Die Entdeckung eines großen europäischen Erzählers Unterschiedlicher können Entwicklungen nicht sein: Während der Schriftsteller Martin die abstrusesten Jobs annimmt, um seine Familie über Wasser zu halten, kommt Bojan durch Zigarettenschmuggel zu Geld - der Beginn einer Karriere, in der kriminelle Machenschaften, Korruption und Erpressung Bojan zu unvorstellbarem Reichtum verhelfen. Doch der moralische Verfall ist spürbar, Werte werden über Bord geworfen, denn es zählen nur noch Macht und Geld. Martin unterdessen, zu sozialistischen Zeiten ein geachteter Autor, der die Freiheit als das höchste Gut ansah, kommt mit der Realität nicht zurecht. Er steht auf der Verliererseite, und als seine finanzielle Situation immer schwieriger wird und er seine Sorgen im Alkohol ertränkt, ist das Unglück nicht mehr aufzuhalten.
Mit schonungsloser Genauigkeit zeichnet Vladimir Zarev zwei typische menschliche Schicksale in Zeiten des politischen Umbruchs. Während machtbesessene, »demokratisch« regierende Politiker, die das Land eigentlich in ein anderes politisches System überführen sollen, Bulgarien ausbluten lassen, lebt der größte Teil der Gesellschaft in größter Not.
Komisch, lehrreich und literarisch brillant - Vladimir Zarev, in Bulgarien ein literarischer Superstar, kann nun auch vom deutschsprachigen Publikum entdeckt werden. Eine echte Überraschung.
Mit schonungsloser Genauigkeit zeichnet Vladimir Zarev zwei typische menschliche Schicksale in Zeiten des politischen Umbruchs. Während machtbesessene, »demokratisch« regierende Politiker, die das Land eigentlich in ein anderes politisches System überführen sollen, Bulgarien ausbluten lassen, lebt der größte Teil der Gesellschaft in größter Not.
Komisch, lehrreich und literarisch brillant - Vladimir Zarev, in Bulgarien ein literarischer Superstar, kann nun auch vom deutschsprachigen Publikum entdeckt werden. Eine echte Überraschung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2007Diese Männer wissen, warum sie Bier trinken
Glückliches Bulgarien! Derweil die Prostituierten Proust lesen und die Gangster Reichtümer ansammeln, bechern die Schriftsteller auf Kosten des Goethe-Instituts Schnaps: Vladimir Zarevs Epos "Verfall" ist der große Wenderoman eines kleinen osteuropäischen Landes. Literarisch jedenfalls beweist Bulgarien mit diesem Werk seine Europa-Reife.
Von Martin Halter
Wir warten bekanntlich immer noch auf den großen deutschen Wenderoman, der, in gültiger Form, vom Fall der Mauer und den Frösten der Freiheit erzählt, die Nation spaltet und wiedervereinigt und die ganze Literatur und Gesellschaft umkrempelt. Wir werden vermutlich ewig auf diese Wollmilchsau warten müssen. Aber zumindest haben wir jetzt mit Vladimir Zarevs "Verfall" den großen bulgarischen Wenderoman, der dem skizzierten Ideal schon ziemlich nahe kommt.
Die Wende, noch vom alten Regime selber initiiert und kontrolliert, fiel in Bulgarien noch schmerzhafter, verwirrender und enttäuschender aus als anderswo. In den neunziger Jahren schien der Verfall aller ökonomischen, politischen und moralischen Werte unaufhaltsam: Ex-Geheimdienstler, korrupte Politiker und zwielichtige Businessmänner plünderten den Staat aus und errichteten auf den Ruinen des "Realen Sozialismus" neue Schwindelfirmen und potemkinsche Dörfer. Es war die Zeit, als Kraftsportler und Kellner Banken gründeten und Prostitution, Zigarettenschmuggel und Autoschieberei die einzigen Wachstumsbranchen waren. Auch der Literaturbetrieb (und mit ihm die Intellektuellen samt ihrem Mythos von der Dissidenz) lag am Boden: 1989 gab es 1400 Buchhandlungen in Bulgarien, ein Jahr später zwei. Inzwischen gibt es wieder eine rege Verlagsszene und junge, vielversprechende Autoren wie Georgi Gospodinov oder Alek Popov. Aber noch vor vier Jahren konnte Vladimir Zarev, immerhin einer der bekanntesten bulgarischen Autoren und Herausgeber der wichtigsten Literaturzeitschrift, seinen Roman "Verfall" nur mit Mühe in einem kleinen Verlag unterbringen.
Märchen vom Aufstieg.
"Diese Tragik, Brüderchen, kannst du denn gar nicht ohne? Und diese langen Sätze! Spiel doch nicht immer den Aristokraten, mach's doch mal 'ne Nummer kleiner, ein bisschen einfacher, mehr so - na du weißt schon. Mach das Ding doch einfach rein, Junge!"
Was der Schriftsteller Martin Sestrimski von seinen Verlegern zu hören bekommt, ist auch Zarev nicht fremd. "Verfall" ist eine Chronik des Verfalls und ein Stück Autobiographie, gespiegelt im märchenhaften Aufstieg eines Geschäftsmanns und im korrespondierenden Abstieg eines Schriftstellers. Vor der Wende war Martin ein literarischer Star, geliebt von den Frauen, den Kritikern und selbst der Staatsmacht. Jetzt ist er arbeits- und hoffnungslos, aufgedunsen von Alkohol und Selbstekel. Wenn er nicht in seiner Plattenbauwohnung Trübsal bläst, trinkt er in der Bar des Schriftstellerverbands Bier der Marke "Männer wissen warum" oder schnorrt im Goethe-Institut Schnittchen und Schnaps.
Seine Frau Veronika hat nur noch Verachtung und feministisches Gesülze für den Verlierer übrig; eine Tochter ist nach Amerika ausgewandert, die andere ins Drogenmilieu abgetaucht. Martin fühlt sich wie Dostojewskijs Idiot, ein trauriger Spinner, der "mit seinem mottenzerfressenen, nach Naphthalin stinkenden Anzug unter lauter schicke und modern gekleidete Leute" geraten ist. Er schwitzt vor Scham und Selbstmitleid, aber er hat sich noch nicht aufgegeben. Zum völligen Verfall und Verrat fehlt es ihm an Zynismus, Energie oder auch nur an der Gelegenheit. So schlägt er sich als Werbetexter, Ghostwriter, Gänsezüchter oder "festangestellter Betrüger" in EU-Kulturprojekten durch.
Einmal lässt er sich von einem Freund, dem Antiquitätenhändler und Quartalssäufer Boshidar, zu einem lukrativen Geschäftchen überreden; das geht naturgemäß schief. Am Ende stirbt Martin in Sosopol, dem Fluchtpunkt aller Lebenslinien, mitten im letzten Satz seines Romans "Verfall". Der Tod des Erzählers, behauptete die Foucault-Kennerin Veronika, ist das Ende der Geschichte. Aber ohne Schriftsteller gibt es keine Geschichte, ohne "einzelne Gedächtnisse" keine kollektive Erinnerung, und so ist noch Martins jämmerlicher Tod ein Triumph von Literatur und Liebe und ein Fest der Sprache.
Männer in der Duldungsstarre.
Die andere Hälfte des Doppelromans handelt vom Aufstieg und Fall Bojan Tilevs. Bojan war ein kleiner Milizionär der Staatssicherheit, der nach der Wende durch Zufall, Geschick und Chuzpe nach oben gespült wurde. Im November 1989 nimmt ihn sein Chef, der "General", beiseite und bereitet ihn mit dunklen Orakelsprüchen auf eine lichte Zukunft vor. Anfangs weiß Bojan nicht, wie ihm geschieht, dann nimmt er, was und wie es kommt: Geld, Macht, Frauen, legal oder illegal. Als Spieler liebt er das Risiko und kassiert die Früchte der Freiheit wie selbstverständlich. Prostituierte, die Proust lesen und Hunde vergewaltigen, ölige Mafia-Paten, unbestechlich korrupte Minister: Alle lecken ihm die Füße. Nur Maria, seine Frau, entzieht sich ihm durch Haikus, Stottern und Schweigen, und der General ist noch als Toter mächtiger als die Lebenden.
Anders als sein ungehobelter Geschäftspartner Krassi Dionov weiß Bojan, wann man von Kreditbetrug zu Investitionen, von roher Gewalt zu Medienund Lobbyarbeit, vom demonstrativen Konsum im Puff zum Kultursponsoring eine Etage höher übergehen muss. Ein bayrischer Milliardär erteilte ihm einmal eine Lektion in Diskretion und Maß: Auf lange Sicht ist die Vernunft des Marktes stärker als nackte Gier, kriminelle Willkür, vulgäres Protzen. Noch ist die anarchische Phase der Kapitalakkumulation nicht abgeschlossen; aber bald wird das globale Geld Recht und Ordnung schaffen. Nicht der Menschen wegen, wie die Eurokommissare behaupten: Für Zarev ist das Geld ein Lebewesen, das sich selber seine Träger sucht, ein Subjekt, das mit wachsender Größe und zunehmendem Alter seine flegelhaften Manieren ablegt, "weiser und moralischer" wird. Noch allerdings ist Krassis Gangster-Instinkt stärker als die Logik des Marktes, und so zerbricht Bojan gerade an seiner Sehnsucht nach Ordnung und bürgerlicher Reputation.
Was die Martins seit dem "Ausbruch der Demokratie" an Leichtigkeit, Furchtlosigkeit und Stolz verloren haben, gewannen die Bojans an Dreistigkeit und Gier. Geld ist Freiheit, aber nach dem "Gesetz der moralischen Thermodynamik" bleibt das Maß an Freiheit gleich, die Energie erhalten. Zarev beschreibt hellsichtig und wütend, mit grimmigem Humor, bitterer Selbstironie und melancholischer Trauer den moralischen Ausverkauf Bulgariens: "Es gibt kein schlimmeres Gefängnis als aufgezwungene Freiheit." Alles ist erlaubt, am meisten das Unglück. Die neuen Reichen versinken in glamourösem Stumpfsinn, die alten Intellektuellen in Larmoyanz, die kleinen Leute schummeln sich mit kleinen Betrügereien und großem Selbstbetrug durch. Wer sich die exklusiveren Vergnügungen - Shopping, Chivas Regal, indische Gurus - nicht leisten kann, hält sich an Ikonen, billigem Wodka und den morschen Idealen von gestern fest. Die Männer träumen auch gern von Strapsen, schweren Brüsten und der "Duldungsstarre" schmerzhaft schöner Traumfrauen; auch Zarev hat vom Macho-Bier "Männer wissen warum" mehr als ein "westeuropäisches" Schlückchen genippt.
Es gibt in diesem Roman ärgerliche Männerfantasien, auch einige Klischees und Brüder-Karamasow-Sentimentalität. Aber alles in allem ist "Verfall" eine hinreißende Comédie humaine der bulgarischen Wendegesellschaft: Mit bösem Witz, epischem Atem und dem Scharfblick dessen, der nichts mehr zu verlieren hat, zeichnet Zarev Konflikt- und Verbindungslinien zwischen Kapital und Intelligenz, Geist und Geld, Gangster- und Bildungsroman.
"Verfall" war der erfolgreichste bulgarische Roman seit der Wende und in literaturpolitischer Hinsicht selber eine: Wo die Kritiker der alten Schule Sex, Crime und Gossensprache bemäkelten, empfanden jüngere, eher westlich orientierte Leser und Autoren Zarevs vitales Untergangsepos als ungemein erfrischend und ermutigend. Der Sechzigjährige ist jetzt nicht mehr nur der verdiente Held der bulgarischen Literatur, sondern ein Erzähler von europäischem Rang: Dieser "Verfall" gibt Hoffnung und bezeugt jedenfalls die literarische Europa-Reife Bulgariens.
- Vladimir Zarev: "Verfall". Roman. Aus dem Bulgarischen übersetzt von Thomas Frahm. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007. 512 S., geb., 24,90 [Euro].
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Glückliches Bulgarien! Derweil die Prostituierten Proust lesen und die Gangster Reichtümer ansammeln, bechern die Schriftsteller auf Kosten des Goethe-Instituts Schnaps: Vladimir Zarevs Epos "Verfall" ist der große Wenderoman eines kleinen osteuropäischen Landes. Literarisch jedenfalls beweist Bulgarien mit diesem Werk seine Europa-Reife.
Von Martin Halter
Wir warten bekanntlich immer noch auf den großen deutschen Wenderoman, der, in gültiger Form, vom Fall der Mauer und den Frösten der Freiheit erzählt, die Nation spaltet und wiedervereinigt und die ganze Literatur und Gesellschaft umkrempelt. Wir werden vermutlich ewig auf diese Wollmilchsau warten müssen. Aber zumindest haben wir jetzt mit Vladimir Zarevs "Verfall" den großen bulgarischen Wenderoman, der dem skizzierten Ideal schon ziemlich nahe kommt.
Die Wende, noch vom alten Regime selber initiiert und kontrolliert, fiel in Bulgarien noch schmerzhafter, verwirrender und enttäuschender aus als anderswo. In den neunziger Jahren schien der Verfall aller ökonomischen, politischen und moralischen Werte unaufhaltsam: Ex-Geheimdienstler, korrupte Politiker und zwielichtige Businessmänner plünderten den Staat aus und errichteten auf den Ruinen des "Realen Sozialismus" neue Schwindelfirmen und potemkinsche Dörfer. Es war die Zeit, als Kraftsportler und Kellner Banken gründeten und Prostitution, Zigarettenschmuggel und Autoschieberei die einzigen Wachstumsbranchen waren. Auch der Literaturbetrieb (und mit ihm die Intellektuellen samt ihrem Mythos von der Dissidenz) lag am Boden: 1989 gab es 1400 Buchhandlungen in Bulgarien, ein Jahr später zwei. Inzwischen gibt es wieder eine rege Verlagsszene und junge, vielversprechende Autoren wie Georgi Gospodinov oder Alek Popov. Aber noch vor vier Jahren konnte Vladimir Zarev, immerhin einer der bekanntesten bulgarischen Autoren und Herausgeber der wichtigsten Literaturzeitschrift, seinen Roman "Verfall" nur mit Mühe in einem kleinen Verlag unterbringen.
Märchen vom Aufstieg.
"Diese Tragik, Brüderchen, kannst du denn gar nicht ohne? Und diese langen Sätze! Spiel doch nicht immer den Aristokraten, mach's doch mal 'ne Nummer kleiner, ein bisschen einfacher, mehr so - na du weißt schon. Mach das Ding doch einfach rein, Junge!"
Was der Schriftsteller Martin Sestrimski von seinen Verlegern zu hören bekommt, ist auch Zarev nicht fremd. "Verfall" ist eine Chronik des Verfalls und ein Stück Autobiographie, gespiegelt im märchenhaften Aufstieg eines Geschäftsmanns und im korrespondierenden Abstieg eines Schriftstellers. Vor der Wende war Martin ein literarischer Star, geliebt von den Frauen, den Kritikern und selbst der Staatsmacht. Jetzt ist er arbeits- und hoffnungslos, aufgedunsen von Alkohol und Selbstekel. Wenn er nicht in seiner Plattenbauwohnung Trübsal bläst, trinkt er in der Bar des Schriftstellerverbands Bier der Marke "Männer wissen warum" oder schnorrt im Goethe-Institut Schnittchen und Schnaps.
Seine Frau Veronika hat nur noch Verachtung und feministisches Gesülze für den Verlierer übrig; eine Tochter ist nach Amerika ausgewandert, die andere ins Drogenmilieu abgetaucht. Martin fühlt sich wie Dostojewskijs Idiot, ein trauriger Spinner, der "mit seinem mottenzerfressenen, nach Naphthalin stinkenden Anzug unter lauter schicke und modern gekleidete Leute" geraten ist. Er schwitzt vor Scham und Selbstmitleid, aber er hat sich noch nicht aufgegeben. Zum völligen Verfall und Verrat fehlt es ihm an Zynismus, Energie oder auch nur an der Gelegenheit. So schlägt er sich als Werbetexter, Ghostwriter, Gänsezüchter oder "festangestellter Betrüger" in EU-Kulturprojekten durch.
Einmal lässt er sich von einem Freund, dem Antiquitätenhändler und Quartalssäufer Boshidar, zu einem lukrativen Geschäftchen überreden; das geht naturgemäß schief. Am Ende stirbt Martin in Sosopol, dem Fluchtpunkt aller Lebenslinien, mitten im letzten Satz seines Romans "Verfall". Der Tod des Erzählers, behauptete die Foucault-Kennerin Veronika, ist das Ende der Geschichte. Aber ohne Schriftsteller gibt es keine Geschichte, ohne "einzelne Gedächtnisse" keine kollektive Erinnerung, und so ist noch Martins jämmerlicher Tod ein Triumph von Literatur und Liebe und ein Fest der Sprache.
Männer in der Duldungsstarre.
Die andere Hälfte des Doppelromans handelt vom Aufstieg und Fall Bojan Tilevs. Bojan war ein kleiner Milizionär der Staatssicherheit, der nach der Wende durch Zufall, Geschick und Chuzpe nach oben gespült wurde. Im November 1989 nimmt ihn sein Chef, der "General", beiseite und bereitet ihn mit dunklen Orakelsprüchen auf eine lichte Zukunft vor. Anfangs weiß Bojan nicht, wie ihm geschieht, dann nimmt er, was und wie es kommt: Geld, Macht, Frauen, legal oder illegal. Als Spieler liebt er das Risiko und kassiert die Früchte der Freiheit wie selbstverständlich. Prostituierte, die Proust lesen und Hunde vergewaltigen, ölige Mafia-Paten, unbestechlich korrupte Minister: Alle lecken ihm die Füße. Nur Maria, seine Frau, entzieht sich ihm durch Haikus, Stottern und Schweigen, und der General ist noch als Toter mächtiger als die Lebenden.
Anders als sein ungehobelter Geschäftspartner Krassi Dionov weiß Bojan, wann man von Kreditbetrug zu Investitionen, von roher Gewalt zu Medienund Lobbyarbeit, vom demonstrativen Konsum im Puff zum Kultursponsoring eine Etage höher übergehen muss. Ein bayrischer Milliardär erteilte ihm einmal eine Lektion in Diskretion und Maß: Auf lange Sicht ist die Vernunft des Marktes stärker als nackte Gier, kriminelle Willkür, vulgäres Protzen. Noch ist die anarchische Phase der Kapitalakkumulation nicht abgeschlossen; aber bald wird das globale Geld Recht und Ordnung schaffen. Nicht der Menschen wegen, wie die Eurokommissare behaupten: Für Zarev ist das Geld ein Lebewesen, das sich selber seine Träger sucht, ein Subjekt, das mit wachsender Größe und zunehmendem Alter seine flegelhaften Manieren ablegt, "weiser und moralischer" wird. Noch allerdings ist Krassis Gangster-Instinkt stärker als die Logik des Marktes, und so zerbricht Bojan gerade an seiner Sehnsucht nach Ordnung und bürgerlicher Reputation.
Was die Martins seit dem "Ausbruch der Demokratie" an Leichtigkeit, Furchtlosigkeit und Stolz verloren haben, gewannen die Bojans an Dreistigkeit und Gier. Geld ist Freiheit, aber nach dem "Gesetz der moralischen Thermodynamik" bleibt das Maß an Freiheit gleich, die Energie erhalten. Zarev beschreibt hellsichtig und wütend, mit grimmigem Humor, bitterer Selbstironie und melancholischer Trauer den moralischen Ausverkauf Bulgariens: "Es gibt kein schlimmeres Gefängnis als aufgezwungene Freiheit." Alles ist erlaubt, am meisten das Unglück. Die neuen Reichen versinken in glamourösem Stumpfsinn, die alten Intellektuellen in Larmoyanz, die kleinen Leute schummeln sich mit kleinen Betrügereien und großem Selbstbetrug durch. Wer sich die exklusiveren Vergnügungen - Shopping, Chivas Regal, indische Gurus - nicht leisten kann, hält sich an Ikonen, billigem Wodka und den morschen Idealen von gestern fest. Die Männer träumen auch gern von Strapsen, schweren Brüsten und der "Duldungsstarre" schmerzhaft schöner Traumfrauen; auch Zarev hat vom Macho-Bier "Männer wissen warum" mehr als ein "westeuropäisches" Schlückchen genippt.
Es gibt in diesem Roman ärgerliche Männerfantasien, auch einige Klischees und Brüder-Karamasow-Sentimentalität. Aber alles in allem ist "Verfall" eine hinreißende Comédie humaine der bulgarischen Wendegesellschaft: Mit bösem Witz, epischem Atem und dem Scharfblick dessen, der nichts mehr zu verlieren hat, zeichnet Zarev Konflikt- und Verbindungslinien zwischen Kapital und Intelligenz, Geist und Geld, Gangster- und Bildungsroman.
"Verfall" war der erfolgreichste bulgarische Roman seit der Wende und in literaturpolitischer Hinsicht selber eine: Wo die Kritiker der alten Schule Sex, Crime und Gossensprache bemäkelten, empfanden jüngere, eher westlich orientierte Leser und Autoren Zarevs vitales Untergangsepos als ungemein erfrischend und ermutigend. Der Sechzigjährige ist jetzt nicht mehr nur der verdiente Held der bulgarischen Literatur, sondern ein Erzähler von europäischem Rang: Dieser "Verfall" gibt Hoffnung und bezeugt jedenfalls die literarische Europa-Reife Bulgariens.
- Vladimir Zarev: "Verfall". Roman. Aus dem Bulgarischen übersetzt von Thomas Frahm. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007. 512 S., geb., 24,90 [Euro].
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"'Verfall' ist nicht etwa nur ein kulturpolitisches Ereignis für Bulgarien selbst, sondern vor allem auch ein Stück Literatur, das die bulgarische Belletristik auf einen Streich aus ihrer Randlage heraus in die Mitte der intellektuellen Debatten um das Europa der Zukunft führen könnte." Deutschlandfunk"Man geht mit Zarevs Prosa um, wie man gewöhnlich mit einem Schatz umgeht. Man sperrt sich allein mit ihr ein und streichelt sie mit Augen und ergötzt sich an der Vollkommenheit jedes Bildes, an dem Glanz jedes einzelnen Satzes." - Dimitré Dinev
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ganz glücklich ist Sandra Hoffmann mit diesem Roman nicht geworden, auch wenn sie ihn über weite Strecken mit großer Belustigung, aber auch Anteilnahme gelesen hat. Es ist der Roman zur bulgarischen Wende, den Vladimir Zarev hier vorgelegt hat, und er spielt mit sämtlichen Klischees des Landes sehr virtuos: Es geht um die zwei Männer, Geschäftsmann der eine, scheiternder Schriftsteller der andere, und jegliche Handlung wird von der Korruption, dem Schnaps und den Frauen bestimmt, schreibt die Rezensentin, im Verfall begriffen sind Moral und Liebe ebenso wie der Geldwert. Hoffmann sieht in diesem Roman die "Misere des Landes mit der entsprechenden Erzälhlust" angegangen, manche Episoden, meint sie, sind "richtig groß". Doch wesentlich besser hätte ihr das Ganze gefallen, wenn er gehörig gestrafft worden wäre, und das eine oder andere Klischee nicht immer wieder zu Tode geritten worden wäre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Zarev ist der Balzac Bulgariens, und zugleich hat er mit Verfall für sein Land jenen Wenderoman geschrieben, den das deutsche Feuilleton bis heute vergeblich einklagt.« Deutschlandfunk Büchermarkt