Ein angesehener, freundlicher Herr, Doktor der Medizin, erschlägt nach 40 Ehejahren seine Frau mit einer Axt. Er zerlegt sie förmlich, bevor er schließlich die Polizei informiert. Sein Geständnis ist ebenso außergewöhnlich wie seine Strafe. Ein Mann raubt eine Bank aus, und so unglaublich das klingt: Er hat seine Gründe. Gegen jede Wahrscheinlichkeit wird er von der deutschen Justiz an Leib und Seele gerettet. Eine junge Frau tötet ihren Bruder. Aus Liebe. Lauter unglaubliche Geschichten, doch sie sind wahr.
Doris Dörrie verfilmt als erste eine Geschichte aus Ferdinand von Schirachs Bestseller-Erzählband "Verbrechen". "Glück" wird im Verleih der Constantin Film in die deutschen Kinos kommen.
Zum Lesungsvideo auf: www.zehnseiten.de
Doris Dörrie verfilmt als erste eine Geschichte aus Ferdinand von Schirachs Bestseller-Erzählband "Verbrechen". "Glück" wird im Verleih der Constantin Film in die deutschen Kinos kommen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2009Anwalt seiner selbst
Ohne Zweifel für den Angeklagten: Ferdinand von Schirach verteidigt das Verbrechen mit literarischen Mitteln.
Fast alle großen Veränderungen in unserer Gesellschaft spiegeln sich in Strafprozessen wider", sagte der Jurist Ferdinand von Schirach vor ziemlich genau einem Jahr in einem "Welt"-Interview. Befragt hatte man ihn nicht nur als prominenten Strafverteidiger, sondern - wieder einmal - auch als Enkel des ehemaligen Reichsjugendführers Baldur von Schirach. Der Anlass schließlich war die Attacke auf die Wachsfigur Adolf Hitlers in der neu eröffneten Madame-Tussaud-Dependance in Berlin. Wie sollte mit dem Täter verfahren werden? Rhetorisches Geschick verrät es, wie von Schirach sofort die Schuldfrage verschiebt: "Ein Richter wird sich Gedanken darüber machen müssen, dass in unserer Gesellschaft, in der es fast keine Tabus mehr gibt, nun auch noch das letzte überschritten wurde: Hitler wird als Wachsfigur aufgestellt, als sei er ein berühmter Tennisspieler." Wie dieser Jurist ebenden Mann, der Hitler den Wachsschädel abgerissen hat, zum einzig Aufrechten erklärte, das hatte Feuer: Er heile mit seiner Tat den Frevel, selbst den Holocaust der "knoppisierten" Spaßgesellschaft zu opfern.
Der Berliner Rechtsanwalt hat Geschmack gefunden am geformten Wort, das er so routiniert beherrscht. Jetzt wagt er den Übertritt von der Rhetorik zur Poetik, denn schließlich gibt es noch eine weitere Instanz, die fast alle großen Veränderungen der Gesellschaft spiegelt. Mit "Verbrechen" legt Ferdinand von Schirach eine Sammlung wuchtiger Kurzgeschichten aus der Perspektive des Strafverteidigers vor. Die meisten Überfälle passieren im Haushalt, könnte man glauben. So stapfen wir schon nach wenigen Seiten durch das Blut einer sorgfältig im Keller zerhackten Frau, Ingrid. Ihr Mann, der Täter, liebt sie immer noch. Auf wenigen Seiten skizziert der Autor das Psychogramm einer fürchterlichen Ehe, deren zugrundeliegender Schwur beide Partner zu Gefangenen machte. So lange quälte Ingrid ihren Mann mit Beleidigungen und Vorwürfen, bis der Tod sie schied - weil er eben zuhackte. Der Verteidiger, immer Teufels Advokat, verlegt sich darauf, den Angeklagten als armen Teufel dastehen zu lassen, der seine Strafe bereits vor der Tat verbüßte: "In der Sache gab es nichts zu verteidigen. Es war ein rechtsphilosophisches Problem: Was ist der Sinn von Strafe?" Die Schöffen sind beeindruckt, das Urteil fällt minimal aus: drei Jahre im offenen Vollzug. Heilte hier auch ein Täter den Frevel, diesmal Nervigkeit? Obacht, ihr nervigen Frauen.
Wenn die elf Prosastücke inhaltlich etwas verbindet, dann dieses offen parteiische Auftreten des Erzählers, der das Menschliche im Verbrecherischen sucht. Mit souveräner Nonchalance präsentiert von Schirach die kriminelle Tat als Teil eines kausalen Zusammenhangs. Auch die härtesten Fälle dürfen eben nicht isoliert betrachtet werden: Von der Todesfolter ("Wagner lag in seinem Bett, seine Oberschenkel waren mit einer Schraubzwinge zusammengepresst, in der linken Kniescheibe steckten zwei, in der rechten drei Zimmermannsnägel. Eine Garotte lag um seinen Hals, seine Zunge hing aus dem Mund") über Eifersuchtsmord, Kannibalismus, Notwehr und Euthanasie bis zum banalen Geldraub reicht die Palette des allzu Menschlichen, das schon seine Gründe hat. Auf eine leicht verdrehte Weise trifft sich das mit Michel Foucaults Kampf gegen die diskursive Exklusion des Delinquenten aus dem Bereich des Normalmenschlichen.
Allmählich aber fällt dem Leser, der ja immer eine Art poetologischer Kriminalist ist, etwas auf, ein Muster: Jede der kurzweiligen Anekdoten ist im selben Stil erzählt. Stets der Wechsel von personaler Perspektive zur auktorialen Einordnung, stets derselbe lakonische Tonfall ostentativer Unvoreingenommenheit. So stellt sich schließlich ein Gefühl ein, als würde man löslichen Kaffee in sich hineinlöffeln: pure Intensität, ungeheuer wirkungsvoll, doch nicht unbedingt ein Genuss. Es fehlt der narrative Überbau, die poetische Autonomie. Das wird extrem deutlich, wenn von Schirach seinem neusachlichen Stil doch einmal untreu wird, um expressiver zu erzählen, so in einer arg kapriziösen Dornauszieher-Parabel. Man hat also eine Sammlung von Plot-Skizzen vor sich, Drehbuch-Ideen womöglich. Eine Erzählung allerdings, die letzte, sticht heraus. Hier gelingt, was man bis dahin vermisst hat: Die Figuren werden plastisch und bringen die Handlung aus sich hervor. So entsteht eine ganz und gar unplausible, schöne Geschichte über die Kraft des Glücks.
Vielleicht aber war die poetologische Wende Ferdinand von Schirachs auch nur die effektvolle Antäuschung eines ausgebufften Rhetorikers, der letztlich nur Anwalt seiner selbst ist. Denn es gibt einen Helden in diesen Stücken, der ein ums andere Mal in hellerem Glanz erstrahlt: das Rechtssystem persönlich, und zwar im strengen Sinn persönlich. Der allzu menschlichen Tat wird nur ein menschlich aufgeweitetes Urteil gerecht. Liest man dieses Buch als ein einziges Plädoyer für das abwägende Schuldstrafrecht, das Motive und Intentionen berücksichtigt, dann muss man doch sagen: Es überzeugt. Man hält es danach fast für möglich, dass ein deutsches Gericht einem Angeklagten einen Orden dafür verleiht, dass er betrunken den Berliner Hitler-Wiedergänger enthauptet hat. Die Wirklichkeit ist profaner: Neunhundert Euro Strafe für den arbeitslosen Altenpfleger, entschied das Amtsgericht Tiergarten vor wenigen Wochen.
OLIVER JUNGEN
Ferdinand von Schirach: "Verbrechen". Stories. Piper Verlag, München/Zürich 2009. 208 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ohne Zweifel für den Angeklagten: Ferdinand von Schirach verteidigt das Verbrechen mit literarischen Mitteln.
Fast alle großen Veränderungen in unserer Gesellschaft spiegeln sich in Strafprozessen wider", sagte der Jurist Ferdinand von Schirach vor ziemlich genau einem Jahr in einem "Welt"-Interview. Befragt hatte man ihn nicht nur als prominenten Strafverteidiger, sondern - wieder einmal - auch als Enkel des ehemaligen Reichsjugendführers Baldur von Schirach. Der Anlass schließlich war die Attacke auf die Wachsfigur Adolf Hitlers in der neu eröffneten Madame-Tussaud-Dependance in Berlin. Wie sollte mit dem Täter verfahren werden? Rhetorisches Geschick verrät es, wie von Schirach sofort die Schuldfrage verschiebt: "Ein Richter wird sich Gedanken darüber machen müssen, dass in unserer Gesellschaft, in der es fast keine Tabus mehr gibt, nun auch noch das letzte überschritten wurde: Hitler wird als Wachsfigur aufgestellt, als sei er ein berühmter Tennisspieler." Wie dieser Jurist ebenden Mann, der Hitler den Wachsschädel abgerissen hat, zum einzig Aufrechten erklärte, das hatte Feuer: Er heile mit seiner Tat den Frevel, selbst den Holocaust der "knoppisierten" Spaßgesellschaft zu opfern.
Der Berliner Rechtsanwalt hat Geschmack gefunden am geformten Wort, das er so routiniert beherrscht. Jetzt wagt er den Übertritt von der Rhetorik zur Poetik, denn schließlich gibt es noch eine weitere Instanz, die fast alle großen Veränderungen der Gesellschaft spiegelt. Mit "Verbrechen" legt Ferdinand von Schirach eine Sammlung wuchtiger Kurzgeschichten aus der Perspektive des Strafverteidigers vor. Die meisten Überfälle passieren im Haushalt, könnte man glauben. So stapfen wir schon nach wenigen Seiten durch das Blut einer sorgfältig im Keller zerhackten Frau, Ingrid. Ihr Mann, der Täter, liebt sie immer noch. Auf wenigen Seiten skizziert der Autor das Psychogramm einer fürchterlichen Ehe, deren zugrundeliegender Schwur beide Partner zu Gefangenen machte. So lange quälte Ingrid ihren Mann mit Beleidigungen und Vorwürfen, bis der Tod sie schied - weil er eben zuhackte. Der Verteidiger, immer Teufels Advokat, verlegt sich darauf, den Angeklagten als armen Teufel dastehen zu lassen, der seine Strafe bereits vor der Tat verbüßte: "In der Sache gab es nichts zu verteidigen. Es war ein rechtsphilosophisches Problem: Was ist der Sinn von Strafe?" Die Schöffen sind beeindruckt, das Urteil fällt minimal aus: drei Jahre im offenen Vollzug. Heilte hier auch ein Täter den Frevel, diesmal Nervigkeit? Obacht, ihr nervigen Frauen.
Wenn die elf Prosastücke inhaltlich etwas verbindet, dann dieses offen parteiische Auftreten des Erzählers, der das Menschliche im Verbrecherischen sucht. Mit souveräner Nonchalance präsentiert von Schirach die kriminelle Tat als Teil eines kausalen Zusammenhangs. Auch die härtesten Fälle dürfen eben nicht isoliert betrachtet werden: Von der Todesfolter ("Wagner lag in seinem Bett, seine Oberschenkel waren mit einer Schraubzwinge zusammengepresst, in der linken Kniescheibe steckten zwei, in der rechten drei Zimmermannsnägel. Eine Garotte lag um seinen Hals, seine Zunge hing aus dem Mund") über Eifersuchtsmord, Kannibalismus, Notwehr und Euthanasie bis zum banalen Geldraub reicht die Palette des allzu Menschlichen, das schon seine Gründe hat. Auf eine leicht verdrehte Weise trifft sich das mit Michel Foucaults Kampf gegen die diskursive Exklusion des Delinquenten aus dem Bereich des Normalmenschlichen.
Allmählich aber fällt dem Leser, der ja immer eine Art poetologischer Kriminalist ist, etwas auf, ein Muster: Jede der kurzweiligen Anekdoten ist im selben Stil erzählt. Stets der Wechsel von personaler Perspektive zur auktorialen Einordnung, stets derselbe lakonische Tonfall ostentativer Unvoreingenommenheit. So stellt sich schließlich ein Gefühl ein, als würde man löslichen Kaffee in sich hineinlöffeln: pure Intensität, ungeheuer wirkungsvoll, doch nicht unbedingt ein Genuss. Es fehlt der narrative Überbau, die poetische Autonomie. Das wird extrem deutlich, wenn von Schirach seinem neusachlichen Stil doch einmal untreu wird, um expressiver zu erzählen, so in einer arg kapriziösen Dornauszieher-Parabel. Man hat also eine Sammlung von Plot-Skizzen vor sich, Drehbuch-Ideen womöglich. Eine Erzählung allerdings, die letzte, sticht heraus. Hier gelingt, was man bis dahin vermisst hat: Die Figuren werden plastisch und bringen die Handlung aus sich hervor. So entsteht eine ganz und gar unplausible, schöne Geschichte über die Kraft des Glücks.
Vielleicht aber war die poetologische Wende Ferdinand von Schirachs auch nur die effektvolle Antäuschung eines ausgebufften Rhetorikers, der letztlich nur Anwalt seiner selbst ist. Denn es gibt einen Helden in diesen Stücken, der ein ums andere Mal in hellerem Glanz erstrahlt: das Rechtssystem persönlich, und zwar im strengen Sinn persönlich. Der allzu menschlichen Tat wird nur ein menschlich aufgeweitetes Urteil gerecht. Liest man dieses Buch als ein einziges Plädoyer für das abwägende Schuldstrafrecht, das Motive und Intentionen berücksichtigt, dann muss man doch sagen: Es überzeugt. Man hält es danach fast für möglich, dass ein deutsches Gericht einem Angeklagten einen Orden dafür verleiht, dass er betrunken den Berliner Hitler-Wiedergänger enthauptet hat. Die Wirklichkeit ist profaner: Neunhundert Euro Strafe für den arbeitslosen Altenpfleger, entschied das Amtsgericht Tiergarten vor wenigen Wochen.
OLIVER JUNGEN
Ferdinand von Schirach: "Verbrechen". Stories. Piper Verlag, München/Zürich 2009. 208 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.09.2009So riecht ein Polizeirevier
Da saust die Axt: Ferdinand von Schirachs „Verbrechen”
Ein Mann packt aus. Einer, der ständig mit Verbrechern zu tun hat, ein teilnehmender Beobachter an der ewigen Front von Eifersucht, Gier, Rache, Schuld und Sühne, der die wildesten Fälle und Schicksale aus der Nähe kennt. So oder ähnlich lautet der Tenor der Rezensionen, Interviews und Porträts, die bisher zu Ferdinand von Schirachs literarischem Debüt „Verbrechen” erschienen sind. Das klingt gut, und es klingt als Leitmotiv auch so dominant, dass man das Denken danach eigentlich gleich einstellen könnte. Richtig ist es trotzdem nicht.
Das Problem ist dies: Schirach, geboren 1964 in München, ist ein bekannter Strafverteidiger mit Kanzlei in Berlin, und sein Ich-Erzähler ist ebenfalls ein bekannter Strafverteidiger mit Kanzlei in Berlin. Wenn die Ehefrau erst einmal zerstückelt, der Bruder ertränkt, der „führende Industrielle” unter Mordverdacht festgenommen ist, wird dieser Ich-Erzähler gerufen. Dann entwickelt er eine klare, meist recht nüchterne Verteidigungsstrategie, argumentiert vor Gericht, erwartet das Urteil. Was er weiß – und er weiß, gottgleich, nahezu alles über die Täter, Opfer und armen Sünder, die seinen Weg kreuzen – muss er aus den Akten wissen, aus den prozessrelevanten Details des Polizeiberichts, aus den endlosen, streng vertraulichen Mandantengesprächen, die er ohne Zweifel geführt hat. Denkt man. Es liegt ja auch nahe.
„Ich habe alles so verändert, dass die Essenz bleibt, aber nicht zu erkennen ist, um wen es geht”, behauptet Schirach denn auch geheimnisvoll von seinen Fällen. Aber kann das stimmen? Seine gutbürgerlichen Axtmörder, grausam hingerichteten Drogenhändler, Leichenzerstückler und Menschenfresser sind als Täter oder Opfer meist so spektakulär, dass man sie kaum mit ein paar geänderten Namen und Details unkenntlich machen könnte. Jemand, der die deutsche Rechtsgeschichte auch nur am Rande verfolgt, müsste sofort auf die realen Personen zurückschließen können. Und ein Strafverteidiger, der sein Insiderwissen darüber einfach in einem Buch publizierte, machte sich selbst schwer strafbar.
So tut man wahrscheinlich gut daran, den Gestus der Enthüllung hier nicht allzu wörtlich zu nehmen – auch deshalb, weil er von der Würdigung des Autors Schirach nur ablenkt. Will man diesem gerecht werden, hält man sich besser an den Untertitel des Buchs, der schlicht „Stories” heißt: Ein Fabulierer also, ein Storyteller.
Aber einer, der sein Wissen über Verbrecherpersönlichkeiten und Affekthandlungen, über Kommissare und Ermittlungsmethoden, Richter und Schöffen eben nicht, wie wir alle, aus zweiter oder dritter Hand bezogen hat, aus der längst zur Ersatzwirklichkeit erstarrten „Tatort”-Welt, sondern aus der lebendigen Praxis. Was seine Geschichten in einem Umfeld, in dem scheinbar jeder Halbprominente im Urlaub auch noch Krimis zusammenschustern muss, wunderbar erfrischend erscheinen lässt. Lauwarmer Filterkaffee aus Maschinen mit eingebrannten Wärmeplatten, Helit-Stifteköcher aus hellgrünem Plastik, rahmenlose Glashalter mit selbstfotografierten Sonnenuntergängen an der Wand – Schirach braucht beispielsweise nur wenige Zeilen, um vor den Augen des Lesers ein deutsches Polizeirevier erstehen zu lassen, das man in seiner kläglichen Plausibilität fast riechen kann.
Genauso präzise beschreibt von Schirach im nächsten Absatz einen Hauptkommissar, den „Mann für Geständnisse”, der Vernehmungen beim ersten Zugriff hasst und lieber den jüngeren Kollegen überlässt; oder den Ermittlungsrichter im Norwegerpulli, mit ewig zu niedrigem Blutdruck, der in seiner Rede zum zwanzigjährigen Dienstjubiläum nur sagt, er habe seinen Beruf noch nie gemocht. Glänzende Miniaturen sind das, die eine Wahrheit jenseits der Klischees für sich beanspruchen – wie auch jene Beschreibung einer Gerichtsmedizin, in der tatsächlich Stille und Respekt vor den Toten herrscht. „Witze am Obduktionstisch waren etwas für Kriminalromane”, stellt Schirach lakonisch fest.
Hier taucht die Suggestion, etwas ganz anderes zu bieten als Kriminalliteratur, en passant wieder auf – aber sie führt am Ende doch in die Irre. In seinen besten Momenten nämlich blickt Schirach so tief ins Innerste seiner Figuren, wie auch der einfühlsamste Strafverteidiger nicht blicken kann – und macht gerade dort genuin literarische Entdeckungen. Wenn da ein schwäbischer Zahnarzt – 2800 Krankenscheine pro Jahr, Praxis an der Hauptstraße, Vorsitzender des Kulturkreises Ägypten, Mitglied im Lionsclub – mit Eselsgeduld seine Ehehölle erträgt, bis eines Tages die Stimme seiner Frau wie „blankes Metall” an sein Ohr dringt, und „ganz tief unten” etwas „hart und scharf zu leuchten” beginnt, dann weiß man schon, dass im nächsten Moment gleich die Axt niedersausen wird.
Das sind dann die Momente, die im Gedächtnis bleiben. Wenn dieser Zahnarzt erfunden ist – und in seiner äußeren Gestalt kann er eigentlich nur erfunden sein –, dann ist er ziemlich brillant erfunden. Genauso wie ein wunderbar verpeiltes türkisch-griechisches Kleinkriminellen-Trio aus Neukölln, das bei einem Einbruch einmal an den Falschen gerät; oder ein Geschwisterpaar mit millionenschwerem Bauunternehmer-Vater im Hintergrund, dessen Jeunesse dorée sich unter Schirachs teilnahmsvoll gnadenlosem Blick als eine wahre Hölle entpuppt.
Die Heldin dieser letztgenannten Geschichte, eine Mörderin aus Liebe, darf am Ende sogar den „Großen Gatsby” zitieren – und genau diese Stimmung ist es eigentlich, nach der auch Ferdinand von Schirachs Geschichten streben: Ein wissender, freundlicher Fatalismus, den keine Grausamkeit und keine Niedertracht mehr schrecken kann, der aber durchaus auch Lust aus der Entwirrung menschlicher Verstrickungen zieht – und lindernde Kühle aus der Unausweichlichkeit seiner Erkenntnisse: Mörder morden. Richter richten. Und Verteidiger müssen verteidigen. So ist das nun mal. TOBIAS KNIEBE
FERDINAND VON SCHIRACH: Verbrechen. Stories. Piper Verlag, München 2009. 208 Seiten, 16,95 Euro.
„Witze am Obduktionstisch waren etwas für Kriminalromane.”
Ferdinand von Schirach in seiner Berliner Kanzlei Foto: Marcus Brandt/ddp
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Da saust die Axt: Ferdinand von Schirachs „Verbrechen”
Ein Mann packt aus. Einer, der ständig mit Verbrechern zu tun hat, ein teilnehmender Beobachter an der ewigen Front von Eifersucht, Gier, Rache, Schuld und Sühne, der die wildesten Fälle und Schicksale aus der Nähe kennt. So oder ähnlich lautet der Tenor der Rezensionen, Interviews und Porträts, die bisher zu Ferdinand von Schirachs literarischem Debüt „Verbrechen” erschienen sind. Das klingt gut, und es klingt als Leitmotiv auch so dominant, dass man das Denken danach eigentlich gleich einstellen könnte. Richtig ist es trotzdem nicht.
Das Problem ist dies: Schirach, geboren 1964 in München, ist ein bekannter Strafverteidiger mit Kanzlei in Berlin, und sein Ich-Erzähler ist ebenfalls ein bekannter Strafverteidiger mit Kanzlei in Berlin. Wenn die Ehefrau erst einmal zerstückelt, der Bruder ertränkt, der „führende Industrielle” unter Mordverdacht festgenommen ist, wird dieser Ich-Erzähler gerufen. Dann entwickelt er eine klare, meist recht nüchterne Verteidigungsstrategie, argumentiert vor Gericht, erwartet das Urteil. Was er weiß – und er weiß, gottgleich, nahezu alles über die Täter, Opfer und armen Sünder, die seinen Weg kreuzen – muss er aus den Akten wissen, aus den prozessrelevanten Details des Polizeiberichts, aus den endlosen, streng vertraulichen Mandantengesprächen, die er ohne Zweifel geführt hat. Denkt man. Es liegt ja auch nahe.
„Ich habe alles so verändert, dass die Essenz bleibt, aber nicht zu erkennen ist, um wen es geht”, behauptet Schirach denn auch geheimnisvoll von seinen Fällen. Aber kann das stimmen? Seine gutbürgerlichen Axtmörder, grausam hingerichteten Drogenhändler, Leichenzerstückler und Menschenfresser sind als Täter oder Opfer meist so spektakulär, dass man sie kaum mit ein paar geänderten Namen und Details unkenntlich machen könnte. Jemand, der die deutsche Rechtsgeschichte auch nur am Rande verfolgt, müsste sofort auf die realen Personen zurückschließen können. Und ein Strafverteidiger, der sein Insiderwissen darüber einfach in einem Buch publizierte, machte sich selbst schwer strafbar.
So tut man wahrscheinlich gut daran, den Gestus der Enthüllung hier nicht allzu wörtlich zu nehmen – auch deshalb, weil er von der Würdigung des Autors Schirach nur ablenkt. Will man diesem gerecht werden, hält man sich besser an den Untertitel des Buchs, der schlicht „Stories” heißt: Ein Fabulierer also, ein Storyteller.
Aber einer, der sein Wissen über Verbrecherpersönlichkeiten und Affekthandlungen, über Kommissare und Ermittlungsmethoden, Richter und Schöffen eben nicht, wie wir alle, aus zweiter oder dritter Hand bezogen hat, aus der längst zur Ersatzwirklichkeit erstarrten „Tatort”-Welt, sondern aus der lebendigen Praxis. Was seine Geschichten in einem Umfeld, in dem scheinbar jeder Halbprominente im Urlaub auch noch Krimis zusammenschustern muss, wunderbar erfrischend erscheinen lässt. Lauwarmer Filterkaffee aus Maschinen mit eingebrannten Wärmeplatten, Helit-Stifteköcher aus hellgrünem Plastik, rahmenlose Glashalter mit selbstfotografierten Sonnenuntergängen an der Wand – Schirach braucht beispielsweise nur wenige Zeilen, um vor den Augen des Lesers ein deutsches Polizeirevier erstehen zu lassen, das man in seiner kläglichen Plausibilität fast riechen kann.
Genauso präzise beschreibt von Schirach im nächsten Absatz einen Hauptkommissar, den „Mann für Geständnisse”, der Vernehmungen beim ersten Zugriff hasst und lieber den jüngeren Kollegen überlässt; oder den Ermittlungsrichter im Norwegerpulli, mit ewig zu niedrigem Blutdruck, der in seiner Rede zum zwanzigjährigen Dienstjubiläum nur sagt, er habe seinen Beruf noch nie gemocht. Glänzende Miniaturen sind das, die eine Wahrheit jenseits der Klischees für sich beanspruchen – wie auch jene Beschreibung einer Gerichtsmedizin, in der tatsächlich Stille und Respekt vor den Toten herrscht. „Witze am Obduktionstisch waren etwas für Kriminalromane”, stellt Schirach lakonisch fest.
Hier taucht die Suggestion, etwas ganz anderes zu bieten als Kriminalliteratur, en passant wieder auf – aber sie führt am Ende doch in die Irre. In seinen besten Momenten nämlich blickt Schirach so tief ins Innerste seiner Figuren, wie auch der einfühlsamste Strafverteidiger nicht blicken kann – und macht gerade dort genuin literarische Entdeckungen. Wenn da ein schwäbischer Zahnarzt – 2800 Krankenscheine pro Jahr, Praxis an der Hauptstraße, Vorsitzender des Kulturkreises Ägypten, Mitglied im Lionsclub – mit Eselsgeduld seine Ehehölle erträgt, bis eines Tages die Stimme seiner Frau wie „blankes Metall” an sein Ohr dringt, und „ganz tief unten” etwas „hart und scharf zu leuchten” beginnt, dann weiß man schon, dass im nächsten Moment gleich die Axt niedersausen wird.
Das sind dann die Momente, die im Gedächtnis bleiben. Wenn dieser Zahnarzt erfunden ist – und in seiner äußeren Gestalt kann er eigentlich nur erfunden sein –, dann ist er ziemlich brillant erfunden. Genauso wie ein wunderbar verpeiltes türkisch-griechisches Kleinkriminellen-Trio aus Neukölln, das bei einem Einbruch einmal an den Falschen gerät; oder ein Geschwisterpaar mit millionenschwerem Bauunternehmer-Vater im Hintergrund, dessen Jeunesse dorée sich unter Schirachs teilnahmsvoll gnadenlosem Blick als eine wahre Hölle entpuppt.
Die Heldin dieser letztgenannten Geschichte, eine Mörderin aus Liebe, darf am Ende sogar den „Großen Gatsby” zitieren – und genau diese Stimmung ist es eigentlich, nach der auch Ferdinand von Schirachs Geschichten streben: Ein wissender, freundlicher Fatalismus, den keine Grausamkeit und keine Niedertracht mehr schrecken kann, der aber durchaus auch Lust aus der Entwirrung menschlicher Verstrickungen zieht – und lindernde Kühle aus der Unausweichlichkeit seiner Erkenntnisse: Mörder morden. Richter richten. Und Verteidiger müssen verteidigen. So ist das nun mal. TOBIAS KNIEBE
FERDINAND VON SCHIRACH: Verbrechen. Stories. Piper Verlag, München 2009. 208 Seiten, 16,95 Euro.
„Witze am Obduktionstisch waren etwas für Kriminalromane.”
Ferdinand von Schirach in seiner Berliner Kanzlei Foto: Marcus Brandt/ddp
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Oliver Jungen kann sich mit Ferdinand von Schirachs Kurzgeschichten nicht recht anfreunden, denn im Lauf der Lektüre fällt ihm auf, dass die Stories, die allesamt Verbrechen aus der Sicht eines Strafverteidigers schildern, im gleichen Ton der "ostentativen Unvoreingenommenheit" geschrieben sind. Auf ihn wirken die betont sachlichen Schilderungen der Verbrechen, die stets das "Menschliche" hinter der Tat herauszustellen suchen, sei es die Ermordung der Ehefrau, Kannibalismus oder schnöder Raub, letztlich wie Plotextrakte oder Drehbuchentwürfe, die in ihrer konzentrierten Abfolge schwer zu goutieren seien. Jungen fehlt der "narrative Überbau" und die literarische Eigenständigkeit, zudem lassen die vorgestellten Figuren an Plastizität vermissen, wie er kritisiert. Hier sticht für den Rezensenten lediglich die Abschlussgeschichte hervor, die ihn als "unplausible, schöne" Erzählung überzeugt. Als "Plädoyer für das abwägende Schuldstrafrecht" allerdings, das "Motive und Intentionen" der Verbrecher beim Schuldspruch berücksichtigt, gewinnen die Kurzgeschichten den Rezensenten durchaus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Seine kühlen, klaren Texte wirkten wie mit dem Meissel gehauen. Trotzdem berührten sie stärker als alles, was auf Rührung aus war. Seine Geschichten waren nur wenige Seiten lang. Trotzdem erzählten sie mehr über Leben und Tod als manch weitschweifender Roman der deutschen Gegenwartsliteratur.", NZZ Folio, 03.02.2014