Der Katalog »Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944« dokumentiert die gleichnamige Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die am 28. November 2001 in Berlin eröffnet wurde und bis März 2004 an elf Orten in Deutschland sowie in Wien und Luxemburg gezeigt wurde. Insgesamt sahen über 420.000 Menschen diese Ausstellung, die in der Öffentlichkeit zu heftigen Kontroversen führte.
Der Krieg gegen die Sowjetunion unterschied sich von allen Kriegen der europäischen Moderne, auch von denen, die die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges in anderen Ländern führte. Es war ein Krieg, der sich nicht nur gegen eine andere Armee, sondern auch gegen Teile der Zivilbevölkerung richtete. Die jüdische Bevölkerung sollte eliminiert, die nicht jüdische durch Hunger und Terror dezimiert und zur Zwangsarbeit eingesetzt werden. Dieses verbrecherische Vorgehen ergab sich nicht aus der Eskalation des Kriegsgeschehens, sondern war bereits Bestandteil der Kriegsplanungen.
Ausgehend vom damals geltenden Kriegs- und Völkerrecht wird die Beteiligung der Wehrmacht an den im Zweiten Weltkrieg auf Kriegsschauplätzen im Osten und in Südosteuropa verübten Verbrechen in 10 Kapiteln untersucht:
- Krieg und Recht
- Kein Krieg im herkömmlichen Sinne
- Völkermord
- Sowjetische Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft
- Ernährungskrieg
- Deportationen
- Partisanenkrieg
- Repressalien und Geiselerschießungen
- Handlungsspielräume
- Nachkriegszeit
Die zahlreichen Dokumente der Ausstellung bewiesen die unmittelbare und systematische Beteiligung der Wehrmacht an vielen Massakern und Kriegsverbrechen und räumten mit dem Mythos einer angeblich "sauberen" Wehrmacht auf. Bis heute wirkt der Umgang mit den strafrechtlichen, politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen dieser Organisation nach.
Der Krieg gegen die Sowjetunion unterschied sich von allen Kriegen der europäischen Moderne, auch von denen, die die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges in anderen Ländern führte. Es war ein Krieg, der sich nicht nur gegen eine andere Armee, sondern auch gegen Teile der Zivilbevölkerung richtete. Die jüdische Bevölkerung sollte eliminiert, die nicht jüdische durch Hunger und Terror dezimiert und zur Zwangsarbeit eingesetzt werden. Dieses verbrecherische Vorgehen ergab sich nicht aus der Eskalation des Kriegsgeschehens, sondern war bereits Bestandteil der Kriegsplanungen.
Ausgehend vom damals geltenden Kriegs- und Völkerrecht wird die Beteiligung der Wehrmacht an den im Zweiten Weltkrieg auf Kriegsschauplätzen im Osten und in Südosteuropa verübten Verbrechen in 10 Kapiteln untersucht:
- Krieg und Recht
- Kein Krieg im herkömmlichen Sinne
- Völkermord
- Sowjetische Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft
- Ernährungskrieg
- Deportationen
- Partisanenkrieg
- Repressalien und Geiselerschießungen
- Handlungsspielräume
- Nachkriegszeit
Die zahlreichen Dokumente der Ausstellung bewiesen die unmittelbare und systematische Beteiligung der Wehrmacht an vielen Massakern und Kriegsverbrechen und räumten mit dem Mythos einer angeblich "sauberen" Wehrmacht auf. Bis heute wirkt der Umgang mit den strafrechtlichen, politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen dieser Organisation nach.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2002Täter und Retter in der Wehrmacht
Hitlers Soldaten: Die Suche nach einem ausgewogenen Bild der Vergangenheit geht weiter
Hamburger Institut für Sozialforschung (Herausgeber): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. Hamburger Edition, Hamburg 2002. 749 Seiten, 30,- Euro.
Wolfram Wette (Herausgeber): Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002. 247 Seiten, 13,90 Euro.
Die These der Horrorbilderschau war einprägsam und schlicht: Mörder in Uniform. Der Titel der Ausstellung: "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" wurde schnell verkürzt und damit entstellt zu "Wehrmachtsausstellung", so als ob die 18 Millionen Soldaten alle Täter gewesen seien, so als ob sich die Geschichte der bewaffneten Macht im "Dritten Reich" ganz auf fürchterliche Morde und Massaker reduzieren ließe.
Von 1995 bis 1999 gastierte die von Jan Philipp Reemtsma finanzierte Wanderausstellung in über 30 Städten, war ein Publikumsmagnet, bis sie an der Arroganz der Aussteller gegenüber ihren Kritikern und an einigen falschen Bildunterschriften kläglich scheiterte. Reemtsma ordnete den einstweiligen Rückzug aus dem Besucherverkehr an, setzte eine Expertenkommission zur Überprüfung ein, trennte sich vom Hauptpropagandisten Hannes Heer und übernahm schließlich die Gesamtleitung eines fünfzehnköpfigen jungen Forscherteams in der Neubearbeitungsphase.
Ende November 2001 startete Reemtsma zu einem zweiten Anlauf in Form einer - nun eher zurückhaltend bebilderten - umfangreichen Dokumentenschau, die er vor der Eröffnung von einem selbsternannten Historikergremium fachwissenschaftlich vorprüfen ließ. Sechs "Dimensionen des Vernichtungskriegs" wurden herausgearbeitet: Völkermord an sowjetischen Juden, Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, Ernährungskrieg, Deportationen und Zwangsarbeit, Partisanenkrieg sowie Repressalien und Geiselerschießungen.
Die Ausstellung wird nun in einem großformatigen Katalog auf fast 800 Seiten protokolliert. So wird die genaue Lektüre der Dokumente, häufig auch als farbige Faksimiles wiedergegeben, ermöglicht, die den Ausstellungsbesucher schon von der dargebotenen Menge her überfordern muß. Daß der professionell recherchierte und aufwendig gestaltete Katalog nicht durch ein Personen- und Ortsregister erschlossen worden ist, muß als Mangel konstatiert werden. Inhaltlich bleibt die Wechselwirkung von Kriegführung und Besatzungspolitik weiterhin vollkommen unterbelichtet, weil die Zweitversion wieder fast ausschließlich die Grausamkeiten thematisiert. Daher kommen der militärische Auftrag der Wehrmacht und der Kriegsalltag der Masse der Soldaten an der Front nur ganz am Rande vor. Das wird bereits im Titel der Ausstellung - "Verbrechen der Wehrmacht" - zum Ausdruck gebracht, wenn es auch eigentlich "von Wehrmachtsangehörigen" heißen müßte. Denn es war nicht die Wehrmacht, sondern - nach vorsichtigen Expertenschätzungen - bis zu ein Prozent der deutschen Soldaten, die zu Vernichtungs-Tätern wurden. Das ist eine stattliche Minderheit von höchstens 180 000 Männern, die Hannes Heer einmal unlauter auf "80 Prozent" und damit zur großen Mehrheit deklarierte. Einerseits läßt sich von der zweifellos hitlerhörigen, stark korrumpierten und vielfach in Vernichtungsaktionen fest eingebundenen Generalität keineswegs auf die Truppe insgesamt schließen. Andererseits fallen - was längst bekannt ist, aber immer wieder vergessen wird - sogar auf manche Verschwörer gegen Hitler lange Schatten: Der Generalquartiermeister des Heeres, Eduard Wagner, der nach dem mißglückten Attentat vom 20. Juli 1944 seiner Verhaftung durch Selbstmord zuvorkam, hatte 1941/42 das Wüten der Einsatzgruppen in den besetzten Gebieten und das Verhungern der sowjetischen Zivilbevölkerung "im Operationsgebiet" billigend in Kauf genommen.
Der zentralen Frage der Quantifizierung geht die neue Ausstellung aus dem Wege: "Die Forschung läßt allerdings keine Aussagen über die Anzahl der an diesen Verbrechen beteiligten Wehrmachtssoldaten zu", erläutert der Ausstellungskatalog nebenbei und verzichtet auf eine notwendige Korrektur des über Jahre von Reemtsmas "Hamburger Institut für Sozialforschung" mit Nachdruck propagierten Zerrbildes von der mehr oder weniger kollektiv schuldig gewordenen "schmutzigen Wehrmacht". Immerhin zeigt das Ausstellungsteam jetzt Handlungsspielräume auf, die von einzelnen Befehlsempfängern "nach verschiedenen Seiten genutzt" worden seien: von der Übererfüllung bis zur Teil- und Nichterfüllung. Beispielsweise rettete der in Wien geborene Feldwebel Anton Schmid als Leiter der "Versprengtensammelstelle" in Wilna Hunderten Juden das Leben, bis er - wie er seiner Frau in einem Brief bekannte - wegen seines "weichen Herzens" gegenüber den Verfolgten im Frühjahr 1942 hingerichtet wurde: " . . . ich habe nur als Mensch gehandelt und wollte ja niemandem weh tun."
Der Oberstleutnant im Generalstab Helmuth Groscurth versuchte im August 1941 in Belaja Zerkow vergeblich, die Erschießung von jüdischen Frauen und Kindern mit dem Hinweis auf die "Aufrechterhaltung der Manneszucht der Truppe" zu stoppen. Major Max Liedtke und sein Adjutant Albert Battel ließen es in Przemysl im Juli 1942 sogar auf eine offene Konfrontation der ihnen unterstellten Wehrmachtssoldaten mit SS-Angehörigen und Polizisten ankommen, um einige hundert Juden mit der vorgeschobenen Begründung von den dringend benötigten Arbeitskräften vor der Vernichtung zu bewahren.
Wer sich solche beeindruckenden Beispiele von Zivilcourage nicht durch die Lektüre einzelner unkommentierter und zurückhaltend-kurz eingeführter Dokumente im Ausstellungskatalog erschließen will, sondern engagiert erzählte Lebensgeschichten bevorzugt, dem sei die Aufsatzsammlung über "Retter in Uniform" empfohlen, in der Battel, Liedtke und Schmid als "prominenteste" Fälle angemessen berücksichtigt werden. Stoff für ein Drehbuch findet sich in dem Beitrag über den "Luftwaffenfeldwebel und Baurat Karl Laabs. Ein Jugendbewegter als Judenretter im polnischen Krenau". Autor Reinhold Lütgemeier-Davin schildert die tollkühnen Taten eines Frauenhelden, Lebenskünstlers und "gerissenen Schalks", der es offensichtlich genoß, lokale SS-Größen irreführen zu können.
Als Kreisbaurat im Landratsamt Krenau dienstverpflichtet, erwarb Laabs ein abgelegenes, circa 40 000 Quadratmeter großes und hoch eingefriedetes Grundstück als Versteck und Treffpunkt für Verfolgte. Das weiträumige Areal "- mit Feld, Wiesen, Karpfenteichen, Wohnhaus, Ställen und Scheune - lag zwischen der Hauptstraße und der Bahnstrecke nach Auschwitz, also zwischen den Wegen, auf denen der Transport von Juden in das Vernichtungslager erfolgte. Die Auschwitzer Straße 36 wurde zu einer Enklave der Menschlichkeit, zur Fluchtstätte für Juden und Polen." Nach 1945 sträubte sich Laabs übrigens gegen die Bezeichnung, ein Held gewesen zu sein: "Seine Handlungsweise wollte er nur als Akt reiner Menschlichkeit gedeutet wissen. Helden waren für ihn gestorben" - wie sein in Belgien gefallener Bruder.
In einem Geleitwort lobt Fritz Stern solche Menschen, "die sich anpaßten, feige oder fröhlich ,mitgemacht' haben - und die dann in irgendeinem Augenblick den Mut zur Selbstüberwindung und zum aktiven Anstand fanden". Die verspätet einsetzende wissenschaftliche Beschäftigung mit den "Empörten, Helfern und Rettern" sei eine Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft: "Wenn wir mehr wissen über die wahrscheinlich beachtliche Minderheit, die in Europa im Zweiten Weltkrieg ihren Anstand behielt und bewies, dann könnten wir vielleicht an ein Ehrenmal der Gerechten denken, an ein Grab des unbekannten Retters."
Einen solchen Optimismus hält Herausgeber Wolfram Wette offensichtlich für übertrieben. Als Anhänger der ausrangierten alten "Wehrmachtsausstellung" befürchtet er, daß der frisch von ihm definierte "Rettungswiderstand" mißverstanden werden könne, "zumal vor dem Hintergrund des großen gesellschaftlichen Ereignisses, daß das Image der ,sauberen Wehrmacht' in den öffentlichen Debatten der Jahre 1995-1999 doch gerade erst hinterfragt und als Legende enttarnt worden" sei. Jedoch hätten nur "einige wenige" bewiesen, "daß es zum bedingungslosen Gehorsam gegenüber verbrecherischen Befehlen eine Alternative" gegeben habe. Daher bläst Wette vorsichtshalber zu einem verbalen Präventivschlag gegen die "Millionen von Gehorchern" in der Wehrmacht. Ihnen werde - so der Klappentext des Buches kämpferisch - der Spiegel vorgehalten durch das couragierte Verhalten von "um die hundert Soldaten".
Diese geringe Anzahl widerlegt bereits Thomas Kühne in dem lesenswerten Beitrag "Der Judenretter und seine Kameraden. Gemeinschaftsmoral und Gemeinschaftsterror in der Wehrmacht": Ein "beträchtliches Verweigerungspotential gegenüber dem Mitmachen und Mitkämpfen" lasse sich anhand von Gerichtsurteilen der Militärjustiz feststellen. Und Florian Rohdenburg hebt bei der Würdigung des Ortskommandanten von Horodenka, Hauptmann Fritz Fiedler, hervor: Er "wäre nicht fähig gewesen, auch nur einen Juden zu retten, wenn die Soldaten seiner Dienststelle ihm nicht geholfen hätten. Er konnte sich auf sie verlassen und wußte, daß keiner ihn denunzieren würde."
Die Täter und Retter verdienen gleichermaßen die Aufmerksamkeit einer Zeitgeschichtsforschung, die sich auf die Annäherung an die Wirklichkeit des Krieges und damit weder auf eine Belastung noch eine Entlastung der Institution Wehrmacht konzentrieren sollte. Dann läßt sich endlich Fritz Sterns berechtigte Forderung erfüllen: "Wir brauchen ein so weit wie möglich ausgewogenes Bild der Vergangenheit."
RAINER BLASIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hitlers Soldaten: Die Suche nach einem ausgewogenen Bild der Vergangenheit geht weiter
Hamburger Institut für Sozialforschung (Herausgeber): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. Hamburger Edition, Hamburg 2002. 749 Seiten, 30,- Euro.
Wolfram Wette (Herausgeber): Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002. 247 Seiten, 13,90 Euro.
Die These der Horrorbilderschau war einprägsam und schlicht: Mörder in Uniform. Der Titel der Ausstellung: "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" wurde schnell verkürzt und damit entstellt zu "Wehrmachtsausstellung", so als ob die 18 Millionen Soldaten alle Täter gewesen seien, so als ob sich die Geschichte der bewaffneten Macht im "Dritten Reich" ganz auf fürchterliche Morde und Massaker reduzieren ließe.
Von 1995 bis 1999 gastierte die von Jan Philipp Reemtsma finanzierte Wanderausstellung in über 30 Städten, war ein Publikumsmagnet, bis sie an der Arroganz der Aussteller gegenüber ihren Kritikern und an einigen falschen Bildunterschriften kläglich scheiterte. Reemtsma ordnete den einstweiligen Rückzug aus dem Besucherverkehr an, setzte eine Expertenkommission zur Überprüfung ein, trennte sich vom Hauptpropagandisten Hannes Heer und übernahm schließlich die Gesamtleitung eines fünfzehnköpfigen jungen Forscherteams in der Neubearbeitungsphase.
Ende November 2001 startete Reemtsma zu einem zweiten Anlauf in Form einer - nun eher zurückhaltend bebilderten - umfangreichen Dokumentenschau, die er vor der Eröffnung von einem selbsternannten Historikergremium fachwissenschaftlich vorprüfen ließ. Sechs "Dimensionen des Vernichtungskriegs" wurden herausgearbeitet: Völkermord an sowjetischen Juden, Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, Ernährungskrieg, Deportationen und Zwangsarbeit, Partisanenkrieg sowie Repressalien und Geiselerschießungen.
Die Ausstellung wird nun in einem großformatigen Katalog auf fast 800 Seiten protokolliert. So wird die genaue Lektüre der Dokumente, häufig auch als farbige Faksimiles wiedergegeben, ermöglicht, die den Ausstellungsbesucher schon von der dargebotenen Menge her überfordern muß. Daß der professionell recherchierte und aufwendig gestaltete Katalog nicht durch ein Personen- und Ortsregister erschlossen worden ist, muß als Mangel konstatiert werden. Inhaltlich bleibt die Wechselwirkung von Kriegführung und Besatzungspolitik weiterhin vollkommen unterbelichtet, weil die Zweitversion wieder fast ausschließlich die Grausamkeiten thematisiert. Daher kommen der militärische Auftrag der Wehrmacht und der Kriegsalltag der Masse der Soldaten an der Front nur ganz am Rande vor. Das wird bereits im Titel der Ausstellung - "Verbrechen der Wehrmacht" - zum Ausdruck gebracht, wenn es auch eigentlich "von Wehrmachtsangehörigen" heißen müßte. Denn es war nicht die Wehrmacht, sondern - nach vorsichtigen Expertenschätzungen - bis zu ein Prozent der deutschen Soldaten, die zu Vernichtungs-Tätern wurden. Das ist eine stattliche Minderheit von höchstens 180 000 Männern, die Hannes Heer einmal unlauter auf "80 Prozent" und damit zur großen Mehrheit deklarierte. Einerseits läßt sich von der zweifellos hitlerhörigen, stark korrumpierten und vielfach in Vernichtungsaktionen fest eingebundenen Generalität keineswegs auf die Truppe insgesamt schließen. Andererseits fallen - was längst bekannt ist, aber immer wieder vergessen wird - sogar auf manche Verschwörer gegen Hitler lange Schatten: Der Generalquartiermeister des Heeres, Eduard Wagner, der nach dem mißglückten Attentat vom 20. Juli 1944 seiner Verhaftung durch Selbstmord zuvorkam, hatte 1941/42 das Wüten der Einsatzgruppen in den besetzten Gebieten und das Verhungern der sowjetischen Zivilbevölkerung "im Operationsgebiet" billigend in Kauf genommen.
Der zentralen Frage der Quantifizierung geht die neue Ausstellung aus dem Wege: "Die Forschung läßt allerdings keine Aussagen über die Anzahl der an diesen Verbrechen beteiligten Wehrmachtssoldaten zu", erläutert der Ausstellungskatalog nebenbei und verzichtet auf eine notwendige Korrektur des über Jahre von Reemtsmas "Hamburger Institut für Sozialforschung" mit Nachdruck propagierten Zerrbildes von der mehr oder weniger kollektiv schuldig gewordenen "schmutzigen Wehrmacht". Immerhin zeigt das Ausstellungsteam jetzt Handlungsspielräume auf, die von einzelnen Befehlsempfängern "nach verschiedenen Seiten genutzt" worden seien: von der Übererfüllung bis zur Teil- und Nichterfüllung. Beispielsweise rettete der in Wien geborene Feldwebel Anton Schmid als Leiter der "Versprengtensammelstelle" in Wilna Hunderten Juden das Leben, bis er - wie er seiner Frau in einem Brief bekannte - wegen seines "weichen Herzens" gegenüber den Verfolgten im Frühjahr 1942 hingerichtet wurde: " . . . ich habe nur als Mensch gehandelt und wollte ja niemandem weh tun."
Der Oberstleutnant im Generalstab Helmuth Groscurth versuchte im August 1941 in Belaja Zerkow vergeblich, die Erschießung von jüdischen Frauen und Kindern mit dem Hinweis auf die "Aufrechterhaltung der Manneszucht der Truppe" zu stoppen. Major Max Liedtke und sein Adjutant Albert Battel ließen es in Przemysl im Juli 1942 sogar auf eine offene Konfrontation der ihnen unterstellten Wehrmachtssoldaten mit SS-Angehörigen und Polizisten ankommen, um einige hundert Juden mit der vorgeschobenen Begründung von den dringend benötigten Arbeitskräften vor der Vernichtung zu bewahren.
Wer sich solche beeindruckenden Beispiele von Zivilcourage nicht durch die Lektüre einzelner unkommentierter und zurückhaltend-kurz eingeführter Dokumente im Ausstellungskatalog erschließen will, sondern engagiert erzählte Lebensgeschichten bevorzugt, dem sei die Aufsatzsammlung über "Retter in Uniform" empfohlen, in der Battel, Liedtke und Schmid als "prominenteste" Fälle angemessen berücksichtigt werden. Stoff für ein Drehbuch findet sich in dem Beitrag über den "Luftwaffenfeldwebel und Baurat Karl Laabs. Ein Jugendbewegter als Judenretter im polnischen Krenau". Autor Reinhold Lütgemeier-Davin schildert die tollkühnen Taten eines Frauenhelden, Lebenskünstlers und "gerissenen Schalks", der es offensichtlich genoß, lokale SS-Größen irreführen zu können.
Als Kreisbaurat im Landratsamt Krenau dienstverpflichtet, erwarb Laabs ein abgelegenes, circa 40 000 Quadratmeter großes und hoch eingefriedetes Grundstück als Versteck und Treffpunkt für Verfolgte. Das weiträumige Areal "- mit Feld, Wiesen, Karpfenteichen, Wohnhaus, Ställen und Scheune - lag zwischen der Hauptstraße und der Bahnstrecke nach Auschwitz, also zwischen den Wegen, auf denen der Transport von Juden in das Vernichtungslager erfolgte. Die Auschwitzer Straße 36 wurde zu einer Enklave der Menschlichkeit, zur Fluchtstätte für Juden und Polen." Nach 1945 sträubte sich Laabs übrigens gegen die Bezeichnung, ein Held gewesen zu sein: "Seine Handlungsweise wollte er nur als Akt reiner Menschlichkeit gedeutet wissen. Helden waren für ihn gestorben" - wie sein in Belgien gefallener Bruder.
In einem Geleitwort lobt Fritz Stern solche Menschen, "die sich anpaßten, feige oder fröhlich ,mitgemacht' haben - und die dann in irgendeinem Augenblick den Mut zur Selbstüberwindung und zum aktiven Anstand fanden". Die verspätet einsetzende wissenschaftliche Beschäftigung mit den "Empörten, Helfern und Rettern" sei eine Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft: "Wenn wir mehr wissen über die wahrscheinlich beachtliche Minderheit, die in Europa im Zweiten Weltkrieg ihren Anstand behielt und bewies, dann könnten wir vielleicht an ein Ehrenmal der Gerechten denken, an ein Grab des unbekannten Retters."
Einen solchen Optimismus hält Herausgeber Wolfram Wette offensichtlich für übertrieben. Als Anhänger der ausrangierten alten "Wehrmachtsausstellung" befürchtet er, daß der frisch von ihm definierte "Rettungswiderstand" mißverstanden werden könne, "zumal vor dem Hintergrund des großen gesellschaftlichen Ereignisses, daß das Image der ,sauberen Wehrmacht' in den öffentlichen Debatten der Jahre 1995-1999 doch gerade erst hinterfragt und als Legende enttarnt worden" sei. Jedoch hätten nur "einige wenige" bewiesen, "daß es zum bedingungslosen Gehorsam gegenüber verbrecherischen Befehlen eine Alternative" gegeben habe. Daher bläst Wette vorsichtshalber zu einem verbalen Präventivschlag gegen die "Millionen von Gehorchern" in der Wehrmacht. Ihnen werde - so der Klappentext des Buches kämpferisch - der Spiegel vorgehalten durch das couragierte Verhalten von "um die hundert Soldaten".
Diese geringe Anzahl widerlegt bereits Thomas Kühne in dem lesenswerten Beitrag "Der Judenretter und seine Kameraden. Gemeinschaftsmoral und Gemeinschaftsterror in der Wehrmacht": Ein "beträchtliches Verweigerungspotential gegenüber dem Mitmachen und Mitkämpfen" lasse sich anhand von Gerichtsurteilen der Militärjustiz feststellen. Und Florian Rohdenburg hebt bei der Würdigung des Ortskommandanten von Horodenka, Hauptmann Fritz Fiedler, hervor: Er "wäre nicht fähig gewesen, auch nur einen Juden zu retten, wenn die Soldaten seiner Dienststelle ihm nicht geholfen hätten. Er konnte sich auf sie verlassen und wußte, daß keiner ihn denunzieren würde."
Die Täter und Retter verdienen gleichermaßen die Aufmerksamkeit einer Zeitgeschichtsforschung, die sich auf die Annäherung an die Wirklichkeit des Krieges und damit weder auf eine Belastung noch eine Entlastung der Institution Wehrmacht konzentrieren sollte. Dann läßt sich endlich Fritz Sterns berechtigte Forderung erfüllen: "Wir brauchen ein so weit wie möglich ausgewogenes Bild der Vergangenheit."
RAINER BLASIUS
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der Katalog zur neuen Wehrmachtsausstellung hat nach Ansicht von Rezensent Heribert Seifert alle Vorzüge, die auch der Ausstellung nach ihrer Eröffnung bescheinigt worden sind, nämlich dass wissenschaftliche Sorgfalt und eine "wenigstens exemplarisch vorgeführte Quellenkritik" auf Erkenntnis zielten, statt auf "Überwältigung durch den Schock der Gräuel". Der Katalog folgt, so Seifert, der Ordnung der Ausstellung und bietet umfangreiches Material zum zeitgenössischen Kriegsrecht. Er dokumentiert die Hilfsdienste der Wehrmacht beim Völkermord, die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener sowie die "Durchführung des 'Ernährungskrieges' gegen die Zivilbevölkerung". Handlungsspielräume der Soldaten erschließen sich für den Rezensenten anhand von Fallbeispielen. Bei fortschreitender Lektüre des Bandes sieht der Rezensent allerdings auch deutlich die Beschränkungen des Unterfangens, dessen Hauptproblem für ihn in seiner deduktiven Gesamtanlage besteht, die die Verbrechen der Wehrmacht aus den Intentionen des Naziregimes ableitet. Für die besondere Dynamik der fortschreitenden Brutalisierung der Kriegsführung sei kein Platz. Deshalb führt der Katalog letztlich nicht in den "Maschinenraum der Destruktionskräfte" und wirkt, im Lichte neuerer Deutungen der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, auf den Rezensenten eher "unzeitgemäß".
© Perlentaucher Medien GmbH
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