"So furchtbar kann nicht einmal die Hölle sein", entsetzte sich ein Augenzeuge. Nie wieder starben mehr Soldaten auf so engem Raum wie in Verdun 1916. Olaf Jessen zeichnet auf der Grundlage vergessener Dokumente ein neues Bild der Schlüsselschlacht des Ersten Weltkrieges. Glänzend erzählt und unter die Haut gehend: für alle, die den Großen Krieg aus Sicht der Frontsoldaten und Heerführer beider Seiten neu kennenlernen wollen. Warum Verdun? Um den Sinn der "Blutmühle" strategisch zu erklären, verweisen Historiker gewöhnlich auf Erich von Falkenhayn. Die französische Armee, so hatte der Generalstabschef behauptet, sollte bei Verdun "verbluten". Doch vergessene Quellen belegen: "Operation Gericht" zielte auf den Durchbruch und die Rückkehr zum Bewegungskrieg. 300 Tage und 300 Nächte tobte die Urschlacht des Jahrhunderts. Sie durchkreuzte die alliierten Pläne an der Somme, beschleunigte den Kriegseintritt der USA, verschärfte den Niedergang des deutschen Heeres, befeuerte die Dolchstoßlegende und stieß die Entwicklung moderner Luftwaffen an. Und sie legte den Keim für Frankreichs Katastrophe 1940 im "Blitzkrieg" der Wehrmacht. Es ist kein Zufall, dass gerade Verdun später zum Erinnerungsort der deutsch-französischen Freundschaft wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2014In diesem Kampf war den Erbfeinden jedes Mittel recht
Die längste und verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs dauerte vier Monate: Der Historiker Olaf Jessen rekonstruiert die Hölle von Verdun.
Von Gerd Krumeich
Die Schlacht von Verdun 1916 ist als die emblematische Schlacht des Ersten Weltkrieges bezeichnet worden, als die "totale Schlacht" in einem ansonsten in vielem noch lange nicht totalen Kriege. Vor Verdun fielen um die 300 000 deutsche und französische Soldaten, und wenn man die Verwundeten und Vermissten mitzählt, waren es mehr als 650 000 "Verluste". Es war eine Schlacht allein zwischen den Armeen der beiden Erbfeinde Frankreich und Deutschland, eine Schlacht, ausgetragen mit Klappspaten, Messer und bloßen Fäusten genauso wie mit Artillerie, Gas und Fliegerangriffen. Diese Schlacht war der Große Krieg an einem Ort. Die Überlebenden haben sich dieser vier Monate von Februar bis Juni 1916 noch Jahrzehnte später mit Horror erinnert. Vor Verdun haben Mitterrand und Kohl sich schließlich 1984 die Hand gereicht, heute weht über dem Fort Douaumont, dem so schrecklich umkämpften, die deutsche Fahne neben der französischen und der Fahne Europas.
Dementsprechend ist über die Verdun-Schlacht viel geschrieben worden, gerade ist in Frankreich die archivgesättigte Monographie von Paul Jankowski "Verdun: The Longest Battle of The Great War" erschienen . In Deutschland war die bislang verbreitetste Arbeit die von German Werth, "Verdun. Die Schlacht und der Mythos", aus dem Jahre 1977.
Olaf Jessen hat es nun unternommen, endlich eine auf den noch vorhandenen archivalischen Quellen und der Erinnerungsliteratur aufbauende Gesamtdarstellung der Schlacht zu schreiben. Er hat eine Vielzahl von privaten Nachlässen und vor allem: die lange "ruhenden" Bestände des "Reichsarchivs" ausgewertet, die, soweit sie den Luftangriff vom April l945 überstanden haben, noch einer kompletten Auswertung harrten. Jessens "Verdun" ist quellengesättigt. Und, dies ist besonders positiv hervorzuheben, nicht allein, was die deutsche Seite betrifft. Auch die französischen Quellen wurden mit derselben Intensität und Kompetenz ausgewertet.
Jessen ist sehr um ein lebendiges, erzählendes Bild der Vorbereitung und Durchführung der Schlacht bemüht. Er kennt als Verfasser der Kollektivbiographie "Die Moltkes" (2010) die Welt der Offiziere des kaiserlichen Heeres sehr gut, was ihm auch erlaubt hat, die aus diesen Kreisen stammenden Quellen unbefangen auszuwerten. Und für seine Erzählung hat er sich die Form einer Art Tagebuch der Schlachttage ausgesucht. Das verleiht zweifellos erzählerische Nähe, bewirkt aber notwendigerweise häufig Identifizierungen. Oft hat man bei der Lektüre das Gefühl, dass der Autor mit am Schreibtisch von Falkenhayn und den anderen Generalstäblern sitzt. Dazu verhilft auch die durchgehende, obzwar nicht immer durchgehaltene Präsens-Form der Darstellung.
In dieser Attitüde, wo der Historiker hinter dem Teilnehmer verschwindet, zeigt sich leider auch oft die methodische Schwäche ebendieses Verfahrens. Ein Beispiel: "Dienstag, 20. Juni. Mézières, Präfektur. Tappen brütet über einer Denkschrift." Wieso brütet? Von den zitierten Quellen her kann er sie auch ganz leichthin gelesen haben. Aber der Topos solcher Beschäftigung ist halt das Brüten, und so muss Tappen also unbedingt brüten.
Man mag diese Identifikation hinnehmen, denn sie hat den Vorteil, dass wohl unter den heutigen Autoren mit wissenschaftlichem Anspruch und Kompetenz kaum jemand sonst so tief in die "Gedankenwelt des Generalstabs" - so der Titel einer Darstellung aus den 1930er Jahren - eingestiegen ist wie Jessen mit diesem Buch. Ebendies führt auch zu einem Ergebnis, für das man dem Autor nur dankbar sein kann. Es geht dabei um die berühmt-berüchtigte Weihnachtsdenkschrift des Generalstabschefs Falkenhayn. Dieser hat in seinen Memoiren nach dem Kriege einen Text abgedruckt, den er "um Weihnachten 1915" dem Kaiser überreicht haben will. Dieser "Weihnachtsdenkschrift" zufolge sollte es in der geplanten Verdun-Schlacht nicht um einen Durchbruch oder gar Sieg gehen, sondern um ein "Ausbluten" der französischen Armee.
Diese "Blutpumpen"-Theorie hat seit 1920 einen kilometerlangen Schweif an Literatur nach sich gezogen, wobei die Crux dieser "Denkschrift" ist, dass deren Original trotz aller Bemühungen des Reichsarchivs nie gefunden wurde. Holger Afflerbach hat in seiner vorbildlichen Falkenhayn-Biographie 1994 bereits mit guten Gründen vermutet, dass die "Weihnachsdenkschrift" eigentlich nicht existiert haben kann. Nach Jessens Untersuchung kann man jetzt mit absoluter Gewissheit sagen, dass diese Ausblutungstheorie sicherlich nicht das Motiv für die Verdun-Schlacht gewesen und die "Weihnachtsdenkschrift" ein Fake ist.
Jessen hat also die Ebene der militärischen und politischen Entscheidungen auf beiden Seiten zum großen Teil wohl definitiv dargestellt. Auch die sehr gut lesbaren, an Generalstabskarten gemahnenden, aber deren militaristische Undeutlichkeiten vermeidenden Einzelkarten zu allen Abschnitten der Schlacht erleichtern das Verstehen ungemein.
Wenn man gleichwohl nicht wird sagen können, dass dieses Buch das definitive Werk über Verdun ist, liegt das daran, dass kurioserweise nahezu die gesamte Erlebniswelt des einfachen Soldaten fehlt. Sicherlich sind auch "grabennahe" Offiziersberichte verwendet worden, und man erhält eine Ahnung vom Grauen der Schlacht, etwa in der sachgerechten dramatischen Schilderung der Explosion im Fort Douaumont, am 7. Mai 1916. Aber die weitverzweigte soldatische Literatur, die Erinnerungsliteratur zumal, findet in diesem Buch keinen Platz.
Auch nicht die literarische Erinnerung. Arnold Zweigs zu Recht so berühmte "Erziehung vor Verdun" findet sich nicht einmal im Literaturverzeichnis. Dazu kommen nur fast provozierend magere drei Seiten über den Verdun-Mythos, über die permanente Präsenz von Verdun im politischen und militärischen Denken der Zwischenkriegszeit und bis heute. Man kann die Erbitterung der Frontsoldaten, die so wichtig wurde für das Schicksal der Weimarer Republik, nicht erfassen, wenn man die Erinnerung an die fehlgeschlagene Verdun-Offensive nicht einbezieht.
Bei allem zweifellosen Verdienst dieser so vorbildlich recherchierten Arbeit: Es ist, als ob Jessen nur die halbe Geschichte von Verdun hat erzählen wollen. Das ist jammerschade.
Olaf Jessen: "Verdun 1916". Urschlacht des Jahrhunderts.
Verlag C. H. Beck, München 2014. 496 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die längste und verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs dauerte vier Monate: Der Historiker Olaf Jessen rekonstruiert die Hölle von Verdun.
Von Gerd Krumeich
Die Schlacht von Verdun 1916 ist als die emblematische Schlacht des Ersten Weltkrieges bezeichnet worden, als die "totale Schlacht" in einem ansonsten in vielem noch lange nicht totalen Kriege. Vor Verdun fielen um die 300 000 deutsche und französische Soldaten, und wenn man die Verwundeten und Vermissten mitzählt, waren es mehr als 650 000 "Verluste". Es war eine Schlacht allein zwischen den Armeen der beiden Erbfeinde Frankreich und Deutschland, eine Schlacht, ausgetragen mit Klappspaten, Messer und bloßen Fäusten genauso wie mit Artillerie, Gas und Fliegerangriffen. Diese Schlacht war der Große Krieg an einem Ort. Die Überlebenden haben sich dieser vier Monate von Februar bis Juni 1916 noch Jahrzehnte später mit Horror erinnert. Vor Verdun haben Mitterrand und Kohl sich schließlich 1984 die Hand gereicht, heute weht über dem Fort Douaumont, dem so schrecklich umkämpften, die deutsche Fahne neben der französischen und der Fahne Europas.
Dementsprechend ist über die Verdun-Schlacht viel geschrieben worden, gerade ist in Frankreich die archivgesättigte Monographie von Paul Jankowski "Verdun: The Longest Battle of The Great War" erschienen . In Deutschland war die bislang verbreitetste Arbeit die von German Werth, "Verdun. Die Schlacht und der Mythos", aus dem Jahre 1977.
Olaf Jessen hat es nun unternommen, endlich eine auf den noch vorhandenen archivalischen Quellen und der Erinnerungsliteratur aufbauende Gesamtdarstellung der Schlacht zu schreiben. Er hat eine Vielzahl von privaten Nachlässen und vor allem: die lange "ruhenden" Bestände des "Reichsarchivs" ausgewertet, die, soweit sie den Luftangriff vom April l945 überstanden haben, noch einer kompletten Auswertung harrten. Jessens "Verdun" ist quellengesättigt. Und, dies ist besonders positiv hervorzuheben, nicht allein, was die deutsche Seite betrifft. Auch die französischen Quellen wurden mit derselben Intensität und Kompetenz ausgewertet.
Jessen ist sehr um ein lebendiges, erzählendes Bild der Vorbereitung und Durchführung der Schlacht bemüht. Er kennt als Verfasser der Kollektivbiographie "Die Moltkes" (2010) die Welt der Offiziere des kaiserlichen Heeres sehr gut, was ihm auch erlaubt hat, die aus diesen Kreisen stammenden Quellen unbefangen auszuwerten. Und für seine Erzählung hat er sich die Form einer Art Tagebuch der Schlachttage ausgesucht. Das verleiht zweifellos erzählerische Nähe, bewirkt aber notwendigerweise häufig Identifizierungen. Oft hat man bei der Lektüre das Gefühl, dass der Autor mit am Schreibtisch von Falkenhayn und den anderen Generalstäblern sitzt. Dazu verhilft auch die durchgehende, obzwar nicht immer durchgehaltene Präsens-Form der Darstellung.
In dieser Attitüde, wo der Historiker hinter dem Teilnehmer verschwindet, zeigt sich leider auch oft die methodische Schwäche ebendieses Verfahrens. Ein Beispiel: "Dienstag, 20. Juni. Mézières, Präfektur. Tappen brütet über einer Denkschrift." Wieso brütet? Von den zitierten Quellen her kann er sie auch ganz leichthin gelesen haben. Aber der Topos solcher Beschäftigung ist halt das Brüten, und so muss Tappen also unbedingt brüten.
Man mag diese Identifikation hinnehmen, denn sie hat den Vorteil, dass wohl unter den heutigen Autoren mit wissenschaftlichem Anspruch und Kompetenz kaum jemand sonst so tief in die "Gedankenwelt des Generalstabs" - so der Titel einer Darstellung aus den 1930er Jahren - eingestiegen ist wie Jessen mit diesem Buch. Ebendies führt auch zu einem Ergebnis, für das man dem Autor nur dankbar sein kann. Es geht dabei um die berühmt-berüchtigte Weihnachtsdenkschrift des Generalstabschefs Falkenhayn. Dieser hat in seinen Memoiren nach dem Kriege einen Text abgedruckt, den er "um Weihnachten 1915" dem Kaiser überreicht haben will. Dieser "Weihnachtsdenkschrift" zufolge sollte es in der geplanten Verdun-Schlacht nicht um einen Durchbruch oder gar Sieg gehen, sondern um ein "Ausbluten" der französischen Armee.
Diese "Blutpumpen"-Theorie hat seit 1920 einen kilometerlangen Schweif an Literatur nach sich gezogen, wobei die Crux dieser "Denkschrift" ist, dass deren Original trotz aller Bemühungen des Reichsarchivs nie gefunden wurde. Holger Afflerbach hat in seiner vorbildlichen Falkenhayn-Biographie 1994 bereits mit guten Gründen vermutet, dass die "Weihnachsdenkschrift" eigentlich nicht existiert haben kann. Nach Jessens Untersuchung kann man jetzt mit absoluter Gewissheit sagen, dass diese Ausblutungstheorie sicherlich nicht das Motiv für die Verdun-Schlacht gewesen und die "Weihnachtsdenkschrift" ein Fake ist.
Jessen hat also die Ebene der militärischen und politischen Entscheidungen auf beiden Seiten zum großen Teil wohl definitiv dargestellt. Auch die sehr gut lesbaren, an Generalstabskarten gemahnenden, aber deren militaristische Undeutlichkeiten vermeidenden Einzelkarten zu allen Abschnitten der Schlacht erleichtern das Verstehen ungemein.
Wenn man gleichwohl nicht wird sagen können, dass dieses Buch das definitive Werk über Verdun ist, liegt das daran, dass kurioserweise nahezu die gesamte Erlebniswelt des einfachen Soldaten fehlt. Sicherlich sind auch "grabennahe" Offiziersberichte verwendet worden, und man erhält eine Ahnung vom Grauen der Schlacht, etwa in der sachgerechten dramatischen Schilderung der Explosion im Fort Douaumont, am 7. Mai 1916. Aber die weitverzweigte soldatische Literatur, die Erinnerungsliteratur zumal, findet in diesem Buch keinen Platz.
Auch nicht die literarische Erinnerung. Arnold Zweigs zu Recht so berühmte "Erziehung vor Verdun" findet sich nicht einmal im Literaturverzeichnis. Dazu kommen nur fast provozierend magere drei Seiten über den Verdun-Mythos, über die permanente Präsenz von Verdun im politischen und militärischen Denken der Zwischenkriegszeit und bis heute. Man kann die Erbitterung der Frontsoldaten, die so wichtig wurde für das Schicksal der Weimarer Republik, nicht erfassen, wenn man die Erinnerung an die fehlgeschlagene Verdun-Offensive nicht einbezieht.
Bei allem zweifellosen Verdienst dieser so vorbildlich recherchierten Arbeit: Es ist, als ob Jessen nur die halbe Geschichte von Verdun hat erzählen wollen. Das ist jammerschade.
Olaf Jessen: "Verdun 1916". Urschlacht des Jahrhunderts.
Verlag C. H. Beck, München 2014. 496 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jammerschade findet Rezensent Gerd Krumeich den Umstand, dass der Autor dieses Buches, Olaf Jessen, der so großartig recherchiert und mittels erzählerischer Nähe auch einen lebendigen Eindruck von der Schlacht um Verdun aus Offiziersperspektive gibt, die soldatische Erinnerungsliteratur so konsequent ausblendet. Als hätte er nur die halbe Geschichte von Verdun erzählen wollen, meint der Rezensent. Doch das kann ja nicht sein, schließlich geht Jessen sehr intensiv und kompetent zu Werke, widerlegt die sogenannte Ausblutungstheorie und peilt auch sonst zweifellos eine Gesamtdarstellung an, wie Krumeich erklärt. Das ganze Grauen der Schlacht aber scheint er laut Rezensent dennoch nicht einfangen zu können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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