Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250101741
  • Artikelnr.: 04660250
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.1996

1866
Fjodor Dostojewskis "Verbrechen und Strafe"

Der geradezu kindisch ungerechte Nabokov, den sein Freund Wilson bei solchen Gelegenheiten ganz vergeblich zur Vernunft der Erwachsenen mahnt, hat Dostojewski für einen drittklassigen Schriftsteller gehalten. Und von einer der für besonders grandios geltenden Szenen aus "Verbrechen und Strafe" - wie es inzwischen heißt - (wo Sonja die Hure dem Mörder Raskolnikow bei sibirischem Kerzenlicht etwas ziemlich Erbauliches aus der Bibel liest) hat Nabokov gemeint, sie suche an Stupidität ihresgleichen in der ganzen erzählenden Literatur. Darf man so ungerecht sein? Dostojewski, der von der Idee besessen war, Literatur sei zu wenig, wenn sie nur Literatur sei, hat seinen Lesern den sonderbaren Ruf verschafft, man dürfe gegen ihren Helden so wenig etwas sagen wie gegen das Idol einer religiösen Minderheit. Und ist nicht, wer sich so tausendseitig wie Dostojewski von der bohrenden Macht des schlechten Gewissens überzeugt zeigt, moralisch tiefer angelegt als jener, der, wie etwa Maugham (oder Ambler, oder ich), kühl die Welt betrachtet und feststellt, daß Übeltäter sehr viel weniger Gewissen haben, als die Freunde ihrer Opfer so gern glauben? Das Vorbeilesen an Dostojewski scheint dann darin zu bestehen, daß wir uns von ihm nicht dazu überreden lassen, im tiefsten und nur dem schärfsten (im Grunde göttlichen) Auge unverborgenen Innern unsrer Seelen jene Größe zu sehn, die auch der schlechteste Mensch habe. Unsern Blick scharf und göttlich zu machen, damit er sieht, wie enorm wir sind, das macht den mitreißenden Schwung dieses Romans aus. Nur, wenn wir am Ende womöglich doch nichts sehn, dann wollen wir uns nicht sagen lassen, unsre Seelen hätten eben nicht die Schwingen, die sie haben sollten. Nabokov wollte Schmetterlinge und Falter sammeln - du liebe Güte, was gehn denn die Schmetterlinge, was gehn denn die Falter die Abgründe an, die wir, die wir nicht einmal fliegen, nicht einmal flattern können, da unten in unsern bodenverhafteten Seelen haben sollen? (Fjodor Dostojewski: "Verbrechen und Strafe". Aus dem Russischen übersetzt von Swetlana Geier. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996. 766 Seiten, br., 24,90 DM.) R.V.

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