er dem Großkapital im Weg steht. Die Schutzbehauptung, der Neoliberalismus lehne den gestaltenden Staat an sich ab und glaube daran, dass der Markt alles regele, ist jedoch vielfach widerlegt.
Insgesamt überraschend ist: Obwohl sich Lepenies letztlich im gesamten Buch der Entwicklung des neoliberalen Staatsverständnisses widmet, gelingt es ihm nie, eben dies wirklich tiefenscharf zu kritisieren. Selbst im letzten Kapitel stehen noch Binsen wie: „Der Neoliberalismus hat schließlich eine ganz bestimmte Vorstellung davon, was der Staat ist: Er ist etwas anderes als die am Markt agierenden privaten Einzelpersonen.“ Sein entscheidender Punkt bleibt dennoch richtig: Die neoliberale Mentalität hat den Staat aus dem Bürgerbegriff getilgt: „Die neoliberale Vorstellung von der Freiheit des Einzelnen macht es den Bürgern schwer, sich auch als Teil des Staates zu begreifen“, weil darin die typischen Menschen Individuen sind, die durch freie Entscheidungen, Konsum und Marktabhängigkeiten miteinander verbunden sind. Kollektive Handlungsfähigkeit wird dabei nicht mehr gedacht, nicht mehr geübt, nicht mehr gebraucht.
Das jedoch macht es tatsächlich schwierig, im offenen Diskurs zu mehrheitsfähigen Vorschlägen zu kommen, wie Wachstum und Konsum zu begrenzen sind. Darum werden wir aber wohl nicht mehr herum kommen. Wenn uns die äußeren Umstände nicht dazu nötigen – und angesichts der momentanen globalen Sicherheitslage ist es nicht unvorstellbar, dass es so weit kommt – wird klimapolitisch eine „Politik der Aktion und (…) der Verhaltenssteuerung“ nötig werden. Eine solche Politik kann jedoch nur die Demokratie legitimieren, nicht die Daten der Klimaforscher und nicht die Zukunftsängste der Jungen. Genau deswegen hätte sich der Autor aber ein paar Blicke in die Vergangenheit sparen und seiner Leserschaft ein paar mehr Überlegungen zur Zukunft und einer legitimen Politik des Verzichtens und Verbietens gönnen sollen.
MEREDITH HAAF
„Die neoliberale Vorstellung
von der Freiheit des Einzelnen
macht es den Bürgern schwer,
sich auch als Teil des
Staates zu begreifen“
Philipp Lepenies:
Verbot und Verzicht
–
Politik aus dem Geiste
des Unterlassens.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2022.
266 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies fragt sich, warum wir so schlecht darin sind, Einschränkungen hinzunehmen – und was dagegen helfen könnte
Ein guter Teil der gesellschaftlichen Debatten der vergangenen fünf Jahre kreiste um Zumutungen. Wie viel der Einzelne und die Gesellschaft zum Beispiel an Einschränkungen und Fleischverzicht auf sich nehmen müssten, um die Erderwärmung zu bremsen, wie viel oder wie wenig Maske und Abstand und Lockdown einer pandemiegeplagten Gesellschaft zumutbar sei. Aktuell mutet man der Gesellschaft noch eine Debatte darüber zu, wie hoch die Preise allgemein und die Energiepreise im Besonderen vom Markt gemacht werden dürften, wem man das Frieren für den Frieden zumuten könne und wem nicht.
Staatliche Verbote, moralisch, hygienisch und pragmatisch motivierter Verzicht dominieren seit zwei Jahren das Leben vieler Menschen, jetzt kommt noch ein Krieg dazu. Da passt es gut, dass ein Buch erscheint, das verspricht, sich mit den Fragen von Verbot und Verzicht in der Politik zu befassen. Der Autor des Buchs heißt Philipp Lepenies und ist Professor für Ökonomie und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, und um eines gleich voraus zu schicken: Er ist eher „Team Ökodiktatur“. Eine Politik, die Verbote ausspricht und Konsumverzicht fördert hält er angesichts des Klimawandels für unverzichtbar.
Aus dieser Haltung heraus erklärt sich vielleicht auch seine leicht kurios anmutende Ausgangsbehauptung, dass sich in Deutschland und anderswo eine Haltung etabliert habe, die Staat und Demokratie das Verbotsrecht aberkenne. Wo lebt der Mann? Offenbar in einer Parallelrealität zu dem Land, in dem nach allen Umfragen und Studien übereinstimmend alle Hygieneverordnungen, Schulschließungen, kultureller Dauerschlaf von einer breiten Mehrheit nicht nur akzeptiert sondern aktiv eingefordert und mitgetragen wurden.
Lepenies geht es aber vor allem um Klimaschutz. Und hier ist durchaus Widerstand gegen eine Politik der vorbeugenden Maßnahmen zu erwarten, zumal er davon ausgeht, dass solche Maßnahmen insbesondere das individuelle Konsumverhalten betreffen dürften: „Für das Thema Verbot und Verzicht ist der Stellenwert des individuellen Konsums entscheidend. Zum einen weil in den aktuellen Transformationsdebatten ein Verbot immer den individuellen Konsum beschneiden würde; zum anderen weil Konsum und das Recht, ungehindert zu konsumieren, das genaue Gegenteil von Verzicht sind.“
Angekündigte Konsumeinschränkungen zum Wohl der Allgemeinheit passen, so Lepenies’ These nicht zum Selbstverständnis der meisten Menschen als freie Bürger – obwohl Konsum eigentlich gar keine genuin bürgerschaftliche Aufgabe ist: „Die französischen Gelbwesten-Proteste zeigen deutlich eine mögliche Reaktion auf eine Preispolitik, die bestimmte Dinge nicht mehr möglich macht“, schreibt Lepenies, und weiter: „Die Frage nach der sozioökonomischen Legitimität des Auflehnens gegen höhere Preise muss hier nicht erörtert werden. Es reicht festzustellen, dass auch in diesem Fall die klare Haltung überwiegt, dass bestimmte Güter und deren Konsum den Menschen zustehen und Verhalten nicht durch staatliches Tun unterbunden werden darf.“
Genau hier stößt man allerdings auf eine erste Ungereimtheit: Warum bedarf es nicht der Erörterung, ob ein staatliches Verbot fair ist und die richtigen trifft? Denn tatsächlich kranken ja viele der zirkulierenden Verbotsvorschläge – Lepenies lobt für ihre Ideen explizit die Grünen und Fridays for Future – daran, dass sie auf das Verhalten von Individuen abheben, statt etwa auf Praxis-Verbote und Profit-Verzichte der Industrien, die an der Erderwärmung den größten Anteil haben.
Interessant wäre also schon auch die Frage, wie sich Verbot und Verzicht politisch legitimieren lassen, jenseits von normativen Argumenten. Lepenies aber will wissen, warum es der Staat heute selbst in einem relativ staatsfreundlichen Land wie Deutschland so schwer hat, den Leuten klar zu machen, dass er in ihre Privatangelegenheiten eingreifen darf. Und warum sich eine nicht sehr große, aber dafür sehr wortstarke Meinungsfront gegen die so genannte „Verbotspolitik“ formiert.
Das gehe, so Lepenies, auf den Siegeszug des „Neoliberalismus“ und dessen Konsumverherrlichung zurück. Dem ideologischen Siegeszug von Hayek, Friedman und ihrer Londoner „Society“-Clique widmet er großes Kapitel. Eine Lebenswelt, in der Konsum zur zentralen Praxis und für viele längst auch zur ultimativen Form von Selbstwirksamkeit geworden ist, beschreibt er überzeugend als Gemeinsinn-Vernichtungsraum. Das Individuum selbst wird zum Produkt. Mäßigung, gewählte Sparsamkeit oder Verzicht zugunsten anderer erscheinen obskur.
Lepenies geht es aber weniger um individuelle Handlungsspielräume, als um staatliche. Und die will er vergrößern. Seine Kritik richtet sich an eine Schlanker-Staat-Ideologie, an das, was er Politik aus dem „Geiste des Unterlassens“ nennt. Damit meint Lepenies einerseits die Erwartung der Individuen, nicht „so dermaßen regiert zu werden“, wie es Foucault in einem anderen Zusammenhang formuliert hat. Und andererseits das Paradigma „einer realen Politik, die sich am Vorbild eines möglichst untätigen neoliberalen Minimalstaats orientiert“ und wenig aktiv ist.
Hier fragt man sich wieder, welche Regierenden er eigentlich genau meint. Die durchaus auch als neoliberal verschriene Europäische Union etwa muss sich diverse Vorwürfe gefallen lassen und unterlässt so manches – etwa im Bereich der Seenotrettung. Aber einen Mangel an Handlungs- und Gestaltungswille kann man der Kommission in Brüssel nicht nachsagen, gerade nicht in wirtschaftspolitischen Fragen. Das radikalliberale Staatsverständnis fußt auf der Idee, dass der Staat dafür da ist, Infrastruktur für die Vermehrung von Kapital bereit zu stellen. Und aus dem Weg zu gehen, wo er dem Großkapital im Weg steht. Die Schutzbehauptung, der Neoliberalismus lehne den gestaltenden Staat an sich ab und glaube daran, dass der Markt alles regele, ist jedoch vielfach widerlegt.
Insgesamt überraschend ist: Obwohl sich Lepenies letztlich im gesamten Buch der Entwicklung des neoliberalen Staatsverständnisses widmet, gelingt es ihm nie, eben dies wirklich tiefenscharf zu kritisieren. Selbst im letzten Kapitel stehen noch Binsen wie: „Der Neoliberalismus hat schließlich eine ganz bestimmte Vorstellung davon, was der Staat ist: Er ist etwas anderes als die am Markt agierenden privaten Einzelpersonen.“ Sein entscheidender Punkt bleibt dennoch richtig: Die neoliberale Mentalität hat den Staat aus dem Bürgerbegriff getilgt: „Die neoliberale Vorstellung von der Freiheit des Einzelnen macht es den Bürgern schwer, sich auch als Teil des Staates zu begreifen“, weil darin die typischen Menschen Individuen sind, die durch freie Entscheidungen, Konsum und Marktabhängigkeiten miteinander verbunden sind. Kollektive Handlungsfähigkeit wird dabei nicht mehr gedacht, nicht mehr geübt, nicht mehr gebraucht.
Das jedoch macht es tatsächlich schwierig, im offenen Diskurs zu mehrheitsfähigen Vorschlägen zu kommen, wie Wachstum und Konsum zu begrenzen sind. Darum werden wir aber wohl nicht mehr herum kommen. Wenn uns die äußeren Umstände nicht dazu nötigen – und angesichts der momentanen globalen Sicherheitslage ist es nicht unvorstellbar, dass es so weit kommt – wird klimapolitisch eine „Politik der Aktion und (…) der Verhaltenssteuerung“ nötig werden. Eine solche Politik kann jedoch nur die Demokratie legitimieren, nicht die Daten der Klimaforscher und nicht die Zukunftsängste der Jungen. Genau deswegen hätte sich der Autor aber ein paar Blicke in die Vergangenheit sparen und seiner Leserschaft ein paar mehr Überlegungen zur Zukunft und einer legitimen Politik des Verzichtens und Verbietens gönnen sollen.
MEREDITH HAAF
„Die neoliberale Vorstellung
von der Freiheit des Einzelnen
macht es den Bürgern schwer,
sich auch als Teil des
Staates zu begreifen“
Philipp Lepenies:
Verbot und Verzicht
–
Politik aus dem Geiste
des Unterlassens.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2022.
266 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»... ein wortgewandter und fundierter Einspruch gegen neoliberale Überzeugungen ...« Kathrin Jütte Zeitzeichen 20230525