b Zum 100. Todestag von Giuseppe Verdi S Dies ist eine Biographie, die sich vor allem als Werkgeschichte versteht. Die anhand zahlreicher zeitgenössischer Dokumente zu Uraufführungen der Werke Verdis ein Bild vom Leben und Schaffen des großen Komponisten zeichnet. Teile aus diesem Bild sind den bevorzugten Librettisten und Verlegern, Dirigenten und Sängern gewidmet. Sie alle werden hier zitiert und portraitiert. Dadurch gelingt es dem Autor, die Atmosphäre der Uraufführungen wiedererstehen zu lassen und eine authentische Sicht auf die damalige Opernwelt zu vermitteln.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In einer Doppelrezension bespricht Jürgen Kesting zwei Bücher zu Guiseppe Verdi.
1.) Anselm Gerhard, Uwe Schweikert (Hrsg.): "Verdi-Handbuch" (Metzler/Bärenreiter)
Die große Stärke dieses Bandes liegt nach Kesting darin, dass durch die Beiträge von zwei Dutzend Autoren ein recht vielschichtiges und facettenreiches Bild von Verdi und seiner Zeit entsteht. Zahlreiche dieser Beiträge hebt der Rezensent gesondert als besonders gelungen hervor, etwa wenn er den "scharfen Blick" Anselm Gerhards lobt, mit dem dieser verschiedenen Verdi-Klischees nachgeht. "Instruktiv" sei beispielsweise außerdem der Text von Michael Walter über `Die italienische Oper als Wirtschaftsunternehmen` oder auch der Beitrag Anselm Gerhards darüber, dass Verdi mit musikalischen Opern-Konventionen "keineswegs so oft gebrochen hat", wie oft suggeriert werde. Deutlich zu kurz kommt nach Ansicht des Rezensenten in diesem Band jedoch die Verdi-Rezeption, und auch Themen wie die "Aufführungs- und Inszenierungspraxis" hätten nach Kesting gerne etwas ausführlicher ausfallen können. Bedauerlich sei darüber hinaus, dass die "diskografischen Empfehlungen nicht begründet" werden.
2.) Christian Springer: "Verdi und die Interpreten seiner Zeit" (Holzhausen)
Nach Kesting liegt in diesem Buch der Schwerpunkt gerade in dem Bereich, der im "Verdi-Handbuch" zu kurz komme, nämlich in der Werkgeschichte. Grundlage sind hier vor allem, wie der Leser erfährt, Briefe Verdis und Rezensionen, die Aufschluss über die Entstehungsgeschichte der Opern geben, über Einstudierungen, "Erfolge und Misserfolge der Aufführungen" bis hin zu den Interpreten. Diese Zeugnisse geben nach Kesting einen Eindruck davon, wie sehr Verdi "für eine Kultur der Darstellung kämpfte" und welche Parallelen (aber auch Unterschiede) es darin zu Wagner gab. Besonders "aufschlussreich" findet Kesting die Briefe nicht zuletzt deshalb, weil sich hier ein Eindruck von der "Ästhetik des Verdi-Gesangs" vermittele, zumal sich zeige, dass Verdi nicht nur sehr klare Vorstellungen von den Rollen-Charakteren hatte, sondern auch Aufführungshinweise gegeben und Interpreten "minuziös" beurteilt hat.
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1.) Anselm Gerhard, Uwe Schweikert (Hrsg.): "Verdi-Handbuch" (Metzler/Bärenreiter)
Die große Stärke dieses Bandes liegt nach Kesting darin, dass durch die Beiträge von zwei Dutzend Autoren ein recht vielschichtiges und facettenreiches Bild von Verdi und seiner Zeit entsteht. Zahlreiche dieser Beiträge hebt der Rezensent gesondert als besonders gelungen hervor, etwa wenn er den "scharfen Blick" Anselm Gerhards lobt, mit dem dieser verschiedenen Verdi-Klischees nachgeht. "Instruktiv" sei beispielsweise außerdem der Text von Michael Walter über `Die italienische Oper als Wirtschaftsunternehmen` oder auch der Beitrag Anselm Gerhards darüber, dass Verdi mit musikalischen Opern-Konventionen "keineswegs so oft gebrochen hat", wie oft suggeriert werde. Deutlich zu kurz kommt nach Ansicht des Rezensenten in diesem Band jedoch die Verdi-Rezeption, und auch Themen wie die "Aufführungs- und Inszenierungspraxis" hätten nach Kesting gerne etwas ausführlicher ausfallen können. Bedauerlich sei darüber hinaus, dass die "diskografischen Empfehlungen nicht begründet" werden.
2.) Christian Springer: "Verdi und die Interpreten seiner Zeit" (Holzhausen)
Nach Kesting liegt in diesem Buch der Schwerpunkt gerade in dem Bereich, der im "Verdi-Handbuch" zu kurz komme, nämlich in der Werkgeschichte. Grundlage sind hier vor allem, wie der Leser erfährt, Briefe Verdis und Rezensionen, die Aufschluss über die Entstehungsgeschichte der Opern geben, über Einstudierungen, "Erfolge und Misserfolge der Aufführungen" bis hin zu den Interpreten. Diese Zeugnisse geben nach Kesting einen Eindruck davon, wie sehr Verdi "für eine Kultur der Darstellung kämpfte" und welche Parallelen (aber auch Unterschiede) es darin zu Wagner gab. Besonders "aufschlussreich" findet Kesting die Briefe nicht zuletzt deshalb, weil sich hier ein Eindruck von der "Ästhetik des Verdi-Gesangs" vermittele, zumal sich zeige, dass Verdi nicht nur sehr klare Vorstellungen von den Rollen-Charakteren hatte, sondern auch Aufführungshinweise gegeben und Interpreten "minuziös" beurteilt hat.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2001Wer Verdis Sehnsucht kennt
Der weiß, was er leidet: Das Verdi-Handbuch läßt eine Lücke, die Christian Springer mit Briefen füllt
Ein Standardwerk über das Schaffen Giuseppe Verdis, das mit der dreibändigen Studie von Julian Budden vergleichbar wäre, liegt bislang in deutscher Sprache nicht vor. Geschuldet bleibt dem Komponisten auch eine erschöpfende Biographie, wie sie von Ernest Newman oder Martin Gregor-Dellin über Richard Wagner geschrieben wurde. In dem von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert herausgegebenen Verdi-Handbuch versuchen zwei Dutzend Autorinnen und Autoren, sich dem Komponisten von unterschiedlichen Blickpunkten aus anzunähern. Das summiert sich zu einer perspektiven- und kontrastreichen Komponisten- und Gesellschafts-Biographie.
Das Kompendium umfaßt vier thematische Großabschnitte. Sie beleuchten in sieben Essays "Verdis Wirken im italienischen 19. Jahrhundert" und in elf Aufsätzen "Verdis Werk zwischen Konvention und Innovation". In 34 Einzelbesprechungen wird "Das Werk" - Opern, Messe, geistliche Kompositionen, Streichquartett und Briefe - behandelt. Der "Wirkung" sind leider nur vier Beiträge gewidmet. Darunter findet sich zwar einer über das Regietheater, aber keiner, der sich ausführlich mit der musikalischen Aufführungspraxis auseinandersetzt. Der 150 Seiten lange Anhang enthält eine ausführliche Zeittafel, ein Glossar mit den musikalischen Fachbegriffen, ein Personenverzeichnis, die bibliographischen Angaben zu allen Aufsätzen sowie ein Register.
In der Einleitung richtet Anselm Gerhard den scharfen Blick eines Restaurators auf die vielen "Verdi-Bilder", die sich zum Klischee verfestigt haben: Verdi, der Leierkastenmusiker; der musikalische Realist; der Antipode Wagners; der Bauer von Sant'Agata; der rohe Komponist; der Meister der Revolution. Der Autor zeigt, mit welcher Kaltblütigkeit der Komponist sein eigenes Bild retuschiert und seine Legende inszeniert hat, mit welch unternehmerischer Zielstrebigkeit Verdi seine Marktposition in Italien und später in ganz Europa ausbaute. Acht der knapp sechzig Beiträge stammen von Gerhard - darunter ein zentraler über "Verdis Ästhetik", der deutlich macht, mit welcher Bewußtheit, gepaart mit Pragmatismus, Verdi seine theatralischen Vorstellungen verwirklicht hat. In dieser Beziehung hat er durchaus ähnliche Ziele verfolgt wie Richard Wagner.
Die beiden ersten Aufsätze über Verdis Wirken im Italien des 19. Jahrhunderts widmen sich dem Prozeß der italienischen Einigung und der Bedeutung der Oper als Teil der italienischen Nationalliteratur. In einem instruktiven Report analysiert Michael Walter "Die italienische Oper als Wirtschaftsunternehmen", wobei er Verdi als Großunternehmer und seine Opern als "industrielle Massenprodukte" mit Andrew Lloyd Webber vergleicht. Sehr aufschlußreich sind die Ausführungen über das Urheberrecht, die Produktionskosten, die Sängergagen und die Machtverschiebung von den um 1810 bis 1830 noch imperial herrschenden Impresarios zu den beiden großen Verlagshäusern Ricordi und Sanzogno, die - wie Sebastian Werr zeigt - als "Medien der Popularisierung" agierten wie später die Kultur-Industrie.
Daß Verdi mit den Konventionen der musikalischen Gestaltung keineswegs so oft gebrochen hat, wie durch einige immer wieder zitierte Briefe suggeriert wird, also weniger revolutionär als evolutionär verfuhr, führt wiederum Anselm Gerhard aus. Leo Karl Gerhartz zeigt in seinem Essay "Melodiebildung und Orchestration", daß Verdi Musik "aus dem Geist des Theaters" geschrieben hat; eines Theaters, in dem wie im Kino das Sublime und das Groteske zusammenkommen und auch das Erhabene von unten seinen Stellenwert erhält.
Warum Verdi (wie sein deutscher Antipode) zugleich unter den Unzulänglichkeiten des Theaterbetriebs gelitten hat - "Verflucht sei das Theater!" -, verdeutlicht der Beitrag von Johannes Streicher. Opernaufführungen waren spettacoli, bei denen die Augenlust des Publikums mit Balletten, die Hörlust mit Gesangseinlagen von Primadonnen nicht nur femini generis bedient wurde. Abwechslung war das oberste Gebot. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Theater - 1870 gab es 957 Theater in 711 italienischen Städten - kein stehendes Orchester. In einem Thesenpapier von 1871 verlangte Verdi: "Für jedes Theater ein einziger musikalischer Leiter und Dirigent des Orchesters, verantwortlich für den ganzen musikalischen Teil. Nur ein Regisseur, von dem alles abhängt, was die Inszenierung betrifft." Die Grundlagen hat er selbst durch die Zusammenarbeit mit Angelo Mariani und Franco Faccio geschaffen.
Die Einzelanalysen der Werke sind ähnlich angelegt wie die Beiträge in "Piper's Enzyklopädie des Musiktheaters": Titulatur, Personarium, Orchesterbesetzung und Daten, Hinweise zur Entstehung, Inhaltsangaben, Werkanalyse, Kommentare zur Wirkung. Daß die Dirigenten und Sänger der Uraufführungen, wichtiger Erstaufführungen und Revivals nicht erwähnt werden, ist mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte ein Manko. Leider werden auch die - in Fällen wie "La Traviata", "La Forza del Destino", "Otello" und "Falstaff" durchaus diskussionsbedürftigen - diskographischen Empfehlungen nicht begründet.
Ohnehin werden die Fragen und Probleme der Verdi-Rezeption und der musikalischen Praxis vergleichsweise stiefmütterlich behandelt. Wie erklärt sich zum Beispiel die Vernachlässigung des Frühwerks im Repertoire der Scala schon in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts? Wie kommt es, daß "Macbeth" - heute als Verdis Kunstwerk der Zukunft angesehen - zwischen 1873 und 1939 an der Scala nicht gespielt und an der Met sogar erst 1959 herausgebracht wurde?
Sollte das Frühwerk von Toscanini verdrängt worden sein, der, wie sein Biograph Harvey Sachs berichtet, ein zwiespältiges Verhältnis zu den frühen Opern hatte? Vielleicht weil er es innerlich aus der ästhetischen Perspektive Wagners als trivial verachtete? Zwischen 1898 und 1903 hat er an der Scala nur "Luisa Miller" dirigiert und zwischen 1920 und 1930 kein einziges Werk, das der trilogia popolare vorausging, herausgebracht. Durch seine rigiden Altersaufnahmen hat er schließlich der Verdi-Interpretation eine neue, dem Singen eine problematische Richtung gewiesen, der so gut wie alle Dirigenten gefolgt sind.
Zwar zeigt Hans-Joachim Wagner, daß es im 20. Jahrhundert viele und sich widersprechende Paradigmen der Verdi-Rezeption gab; doch werden die Fragen nach der Aufführungs- und Inszenierungspraxis in den Aufsätzen von Kurt Malisch und Wolfgang Willaschek nur unvollständig beantwortet. Malisch hätte weit mehr Raum benötigt, um anhand der vielen Tondokumente die Wandlungen der Verdi-Interpretation im Detail zu belegen, wie es einige Autoren der von ihm zitierten Literatur getan haben. Die Entwicklung des Verdi-Soprans und des -Baritons oder die Analyse einzelner Rollen hätten durchaus ein Kapitel verdient gehabt, gerade wegen der Stil- und Besetzungsprobleme in der heutigen Theater-Praxis.
Willascheks Aufsatz ist keine historische Darstellung der Entwicklung des Regietheaters, sondern ein engagiertes und enragiertes Plädoyer für eine Praxis, die einer Maxime von Ernst Bloch folgt: "Also müssen diese Werke auch immer anders und neu aufgeführt werden, wenn sie da sein sollen." Dieses Plädoyer ist schlüssig insofern, als es sich wider die absurde Dichotomie zwischen Musik, Szene und Gesang wendet; aber es ist einseitig, wo es die Fragen der musikalischen und gesangs-darstellerischen Verwirklichung nicht berücksichtigt. Und wenn der Dramaturg emphatisch betont, die "Wende in der Rezeptionsgeschichte" lasse sich auf den Tag genau festlegen - nämlich auf den 28. September 1932, als Fritz Busch und Carl Ebert in Dresden den "Maskenball" herausbrachten -, so mag das dem Rang der Aufführung gerecht werden. Nur fand diese Aufführung nicht in Dresden statt, sondern in Berlin.
Einen Aufsatz, der dem Verdi-Handbuch durchaus gut angestanden hätte, hat Christian Springer zu einem Buch ausgebreitet. Es ist "eine Biographie, die sich als Werkgeschichte versteht". Werkchronologisch vorgehend berichtet sie über die Entstehungsgeschichte der Opern, über die Schwierigkeiten der Einstudierungen, die Erfolge und Mißerfolge der Aufführungen und vor allem über die daran beteiligten Interpreten. Dabei greift der Autor vorwiegend auf die Briefe des Komponisten und auf Rezensionen zurück. Sie zeigen, wie leidenschaftlich Verdi - darin mit Wagner vergleichbar - für eine Kultur der Darstellung kämpfte und daß er einen wesentlichen Anteil am Gelingen einer Aufführung dem Darsteller zusprach.
Anders als bei Wagner, der seinen Exegeten die Deutungsarbeit gleichsam im voraus diktiert hat, summieren sich Verdis Anweisungen nicht zu einem diktatorischen ästhetischen System. Verdi spricht überwiegend als "Mann des Theaters", und doch zeigt sich - gerade in seinem Briefwechsel mit Cammarano ("Macbeth"), Piave ("La Traviata"), Ghislanzoni ("Aida") und insbesondere mit Arrigo Boito -, daß sein Theaterverstand nicht weniger scharf war als der Wagners.
Aufschlußreich sind diese Briefe als Bausteine für eine Ästhetik des Verdi-Gesangs. Zum einen finden sich in ihnen genaue Charakterisierungen der einzelnen Rollen, zum zweiten detaillierte Anweisungen zur Ausführung, zum dritten minuziöse Beurteilungen einzelner Interpreten. Sie ließen sich zusammenführen mit Tondokumenten. Immerhin sind Aufnahmen etlicher Sänger erhalten, die in Verdi-Uraufführungen gesungen haben: Francesco Tamagno, Victor Maurel, Antonio Pini-Corsi, Edouard de Reszke, Edoardo Garbin. Hinzu kommen zahlreiche Platten von Sängern, mit denen Verdi zusammengearbeitet oder die er gehört hat: Adelina Patti, Gemma Bellincioni, Giuseppe Kaschmann oder Mattia Battistini. Sie könnten, in Verbindung mit den literarischen Dokumenten, als Kompaß dienen, der zur Gesangssprache, zum Stil Verdis zurückführt. Das wäre im Sinne des Komponisten, der zwar im Rondo für die Primadonna ein Übel sah, aber ein noch größeres in der Diktatur des Taktstocks. Für den Verdi-Gesang wäre nichts förderlicher als des Komponisten Maxime: "Torniamo all'antico, e sarà un progresso."
JÜRGEN KESTING
"Verdi-Handbuch". Hrsg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar/Bärenreiter Verlag, Kassel 2001. X, 746 S., 43 Abb., geb., 128,- DM.
Christian Springer: "Verdi und die Interpreten seiner Zeit". Holzhausen-Verlag, Wien 2000. 450 S., 30 Abb., geb., 65,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der weiß, was er leidet: Das Verdi-Handbuch läßt eine Lücke, die Christian Springer mit Briefen füllt
Ein Standardwerk über das Schaffen Giuseppe Verdis, das mit der dreibändigen Studie von Julian Budden vergleichbar wäre, liegt bislang in deutscher Sprache nicht vor. Geschuldet bleibt dem Komponisten auch eine erschöpfende Biographie, wie sie von Ernest Newman oder Martin Gregor-Dellin über Richard Wagner geschrieben wurde. In dem von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert herausgegebenen Verdi-Handbuch versuchen zwei Dutzend Autorinnen und Autoren, sich dem Komponisten von unterschiedlichen Blickpunkten aus anzunähern. Das summiert sich zu einer perspektiven- und kontrastreichen Komponisten- und Gesellschafts-Biographie.
Das Kompendium umfaßt vier thematische Großabschnitte. Sie beleuchten in sieben Essays "Verdis Wirken im italienischen 19. Jahrhundert" und in elf Aufsätzen "Verdis Werk zwischen Konvention und Innovation". In 34 Einzelbesprechungen wird "Das Werk" - Opern, Messe, geistliche Kompositionen, Streichquartett und Briefe - behandelt. Der "Wirkung" sind leider nur vier Beiträge gewidmet. Darunter findet sich zwar einer über das Regietheater, aber keiner, der sich ausführlich mit der musikalischen Aufführungspraxis auseinandersetzt. Der 150 Seiten lange Anhang enthält eine ausführliche Zeittafel, ein Glossar mit den musikalischen Fachbegriffen, ein Personenverzeichnis, die bibliographischen Angaben zu allen Aufsätzen sowie ein Register.
In der Einleitung richtet Anselm Gerhard den scharfen Blick eines Restaurators auf die vielen "Verdi-Bilder", die sich zum Klischee verfestigt haben: Verdi, der Leierkastenmusiker; der musikalische Realist; der Antipode Wagners; der Bauer von Sant'Agata; der rohe Komponist; der Meister der Revolution. Der Autor zeigt, mit welcher Kaltblütigkeit der Komponist sein eigenes Bild retuschiert und seine Legende inszeniert hat, mit welch unternehmerischer Zielstrebigkeit Verdi seine Marktposition in Italien und später in ganz Europa ausbaute. Acht der knapp sechzig Beiträge stammen von Gerhard - darunter ein zentraler über "Verdis Ästhetik", der deutlich macht, mit welcher Bewußtheit, gepaart mit Pragmatismus, Verdi seine theatralischen Vorstellungen verwirklicht hat. In dieser Beziehung hat er durchaus ähnliche Ziele verfolgt wie Richard Wagner.
Die beiden ersten Aufsätze über Verdis Wirken im Italien des 19. Jahrhunderts widmen sich dem Prozeß der italienischen Einigung und der Bedeutung der Oper als Teil der italienischen Nationalliteratur. In einem instruktiven Report analysiert Michael Walter "Die italienische Oper als Wirtschaftsunternehmen", wobei er Verdi als Großunternehmer und seine Opern als "industrielle Massenprodukte" mit Andrew Lloyd Webber vergleicht. Sehr aufschlußreich sind die Ausführungen über das Urheberrecht, die Produktionskosten, die Sängergagen und die Machtverschiebung von den um 1810 bis 1830 noch imperial herrschenden Impresarios zu den beiden großen Verlagshäusern Ricordi und Sanzogno, die - wie Sebastian Werr zeigt - als "Medien der Popularisierung" agierten wie später die Kultur-Industrie.
Daß Verdi mit den Konventionen der musikalischen Gestaltung keineswegs so oft gebrochen hat, wie durch einige immer wieder zitierte Briefe suggeriert wird, also weniger revolutionär als evolutionär verfuhr, führt wiederum Anselm Gerhard aus. Leo Karl Gerhartz zeigt in seinem Essay "Melodiebildung und Orchestration", daß Verdi Musik "aus dem Geist des Theaters" geschrieben hat; eines Theaters, in dem wie im Kino das Sublime und das Groteske zusammenkommen und auch das Erhabene von unten seinen Stellenwert erhält.
Warum Verdi (wie sein deutscher Antipode) zugleich unter den Unzulänglichkeiten des Theaterbetriebs gelitten hat - "Verflucht sei das Theater!" -, verdeutlicht der Beitrag von Johannes Streicher. Opernaufführungen waren spettacoli, bei denen die Augenlust des Publikums mit Balletten, die Hörlust mit Gesangseinlagen von Primadonnen nicht nur femini generis bedient wurde. Abwechslung war das oberste Gebot. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Theater - 1870 gab es 957 Theater in 711 italienischen Städten - kein stehendes Orchester. In einem Thesenpapier von 1871 verlangte Verdi: "Für jedes Theater ein einziger musikalischer Leiter und Dirigent des Orchesters, verantwortlich für den ganzen musikalischen Teil. Nur ein Regisseur, von dem alles abhängt, was die Inszenierung betrifft." Die Grundlagen hat er selbst durch die Zusammenarbeit mit Angelo Mariani und Franco Faccio geschaffen.
Die Einzelanalysen der Werke sind ähnlich angelegt wie die Beiträge in "Piper's Enzyklopädie des Musiktheaters": Titulatur, Personarium, Orchesterbesetzung und Daten, Hinweise zur Entstehung, Inhaltsangaben, Werkanalyse, Kommentare zur Wirkung. Daß die Dirigenten und Sänger der Uraufführungen, wichtiger Erstaufführungen und Revivals nicht erwähnt werden, ist mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte ein Manko. Leider werden auch die - in Fällen wie "La Traviata", "La Forza del Destino", "Otello" und "Falstaff" durchaus diskussionsbedürftigen - diskographischen Empfehlungen nicht begründet.
Ohnehin werden die Fragen und Probleme der Verdi-Rezeption und der musikalischen Praxis vergleichsweise stiefmütterlich behandelt. Wie erklärt sich zum Beispiel die Vernachlässigung des Frühwerks im Repertoire der Scala schon in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts? Wie kommt es, daß "Macbeth" - heute als Verdis Kunstwerk der Zukunft angesehen - zwischen 1873 und 1939 an der Scala nicht gespielt und an der Met sogar erst 1959 herausgebracht wurde?
Sollte das Frühwerk von Toscanini verdrängt worden sein, der, wie sein Biograph Harvey Sachs berichtet, ein zwiespältiges Verhältnis zu den frühen Opern hatte? Vielleicht weil er es innerlich aus der ästhetischen Perspektive Wagners als trivial verachtete? Zwischen 1898 und 1903 hat er an der Scala nur "Luisa Miller" dirigiert und zwischen 1920 und 1930 kein einziges Werk, das der trilogia popolare vorausging, herausgebracht. Durch seine rigiden Altersaufnahmen hat er schließlich der Verdi-Interpretation eine neue, dem Singen eine problematische Richtung gewiesen, der so gut wie alle Dirigenten gefolgt sind.
Zwar zeigt Hans-Joachim Wagner, daß es im 20. Jahrhundert viele und sich widersprechende Paradigmen der Verdi-Rezeption gab; doch werden die Fragen nach der Aufführungs- und Inszenierungspraxis in den Aufsätzen von Kurt Malisch und Wolfgang Willaschek nur unvollständig beantwortet. Malisch hätte weit mehr Raum benötigt, um anhand der vielen Tondokumente die Wandlungen der Verdi-Interpretation im Detail zu belegen, wie es einige Autoren der von ihm zitierten Literatur getan haben. Die Entwicklung des Verdi-Soprans und des -Baritons oder die Analyse einzelner Rollen hätten durchaus ein Kapitel verdient gehabt, gerade wegen der Stil- und Besetzungsprobleme in der heutigen Theater-Praxis.
Willascheks Aufsatz ist keine historische Darstellung der Entwicklung des Regietheaters, sondern ein engagiertes und enragiertes Plädoyer für eine Praxis, die einer Maxime von Ernst Bloch folgt: "Also müssen diese Werke auch immer anders und neu aufgeführt werden, wenn sie da sein sollen." Dieses Plädoyer ist schlüssig insofern, als es sich wider die absurde Dichotomie zwischen Musik, Szene und Gesang wendet; aber es ist einseitig, wo es die Fragen der musikalischen und gesangs-darstellerischen Verwirklichung nicht berücksichtigt. Und wenn der Dramaturg emphatisch betont, die "Wende in der Rezeptionsgeschichte" lasse sich auf den Tag genau festlegen - nämlich auf den 28. September 1932, als Fritz Busch und Carl Ebert in Dresden den "Maskenball" herausbrachten -, so mag das dem Rang der Aufführung gerecht werden. Nur fand diese Aufführung nicht in Dresden statt, sondern in Berlin.
Einen Aufsatz, der dem Verdi-Handbuch durchaus gut angestanden hätte, hat Christian Springer zu einem Buch ausgebreitet. Es ist "eine Biographie, die sich als Werkgeschichte versteht". Werkchronologisch vorgehend berichtet sie über die Entstehungsgeschichte der Opern, über die Schwierigkeiten der Einstudierungen, die Erfolge und Mißerfolge der Aufführungen und vor allem über die daran beteiligten Interpreten. Dabei greift der Autor vorwiegend auf die Briefe des Komponisten und auf Rezensionen zurück. Sie zeigen, wie leidenschaftlich Verdi - darin mit Wagner vergleichbar - für eine Kultur der Darstellung kämpfte und daß er einen wesentlichen Anteil am Gelingen einer Aufführung dem Darsteller zusprach.
Anders als bei Wagner, der seinen Exegeten die Deutungsarbeit gleichsam im voraus diktiert hat, summieren sich Verdis Anweisungen nicht zu einem diktatorischen ästhetischen System. Verdi spricht überwiegend als "Mann des Theaters", und doch zeigt sich - gerade in seinem Briefwechsel mit Cammarano ("Macbeth"), Piave ("La Traviata"), Ghislanzoni ("Aida") und insbesondere mit Arrigo Boito -, daß sein Theaterverstand nicht weniger scharf war als der Wagners.
Aufschlußreich sind diese Briefe als Bausteine für eine Ästhetik des Verdi-Gesangs. Zum einen finden sich in ihnen genaue Charakterisierungen der einzelnen Rollen, zum zweiten detaillierte Anweisungen zur Ausführung, zum dritten minuziöse Beurteilungen einzelner Interpreten. Sie ließen sich zusammenführen mit Tondokumenten. Immerhin sind Aufnahmen etlicher Sänger erhalten, die in Verdi-Uraufführungen gesungen haben: Francesco Tamagno, Victor Maurel, Antonio Pini-Corsi, Edouard de Reszke, Edoardo Garbin. Hinzu kommen zahlreiche Platten von Sängern, mit denen Verdi zusammengearbeitet oder die er gehört hat: Adelina Patti, Gemma Bellincioni, Giuseppe Kaschmann oder Mattia Battistini. Sie könnten, in Verbindung mit den literarischen Dokumenten, als Kompaß dienen, der zur Gesangssprache, zum Stil Verdis zurückführt. Das wäre im Sinne des Komponisten, der zwar im Rondo für die Primadonna ein Übel sah, aber ein noch größeres in der Diktatur des Taktstocks. Für den Verdi-Gesang wäre nichts förderlicher als des Komponisten Maxime: "Torniamo all'antico, e sarà un progresso."
JÜRGEN KESTING
"Verdi-Handbuch". Hrsg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar/Bärenreiter Verlag, Kassel 2001. X, 746 S., 43 Abb., geb., 128,- DM.
Christian Springer: "Verdi und die Interpreten seiner Zeit". Holzhausen-Verlag, Wien 2000. 450 S., 30 Abb., geb., 65,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main