Wir gratulieren Jörg Baberowski sehr herzlich zum Preis der Leipziger Buchmessein der Kategorie Sachbuch/Essayistik!
Zur Begründung: "Verbrannte Erde" ist ein Buch, das den Leser von Anfang an in den Bann schlägt und nicht wieder loslässt. Es zwingt ihn, gleichermaßen durch Präzision der Argumente wie durch die Kraft der sprachlichen Vergegenwärtigung, auf eine Fahrt durch alle Kreise der Hölle. Und es erspart ihm nicht, genauer hinzusehen, den Tätern wie den Opfern ins Gesicht zu schauen. Hier handeln nicht Großmächte oder Begriffsgespenster - nicht der Kommunismus, nicht die Moderne, kein Eindeutigkeitswahn -, sondern Menschen. Das macht die Lektüre, sofern man nicht völlig abgestumpft ist, zu einer bedrückenden Erfahrung, zu einem kurzen Lehrgang in Trostlosigkeit. Aber das ist der Preis, der für historische Erkenntnis zu zahlen ist. Jörg Baberowski, der an dear Humboldt-Universität lehrt, widersteht der Versuchung, die Gewalt zu rationalisieren, ihr Gründe unterzuschieben. Aus der Verbindung von Quellennähe und kluger Kritik tradierter Deutungen gewinnt seine Darstellung ihre Wucht. Wenn in den kommenden Jahren einer fragt: Was war das, der Stalinismus, dann wird man zum Regal gehen und ihm dieses Buch geben: Nimm und lies!
Stalins Gewaltherrschaft fielen Millionen Menschen zum Opfer. Sie verhungerten, verschwanden im "Archipel Gulag" oder wurden im Laufe der "Säuberungen" von Partei, Staatsapparat und Militär ermordet. In seinem großen, berührenden Buch entwickelt Jörg Baberowski neue Perspektiven auf die stalinistischen Verbrechen und führt den Leser hinab in die paranoide Welt des sowjetischen Diktators.
Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst mit seinem Tod aufhörte. Er errichtete eine Ordnung des Misstrauens und der Furcht, in der jedermann jederzeit zum Opfer werden konnte. Wer in dieser Weise den inneren Kitt einer Gesellschaft zerstört, der hinterlässt auch in den Seelen der Menschen verbrannte Erde. "Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren", steht über Dantes Höllentor. Dieser Satz hätte auch an den Grenzpfählen der Sowjetunion stehen können.
Zur Begründung: "Verbrannte Erde" ist ein Buch, das den Leser von Anfang an in den Bann schlägt und nicht wieder loslässt. Es zwingt ihn, gleichermaßen durch Präzision der Argumente wie durch die Kraft der sprachlichen Vergegenwärtigung, auf eine Fahrt durch alle Kreise der Hölle. Und es erspart ihm nicht, genauer hinzusehen, den Tätern wie den Opfern ins Gesicht zu schauen. Hier handeln nicht Großmächte oder Begriffsgespenster - nicht der Kommunismus, nicht die Moderne, kein Eindeutigkeitswahn -, sondern Menschen. Das macht die Lektüre, sofern man nicht völlig abgestumpft ist, zu einer bedrückenden Erfahrung, zu einem kurzen Lehrgang in Trostlosigkeit. Aber das ist der Preis, der für historische Erkenntnis zu zahlen ist. Jörg Baberowski, der an dear Humboldt-Universität lehrt, widersteht der Versuchung, die Gewalt zu rationalisieren, ihr Gründe unterzuschieben. Aus der Verbindung von Quellennähe und kluger Kritik tradierter Deutungen gewinnt seine Darstellung ihre Wucht. Wenn in den kommenden Jahren einer fragt: Was war das, der Stalinismus, dann wird man zum Regal gehen und ihm dieses Buch geben: Nimm und lies!
Stalins Gewaltherrschaft fielen Millionen Menschen zum Opfer. Sie verhungerten, verschwanden im "Archipel Gulag" oder wurden im Laufe der "Säuberungen" von Partei, Staatsapparat und Militär ermordet. In seinem großen, berührenden Buch entwickelt Jörg Baberowski neue Perspektiven auf die stalinistischen Verbrechen und führt den Leser hinab in die paranoide Welt des sowjetischen Diktators.
Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst mit seinem Tod aufhörte. Er errichtete eine Ordnung des Misstrauens und der Furcht, in der jedermann jederzeit zum Opfer werden konnte. Wer in dieser Weise den inneren Kitt einer Gesellschaft zerstört, der hinterlässt auch in den Seelen der Menschen verbrannte Erde. "Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren", steht über Dantes Höllentor. Dieser Satz hätte auch an den Grenzpfählen der Sowjetunion stehen können.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Franziska Augstein ist nicht überzeugt von Jörg Baberowskis Stalin-Buch, in dem der Berliner Historiker seine These revidiert, dass Gewalt und Terror dem Bolschewismus nicht zwangsläufig eigen waren, sondern vor allem von Stalin ins Werk gesetzt wurden. In diesem Buch nun will Baberowski deutlich machen, dass die Bolschewiki von Anfang an ihre Herrschaft auf Gewalt und eine Verrohung der Gesellschaft stützten, die Ideologie sei dabei völlig nachrangig gewesen. Aber warum, fragt die Rezensentin, schreibt er dann ein Buch über Stalin, den pathologischen Gewalttäter? Und warum ergeht er sich dann in endlosen Beschreibungen von Folterungen und Hinrichtungen. Als der Autor noch meinte, Stalin sei "kein Zyniker" gewesen, da hätte Augstein die Aufzählung all des Horrors sinnvoll gefunden, aber jetzt findet sie all die Grausamkeiten als Beleg seiner These redundant.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2012Alltag des Vernichters
Jörg Baberowskis neues Buch über Stalin zeigt einen Diktator, in dessen Reich alles möglich war, solange es nur dem Machterhalt diente. Das Instrument dafür: totale Gewalt
Stalin herrschte nicht nur über das Sowjetreich, die Rote Armee und das Gedächtnis der Insassen seines Landes, sondern auch über das Wetter. Jedenfalls mussten Köpfe rollen, wenn es, wie am 18. August 1946, anders ausfiel als vorhergesagt. Die Kaskade von Anschuldigungen und Erklärungen von allen möglichen Wetterdiensthauptverwaltern, wer für die falsche Vorhersage verantwortlich und wie mit dem Schuldigen zu verfahren sei, ist typisch für einen Staat, dessen Irrsinn immerhin ein Drittel eines Jahrhunderts währte.
Es konnte passieren, dass einer dieser Verantwortlichen für das falsche Wetter verhaftet wurde, gefoltert, erschossen. Es konnte auch sein, dass gar nichts geschah. In "Stalins Herrschaft der Gewalt", so der Untertitel von Jörg Baberowskis neuem Buch, war schlichtweg alles möglich. Die vollständige Unberechenbarkeit, das erschließt sich beim Lesen dieses frappierenden Berichts aus der totalitären Schreckenskammer, ermöglicht die vollständige Unterwerfung einer kompletten Gesellschaft. Dass diese dabei alle Züge eines Wirklichkeit gewordenen Albtraums annimmt, erschließt sich aus der minutiösen Rekonstruktion des Aufstiegs der stalinistischen Diktatur. Ich hatte bis zu der Lektüre von Baberowskis Buch immer gedacht, dass Michail Bulgakows grandioser Roman "Der Meister und Margarita" eine Satire auf den Stalinismus sei. Nun weiß ich, dass es sich um einen Tatsachenbericht handelt.
Neben der Rekonstruktion der Stalinschen Gewaltherrschaft, die in vielen Details Licht in den historischen Abschnitt von der Oktoberrevolution bis in die fünfziger Jahre bringt, der durch spätlinke Bemäntelung gelegentlich immer noch etwas verdunkelt war, besticht Baberowskis Studie besonders durch die Analyse, die der Gewalt als sozialem Herrschaftsinstrument zukommt. Sowenig der Stalinismus jenseits der Verlautbarungen über sich selbst auch nur das Entfernteste mit dem "neuen Menschen", gar mit Freiheit zu tun hatte, so wenig diente die allumfassende Gewalt, die das Regime unter der Führung Stalins gegen die komplette Bevölkerung richtete, irgendwelchen Zwecken außer der Aufrechterhaltung der Zwangsherrschaft selbst. Gewalt ist nicht etwas, das Stalin anwendet, um etwas anderes damit zu erreichen. Fast alle bolschewistischen Kämpfer hatten in der zarischen Zeit und im Bürgerkrieg Gewalt erlitten und ausgeübt; sie hatten ein direktes Verhältnis zur Gewalt, waren mit ihr aufgewachsen und hielten sie, wie Baberowski schreibt, "für eine alltägliche Ressource politischen Handelns".
Eine Führung, die ihre Herrschaft auf die schrankenlose Anwendung von Gewalt gründet, benötigt dafür nur zwei Dinge: ausreichend physische Machtmittel, also einen umfassend gewaltbereiten Staatssicherheitsdienst, sowie die Theorie, dass das eigene Land und das menschheitsbeglückende Projekt des Kommunismus von Feinden nicht nur umstellt, sondern im Innersten auch unterminiert sei. Jeder konnte ein Feind, ein Spion, ein Verräter sein, und wer es heute noch nicht war, konnte jederzeit "vom Ausland", "von den Kapitalisten" bestochen oder verführt werden, zum "Schädling" am Aufbau des Sowjetstaates und des Kommunismus werden.
Daher galt prinzipiell nicht der Denunziant als Verräter, sondern der, den er denunzierte, und deshalb war es gleichgültig, ob einer zu Recht oder zu Unrecht als "Saboteur" oder "Feind" beschuldigt wurde. Stalin unterzeichnete Todeslisten mit Tausenden von Namen darauf; Hunderttausende Bauern oder Angehörige unerwünschter Nationalitäten wurden deportiert, ermordet, Millionen kamen durch systematische Hungerpolitik zu Tode.
Zugleich beschränkte sich die Industrialisierung des Landes und die Entstehung einer Klasse von Arbeitern auf vergleichsweise wenig Zentren, während die bäuerliche Bevölkerung sowohl räumlich wie mental fernab von der Entstehung der neuen Gesellschaft blieb. Da die marxistische Theorie nun aber die Diktatur des Proletariats voraussetzte, musste die Agrargesellschaft erst mal proletarisiert werden. Die Bauern allerdings konnten sich von Landreformen, Zwangskollektivierung und Kolchoswirtschaft nichts versprechen, zumal das für sie immer nur darauf hinauslief, nichts von dem, was sie erwirtschafteten, für sich selbst nutzen zu können. Hier, auf dem Land, kam von den Glücksversprechen des Bolschewismus zu keinem Zeitpunkt etwas an, und genau deshalb wütete die unterschiedslose Gewalt der Geheimpolizei unter der Landbevölkerung am heftigsten und führte zu bis heute kaum vorstellbaren Opferzahlen.
Von daher war es kein Wunder, dass die vorrückende deutsche Wehrmacht an nicht wenigen Orten begeistert begrüßt wurde, und nach den Gewaltexzessen der Tscheka erschien es den meisten Dorfbevölkerungen auch nicht weiter beklagenswert, dass nun vor allem die Juden Opfer von Massenerschießungen wurden. Das Kapitel über den Zweiten Weltkrieg ist eines der interessantesten Abschnitte in Baberowskis Buch, arbeitet er doch heraus, dass Gewalt, auch kriegerische Gewalt, nur zu verstehen ist, wenn man sie als Interaktion begreift, die eine innere Dynamik zu entfalten vermag, die keiner der Akteure vorherzusehen und exakt zu steuern versteht. Hitler und die Generalität haben nicht gesehen, dass die Stalinsche Herrschaft auf Gewalt und keineswegs auf substantielle Zustimmung oder gar Identifikation gegründet war, weshalb die Einnahme Moskaus militärisch erfolgversprechender gewesen wäre als die weitere Expansion im Raum.
Und noch weniger haben sie gesehen, dass der Angriff auf die Sowjetunion Stalin ein Mittel in die Hand spielte, jene gesellschaftliche Kohäsion zu erzeugen, die seine Gewaltherrschaft zuvor fast vollständig zerstört hatte: Die Formatierung des Geschehens als "Großer Vaterländischer Krieg" bot dem Einzelnen erstmals einen Sinn für ausgeübte Gewalt und erfahrenes Leid und setzte genau jene Energien frei, ohne die die Diktatur wahrscheinlich viel früher implodiert wäre. So schreibt Dimitrij Schostakowitsch in seinen Erinnerungen: "Nicht nur ich verdanke dem Krieg die Möglichkeit, mich auszusprechen. Das geistige Leben, das vor dem Krieg völlig verdorrt war, erblühte neu, voll und dicht. Alles gewann an Kontur, an Deutlichkeit, an Sinn."
Paradoxerweise hob der Krieg die radikale Atomisierung der Einzelnen auf, die die totalitäre Gewaltherrschaft geschaffen hatte; paradoxerweise öffnete das Leiden unter der Kriegsgewalt Räume des Sprechens, die unter der innerstaatlichen Gewalt verschlossen worden waren. Nun ging es nicht mehr um die absonderlichen und unberechenbaren Forderungen "der Partei", sondern um das Zusammenstehen gegen einen identifizierbaren Feind. Die historisch beispiellose Extremgewalt, die der Überfall auf die Sowjetunion ausgelöst hat, ist das Produkt der Interaktion zweier Gewaltsysteme, keineswegs das Ergebnis einer ideologischen Konfrontation.
Man versteht totalitäre Systeme nicht, wenn man ihre ideologische Selbstbeschreibung damit verwechselt, was die Gesellschaftsmitglieder denken und warum sie etwas tun. So schreibt Baberowski: "Nicht weil sie Überzeugungen hatten, verrohten die Soldaten, sondern weil ihnen die Bedingungen keine andere Wahl mehr ließen. Die Wehrmacht hatte sich über alle geltenden Konventionen hinweggesetzt, und die Rote Armee zahlte es mit gleicher Münze heim, unter Bedingungen, die Technik und militärisches Können wertlos machten. Sie schränkten den Spielraum der Gewaltakteure ein, andere Lösungen als die Vernichtung des Gegners zu finden, und eben darin lag die Bedeutung, die Nationalsozialisten wie Bolschewiki dem Vernichtungskrieg beimaßen. Denn Hitler und Stalin gefiel der Vernichtungskrieg, weil in ihm Feinde nicht besiegt, sondern ausgerottet wurden." Da die Wehrmacht einen Krieg gegen ein Regime führte, für das Vernichtungsgewalt ohnehin das zentrale Herrschaftsmittel war, konnte die Wehrmacht, so Baberowski, "auf Dauer nicht Sieger bleiben".
Man kann aus Baberowskis Buch viel lernen über die Dynamik von Gewalt als sozialem Handeln, auch darüber, wie totalitäre Gesellschaften funktionieren, indem sie Gewalt systematisch entgrenzen. Und darüber, wie Menschen in der Lage sind, Wirklichkeiten nicht nur zu phantasieren, sondern alle Kraft dafür einzusetzen, die Welt dieser Vorstellung von Wirklichkeit anzupassen. Wenn diese vorgestellte Wirklichkeit darin besteht, dass die Welt voller Feinde und Verschwörer sei, dann müssen alle bekämpft werden, die Feinde und Verschwörer sein oder werden könnten. Wenn man, wie Hannah Arendt einmal formuliert hat, behauptet, dass nur Moskau eine Untergrundbahn besitze, dann müssen folgerichtig alle Untergrundbahnen andernorts zerstört werden, um aus der Lüge eine Wahrheit zu machen.
Baberowskis Buch ist besonders darin erhellend, dass es zeigt, dass kein System idiotisch genug sein kann, um nicht eine beträchtliche Zeit funktionieren und physische und psychische Schäden anrichten zu können, die auch noch Jahrzehnte, im Fall des Stalinismus bis heute nachwirken. Und darin, dass es zeigt, dass für Menschen alles möglich ist. Kleinere Mängel hat es dort, wo die Aufzählung der Gewalthandlungen so umfassend wird, dass man als Leser selbst schon kein Ende mehr abzusehen befürchtet. Auch habe ich Seitenblicke darauf vermisst, wie es denn bei all der Dysfunktionalität, der vielfach sinnlosen Produktion, bei der grandiosen Verschwendung und Vernichtung von Arbeitskraft selbst im Stalinismus möglich gewesen ist, ein Mindestmaß an Industrieproduktion aufzubauen und, mehr noch, eine am Ende doch erfolgreiche Kriegswaffenproduktion zu ermöglichen. So bleibt der Eindruck von etwas Erratischem zurück, als würde nur mit dem Tod Stalins ein entsetzliches Großexperiment auf das Funktionieren von Menschen unter extremer Gewalt zu Ende gegangen sein.
Davon abgesehen ist Baberowski ein mehr als eindrucksvolles Buch gelungen, glänzend geschrieben, ein Schlüsselwerk über die Rolle, die Gewalt als soziale Praxis im 20. Jahrhundert gespielt hat.
HARALD WELZER
Jörg Baberowski: "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt". C. H. Beck, 606 Seiten, 29,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jörg Baberowskis neues Buch über Stalin zeigt einen Diktator, in dessen Reich alles möglich war, solange es nur dem Machterhalt diente. Das Instrument dafür: totale Gewalt
Stalin herrschte nicht nur über das Sowjetreich, die Rote Armee und das Gedächtnis der Insassen seines Landes, sondern auch über das Wetter. Jedenfalls mussten Köpfe rollen, wenn es, wie am 18. August 1946, anders ausfiel als vorhergesagt. Die Kaskade von Anschuldigungen und Erklärungen von allen möglichen Wetterdiensthauptverwaltern, wer für die falsche Vorhersage verantwortlich und wie mit dem Schuldigen zu verfahren sei, ist typisch für einen Staat, dessen Irrsinn immerhin ein Drittel eines Jahrhunderts währte.
Es konnte passieren, dass einer dieser Verantwortlichen für das falsche Wetter verhaftet wurde, gefoltert, erschossen. Es konnte auch sein, dass gar nichts geschah. In "Stalins Herrschaft der Gewalt", so der Untertitel von Jörg Baberowskis neuem Buch, war schlichtweg alles möglich. Die vollständige Unberechenbarkeit, das erschließt sich beim Lesen dieses frappierenden Berichts aus der totalitären Schreckenskammer, ermöglicht die vollständige Unterwerfung einer kompletten Gesellschaft. Dass diese dabei alle Züge eines Wirklichkeit gewordenen Albtraums annimmt, erschließt sich aus der minutiösen Rekonstruktion des Aufstiegs der stalinistischen Diktatur. Ich hatte bis zu der Lektüre von Baberowskis Buch immer gedacht, dass Michail Bulgakows grandioser Roman "Der Meister und Margarita" eine Satire auf den Stalinismus sei. Nun weiß ich, dass es sich um einen Tatsachenbericht handelt.
Neben der Rekonstruktion der Stalinschen Gewaltherrschaft, die in vielen Details Licht in den historischen Abschnitt von der Oktoberrevolution bis in die fünfziger Jahre bringt, der durch spätlinke Bemäntelung gelegentlich immer noch etwas verdunkelt war, besticht Baberowskis Studie besonders durch die Analyse, die der Gewalt als sozialem Herrschaftsinstrument zukommt. Sowenig der Stalinismus jenseits der Verlautbarungen über sich selbst auch nur das Entfernteste mit dem "neuen Menschen", gar mit Freiheit zu tun hatte, so wenig diente die allumfassende Gewalt, die das Regime unter der Führung Stalins gegen die komplette Bevölkerung richtete, irgendwelchen Zwecken außer der Aufrechterhaltung der Zwangsherrschaft selbst. Gewalt ist nicht etwas, das Stalin anwendet, um etwas anderes damit zu erreichen. Fast alle bolschewistischen Kämpfer hatten in der zarischen Zeit und im Bürgerkrieg Gewalt erlitten und ausgeübt; sie hatten ein direktes Verhältnis zur Gewalt, waren mit ihr aufgewachsen und hielten sie, wie Baberowski schreibt, "für eine alltägliche Ressource politischen Handelns".
Eine Führung, die ihre Herrschaft auf die schrankenlose Anwendung von Gewalt gründet, benötigt dafür nur zwei Dinge: ausreichend physische Machtmittel, also einen umfassend gewaltbereiten Staatssicherheitsdienst, sowie die Theorie, dass das eigene Land und das menschheitsbeglückende Projekt des Kommunismus von Feinden nicht nur umstellt, sondern im Innersten auch unterminiert sei. Jeder konnte ein Feind, ein Spion, ein Verräter sein, und wer es heute noch nicht war, konnte jederzeit "vom Ausland", "von den Kapitalisten" bestochen oder verführt werden, zum "Schädling" am Aufbau des Sowjetstaates und des Kommunismus werden.
Daher galt prinzipiell nicht der Denunziant als Verräter, sondern der, den er denunzierte, und deshalb war es gleichgültig, ob einer zu Recht oder zu Unrecht als "Saboteur" oder "Feind" beschuldigt wurde. Stalin unterzeichnete Todeslisten mit Tausenden von Namen darauf; Hunderttausende Bauern oder Angehörige unerwünschter Nationalitäten wurden deportiert, ermordet, Millionen kamen durch systematische Hungerpolitik zu Tode.
Zugleich beschränkte sich die Industrialisierung des Landes und die Entstehung einer Klasse von Arbeitern auf vergleichsweise wenig Zentren, während die bäuerliche Bevölkerung sowohl räumlich wie mental fernab von der Entstehung der neuen Gesellschaft blieb. Da die marxistische Theorie nun aber die Diktatur des Proletariats voraussetzte, musste die Agrargesellschaft erst mal proletarisiert werden. Die Bauern allerdings konnten sich von Landreformen, Zwangskollektivierung und Kolchoswirtschaft nichts versprechen, zumal das für sie immer nur darauf hinauslief, nichts von dem, was sie erwirtschafteten, für sich selbst nutzen zu können. Hier, auf dem Land, kam von den Glücksversprechen des Bolschewismus zu keinem Zeitpunkt etwas an, und genau deshalb wütete die unterschiedslose Gewalt der Geheimpolizei unter der Landbevölkerung am heftigsten und führte zu bis heute kaum vorstellbaren Opferzahlen.
Von daher war es kein Wunder, dass die vorrückende deutsche Wehrmacht an nicht wenigen Orten begeistert begrüßt wurde, und nach den Gewaltexzessen der Tscheka erschien es den meisten Dorfbevölkerungen auch nicht weiter beklagenswert, dass nun vor allem die Juden Opfer von Massenerschießungen wurden. Das Kapitel über den Zweiten Weltkrieg ist eines der interessantesten Abschnitte in Baberowskis Buch, arbeitet er doch heraus, dass Gewalt, auch kriegerische Gewalt, nur zu verstehen ist, wenn man sie als Interaktion begreift, die eine innere Dynamik zu entfalten vermag, die keiner der Akteure vorherzusehen und exakt zu steuern versteht. Hitler und die Generalität haben nicht gesehen, dass die Stalinsche Herrschaft auf Gewalt und keineswegs auf substantielle Zustimmung oder gar Identifikation gegründet war, weshalb die Einnahme Moskaus militärisch erfolgversprechender gewesen wäre als die weitere Expansion im Raum.
Und noch weniger haben sie gesehen, dass der Angriff auf die Sowjetunion Stalin ein Mittel in die Hand spielte, jene gesellschaftliche Kohäsion zu erzeugen, die seine Gewaltherrschaft zuvor fast vollständig zerstört hatte: Die Formatierung des Geschehens als "Großer Vaterländischer Krieg" bot dem Einzelnen erstmals einen Sinn für ausgeübte Gewalt und erfahrenes Leid und setzte genau jene Energien frei, ohne die die Diktatur wahrscheinlich viel früher implodiert wäre. So schreibt Dimitrij Schostakowitsch in seinen Erinnerungen: "Nicht nur ich verdanke dem Krieg die Möglichkeit, mich auszusprechen. Das geistige Leben, das vor dem Krieg völlig verdorrt war, erblühte neu, voll und dicht. Alles gewann an Kontur, an Deutlichkeit, an Sinn."
Paradoxerweise hob der Krieg die radikale Atomisierung der Einzelnen auf, die die totalitäre Gewaltherrschaft geschaffen hatte; paradoxerweise öffnete das Leiden unter der Kriegsgewalt Räume des Sprechens, die unter der innerstaatlichen Gewalt verschlossen worden waren. Nun ging es nicht mehr um die absonderlichen und unberechenbaren Forderungen "der Partei", sondern um das Zusammenstehen gegen einen identifizierbaren Feind. Die historisch beispiellose Extremgewalt, die der Überfall auf die Sowjetunion ausgelöst hat, ist das Produkt der Interaktion zweier Gewaltsysteme, keineswegs das Ergebnis einer ideologischen Konfrontation.
Man versteht totalitäre Systeme nicht, wenn man ihre ideologische Selbstbeschreibung damit verwechselt, was die Gesellschaftsmitglieder denken und warum sie etwas tun. So schreibt Baberowski: "Nicht weil sie Überzeugungen hatten, verrohten die Soldaten, sondern weil ihnen die Bedingungen keine andere Wahl mehr ließen. Die Wehrmacht hatte sich über alle geltenden Konventionen hinweggesetzt, und die Rote Armee zahlte es mit gleicher Münze heim, unter Bedingungen, die Technik und militärisches Können wertlos machten. Sie schränkten den Spielraum der Gewaltakteure ein, andere Lösungen als die Vernichtung des Gegners zu finden, und eben darin lag die Bedeutung, die Nationalsozialisten wie Bolschewiki dem Vernichtungskrieg beimaßen. Denn Hitler und Stalin gefiel der Vernichtungskrieg, weil in ihm Feinde nicht besiegt, sondern ausgerottet wurden." Da die Wehrmacht einen Krieg gegen ein Regime führte, für das Vernichtungsgewalt ohnehin das zentrale Herrschaftsmittel war, konnte die Wehrmacht, so Baberowski, "auf Dauer nicht Sieger bleiben".
Man kann aus Baberowskis Buch viel lernen über die Dynamik von Gewalt als sozialem Handeln, auch darüber, wie totalitäre Gesellschaften funktionieren, indem sie Gewalt systematisch entgrenzen. Und darüber, wie Menschen in der Lage sind, Wirklichkeiten nicht nur zu phantasieren, sondern alle Kraft dafür einzusetzen, die Welt dieser Vorstellung von Wirklichkeit anzupassen. Wenn diese vorgestellte Wirklichkeit darin besteht, dass die Welt voller Feinde und Verschwörer sei, dann müssen alle bekämpft werden, die Feinde und Verschwörer sein oder werden könnten. Wenn man, wie Hannah Arendt einmal formuliert hat, behauptet, dass nur Moskau eine Untergrundbahn besitze, dann müssen folgerichtig alle Untergrundbahnen andernorts zerstört werden, um aus der Lüge eine Wahrheit zu machen.
Baberowskis Buch ist besonders darin erhellend, dass es zeigt, dass kein System idiotisch genug sein kann, um nicht eine beträchtliche Zeit funktionieren und physische und psychische Schäden anrichten zu können, die auch noch Jahrzehnte, im Fall des Stalinismus bis heute nachwirken. Und darin, dass es zeigt, dass für Menschen alles möglich ist. Kleinere Mängel hat es dort, wo die Aufzählung der Gewalthandlungen so umfassend wird, dass man als Leser selbst schon kein Ende mehr abzusehen befürchtet. Auch habe ich Seitenblicke darauf vermisst, wie es denn bei all der Dysfunktionalität, der vielfach sinnlosen Produktion, bei der grandiosen Verschwendung und Vernichtung von Arbeitskraft selbst im Stalinismus möglich gewesen ist, ein Mindestmaß an Industrieproduktion aufzubauen und, mehr noch, eine am Ende doch erfolgreiche Kriegswaffenproduktion zu ermöglichen. So bleibt der Eindruck von etwas Erratischem zurück, als würde nur mit dem Tod Stalins ein entsetzliches Großexperiment auf das Funktionieren von Menschen unter extremer Gewalt zu Ende gegangen sein.
Davon abgesehen ist Baberowski ein mehr als eindrucksvolles Buch gelungen, glänzend geschrieben, ein Schlüsselwerk über die Rolle, die Gewalt als soziale Praxis im 20. Jahrhundert gespielt hat.
HARALD WELZER
Jörg Baberowski: "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt". C. H. Beck, 606 Seiten, 29,95 Euro
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