Rollenerwartungen und Verhaltensweisen von Geschwistern entstehen im Kontext ihres kulturellen Umfeldes. Während die Ethnologie dies seit Jahren untersucht, wurde die Frage nach Kennzeichen von Geschwisterschaft in der historischen Forschung bislang eher vernachlässigt. In dieser Hinsicht leistet die vorliegende Studie zu den Funktionen von Geschwisterbeziehungen an frühneuzeitlichen Höfen Europas Pionierarbeit. Die Vielzahl der überlieferten Briefe adliger Geschwister des 17. Jahrhunderts erlaubt eine umfassende Analyse, durch die tradierte Vorstellungen von Familie ebenso ins Wanken geraten wie alther-gebrachte Erklärungsmodelle frühneuzeitlicher Politik. Von der historisch-anthropologischen und mikrohistorischen Betrachtung einzelner Beziehungen und Handlungsabläufe führt dabei der Weg immer wieder auf die Makroebenen frühneuzeitlicher Politik und höfischer Mentalitäten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2007Mein lieber Vetter!
Gehört die Geschwisterschaft in der Moderne zum Privatleben, so war sie in Fürstenfamilien der Frühen Neuzeit ein selbstverständlicher Bestandteil der Politik; trägt sie heute einen egalitären Charakter und besitzt das Signum individueller Singularität, so hatte sie damals eine hierarchische Struktur und galt aufgrund der hohen Sterblichkeit als austauschbar; hat sie in unserer Zeit den Höhepunkt ihrer Intensität meist schon in der Jugend überschritten, so erhielt sie zu jener Zeit durch das Aufwachsen an unterschiedlichen Höfen oft erst im Erwachsenenalter eine gewisse Bedeutung. Die Beziehungen von Brüdern und Schwestern aus fürstlichem Hause waren deswegen nicht "unnatürlicher" als heute, im Gegenteil: Stellt man einen interkulturellen Vergleich an, erscheint eher die moderne, bürgerlich geprägte Geschwisterkultur als anthropologische Ausnahme.
Dass Geschwisterbeziehungen im Hochadel der Frühen Neuzeit nicht ganz den uns vertrauten Mustern folgten, lässt sich schon an den Briefformalien ersehen. Da erstreckte sich die formalisierte Anrede und auch die abschließende Grußformel zwischen Geschwistern oft über mehrere Zeilen.
Einen überzeugenden Rekonstruktionsversuch der Formen und Funktionen hochadliger Geschwisterbeziehungen in der Frühen Neuzeit unternimmt Sophie Ruppel in ihrer Dissertation mit dem treffenden Titel "Verbündete Rivalen" (Sophie Ruppel: "Verbündete Rivalen". Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln 2006. 358 S., 11 Abb. auf Tafeln, geb., 42,90 [Euro]). Wie die Autorin zu Recht betont, gehören Geschwisterbeziehungen im Allgemeinen und adlige im Besonderen nicht zu den eifrig beackerten Forschungsfeldern der Neuzeithistorie. Ob ihr Wunsch, daran mit ihrer Studie etwas zu ändern, in Erfüllung gehen wird, ist jedoch fraglich, sprechen doch selbst die durchaus beachtlichen Aufschlüsse ihrer eigenen Forschung eher dagegen.
Ruppels Quellenkorpus besteht hauptsächlich aus den Korrespondenzen von vier "Geschwisterreihen" protestantischer Fürstenhäuser im Reich: der Kurpfalz, Hannover, Kurbrandenburg und Hessen. Beziehungen von Geschwistern unterschiedlichen Standes, wie sie nur in katholischen Familien, da aber oft vorgekommen sind, fallen damit von vornherein weg.
Ihre Hauptuntersuchungsperiode ist die zweite Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Wie die Autorin plausibel darlegen kann, unterlagen hochadlige Geschwisterbeziehungen in dieser Zeitspanne durch die beschleunigte Verstaatlichung und Verhofung einer stärkeren Wandlung. Nach dem Dreißigjährigen Krieg übernahmen Geschwister noch oft die Rolle ständiger Gesandter an fremden Höfen; mit dem Aufbau "eines Europa überspannenden Gesandtschaftswesens" in den folgenden Jahrzehnten erübrigte sich diese Funktion, und der geschwisterliche Brief nahm je nach Beziehung Formen an, die laut Ruppel entweder in die Richtung des modernen Geschäfts- oder Privatbriefes führten. Dabei sei es sogar zu inzestuös angehauchten Idealisierungen der Bruder-Schwester-Beziehung gekommen, wie man sie erst für die Romantik als typisch erachte.
Der - uneingestandene - Hauptbefund von Ruppels Dissertation besteht jedoch darin, dass es Geschwisterschaft als distinkte Beziehungsform zumindest im protestantischen Hochadel kaum gegeben hat. Die Pflichten und Aufgaben, die Mitglieder von Fürstenfamilien für ihre regierenden Brüder wahrnahmen, unterschieden sich nicht wesentlich von jenen der nachgeborenen Töchter und Söhne oder Tanten und Onkel. Auch diese waren oft "verbündete Rivalen", Männer mit unbefriedigten Herrschaftsgelüsten und familiärem Loyalitätsethos oder Frauen mit heiratsbedingten Doppelagenden.
Und auch die häufige Konstellation einer räumlichen Ferne, die im Briefverkehr in politische Komplizenschaft oder emotionale Nähe umgewandelt wurde, teilten hochadlige Geschwister mit anderen Verwandten. Insofern erscheint es nicht unbedingt geboten, aristokratische Geschwistergeschichte als gesonderten Forschungszweig zu betreiben.
Einen exklusiven Rang nahm Geschwisterschaft offenbar allein in übertragener Rede ein, etwa in der diplomatischen Sprache gekrönter Häupter. Könige redeten ihresgleichen als "mein lieber Bruder" an, für ungekrönte Fürsten hatten sie nur ein "mein lieber Vetter" übrig. Dass es bei dieser Rhetorik um mehr ging als um eine kontrafaktische Vorspiegelung der Hocharistokratie als einer hierarchisch-harmonischen Großfamilie, zeigt das Verhalten Karls V. nach der Schlacht von Pavia 1525: Anstatt den gefangenen Franz I. einzukerkern und abzusetzen, wie es seine Berater forderten, umarmte er ihn, ließ ihm die königliche Würde und setzte ihn frei. Die brüderliche Solidarität in der "Familie der Könige" hatte über politisches Kalkül gesiegt.
CASPAR HIRSCHI
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gehört die Geschwisterschaft in der Moderne zum Privatleben, so war sie in Fürstenfamilien der Frühen Neuzeit ein selbstverständlicher Bestandteil der Politik; trägt sie heute einen egalitären Charakter und besitzt das Signum individueller Singularität, so hatte sie damals eine hierarchische Struktur und galt aufgrund der hohen Sterblichkeit als austauschbar; hat sie in unserer Zeit den Höhepunkt ihrer Intensität meist schon in der Jugend überschritten, so erhielt sie zu jener Zeit durch das Aufwachsen an unterschiedlichen Höfen oft erst im Erwachsenenalter eine gewisse Bedeutung. Die Beziehungen von Brüdern und Schwestern aus fürstlichem Hause waren deswegen nicht "unnatürlicher" als heute, im Gegenteil: Stellt man einen interkulturellen Vergleich an, erscheint eher die moderne, bürgerlich geprägte Geschwisterkultur als anthropologische Ausnahme.
Dass Geschwisterbeziehungen im Hochadel der Frühen Neuzeit nicht ganz den uns vertrauten Mustern folgten, lässt sich schon an den Briefformalien ersehen. Da erstreckte sich die formalisierte Anrede und auch die abschließende Grußformel zwischen Geschwistern oft über mehrere Zeilen.
Einen überzeugenden Rekonstruktionsversuch der Formen und Funktionen hochadliger Geschwisterbeziehungen in der Frühen Neuzeit unternimmt Sophie Ruppel in ihrer Dissertation mit dem treffenden Titel "Verbündete Rivalen" (Sophie Ruppel: "Verbündete Rivalen". Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln 2006. 358 S., 11 Abb. auf Tafeln, geb., 42,90 [Euro]). Wie die Autorin zu Recht betont, gehören Geschwisterbeziehungen im Allgemeinen und adlige im Besonderen nicht zu den eifrig beackerten Forschungsfeldern der Neuzeithistorie. Ob ihr Wunsch, daran mit ihrer Studie etwas zu ändern, in Erfüllung gehen wird, ist jedoch fraglich, sprechen doch selbst die durchaus beachtlichen Aufschlüsse ihrer eigenen Forschung eher dagegen.
Ruppels Quellenkorpus besteht hauptsächlich aus den Korrespondenzen von vier "Geschwisterreihen" protestantischer Fürstenhäuser im Reich: der Kurpfalz, Hannover, Kurbrandenburg und Hessen. Beziehungen von Geschwistern unterschiedlichen Standes, wie sie nur in katholischen Familien, da aber oft vorgekommen sind, fallen damit von vornherein weg.
Ihre Hauptuntersuchungsperiode ist die zweite Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Wie die Autorin plausibel darlegen kann, unterlagen hochadlige Geschwisterbeziehungen in dieser Zeitspanne durch die beschleunigte Verstaatlichung und Verhofung einer stärkeren Wandlung. Nach dem Dreißigjährigen Krieg übernahmen Geschwister noch oft die Rolle ständiger Gesandter an fremden Höfen; mit dem Aufbau "eines Europa überspannenden Gesandtschaftswesens" in den folgenden Jahrzehnten erübrigte sich diese Funktion, und der geschwisterliche Brief nahm je nach Beziehung Formen an, die laut Ruppel entweder in die Richtung des modernen Geschäfts- oder Privatbriefes führten. Dabei sei es sogar zu inzestuös angehauchten Idealisierungen der Bruder-Schwester-Beziehung gekommen, wie man sie erst für die Romantik als typisch erachte.
Der - uneingestandene - Hauptbefund von Ruppels Dissertation besteht jedoch darin, dass es Geschwisterschaft als distinkte Beziehungsform zumindest im protestantischen Hochadel kaum gegeben hat. Die Pflichten und Aufgaben, die Mitglieder von Fürstenfamilien für ihre regierenden Brüder wahrnahmen, unterschieden sich nicht wesentlich von jenen der nachgeborenen Töchter und Söhne oder Tanten und Onkel. Auch diese waren oft "verbündete Rivalen", Männer mit unbefriedigten Herrschaftsgelüsten und familiärem Loyalitätsethos oder Frauen mit heiratsbedingten Doppelagenden.
Und auch die häufige Konstellation einer räumlichen Ferne, die im Briefverkehr in politische Komplizenschaft oder emotionale Nähe umgewandelt wurde, teilten hochadlige Geschwister mit anderen Verwandten. Insofern erscheint es nicht unbedingt geboten, aristokratische Geschwistergeschichte als gesonderten Forschungszweig zu betreiben.
Einen exklusiven Rang nahm Geschwisterschaft offenbar allein in übertragener Rede ein, etwa in der diplomatischen Sprache gekrönter Häupter. Könige redeten ihresgleichen als "mein lieber Bruder" an, für ungekrönte Fürsten hatten sie nur ein "mein lieber Vetter" übrig. Dass es bei dieser Rhetorik um mehr ging als um eine kontrafaktische Vorspiegelung der Hocharistokratie als einer hierarchisch-harmonischen Großfamilie, zeigt das Verhalten Karls V. nach der Schlacht von Pavia 1525: Anstatt den gefangenen Franz I. einzukerkern und abzusetzen, wie es seine Berater forderten, umarmte er ihn, ließ ihm die königliche Würde und setzte ihn frei. Die brüderliche Solidarität in der "Familie der Könige" hatte über politisches Kalkül gesiegt.
CASPAR HIRSCHI
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Überzeugend an dieser vornehmlich auf Korrespondenzen basierenden Studie findet Caspar Hirschi die Darstellung der Formen und Funktionen von Geschwisterbeziehungen des frühneuzeitlichen Hochadels. Darüber, und welchem Wandel durch "Verstaatlichung und Verhofung" sie ausgesetzt waren, meint er, gab es bislang noch wenig zu lesen. Allerdings ahnt Hirschi auch, wieso: Als unterscheidendes Merkmal (und eigenes Forschungsfeld) hält er das aristokratische Geschwistertum für eher untauglich. Königliche Bruderschaft in "übertragender Rede" hält er da schon für exklusiver.
© Perlentaucher Medien GmbH
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