Die Forschung zum bisher wenig aufgearbeiteten »Radikalenerlass« zielt ins Herz der westdeutschen Demokratiegeschichte.Der 1972 unter Bundeskanzler Willy Brandt verabschiedete »Radikalenerlass« war politisch umstritten. Wissenschaftlich wurde seine Geschichte bislang kaum untersucht. Schützte der »Extremistenbeschluss« die Demokratie vor ihren Feinden von rechts und links - oder war er ein Instrument von Repression und Bespitzelung? Grad und Intensität der Umsetzung unterschieden sich je nach Bundesland: So galt Baden-Württemberg - zentraler Untersuchungsgegenstand dieses Bands - mit dem landeseigenen »Schiess-Erlass« als »Bollwerk« der »Radikalen-Abwehr« oder als »schwarze Berufsverbots-Provinz«. Erstmals erhobene Akten und Dokumente aus zahlreichen Archiven bieten Aufschluss über das Handeln der Filbinger-Administration und der Behörden, die Situation der Betroffenen und die öffentlichen Debatten. Weitere Studien zur Stellung des »Radikalenerlasses« in der Zeitgeschichte, Studien zu anderen Bundesländern und zur Rolle von Schulen und Universitäten als Schauplätzen der Auseinandersetzung ordnen diese Ergebnisse in einem größeren Zusammenhang ein. Die Aufarbeitung des »Radikalenerlasses« berührt Fragen der Wehrhaftigkeit und des Extremismus und bleibt damit auch heute hochaktuell.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Thomas Holl hat lange gewartet auf den von Birgit Hofmann und Edgar Wolfrum herausgegebenen wissenschaftlichen Sammelband zum "Radikalenerlass" mit Schwerpunkt auf Baden-Württemberg. Die 34 Einzelstudien, Zeitzeugengespräche und Quellenstücke führen laut Holl in die Vorgeschichte des Radikalenerlasses ein, in die politischen Auseinandersetzungen um ihn und seine Wirkung. Die politischen und sozialen Bedingungen, auf die der Erlass 1972 traf, werden ihm ebenso vermittelt wie Brandts Selbstkritik. Besonders beeindruckend findet Holl die Zeitzeugentexte, die ihm die drastischen Auswirkungen des Erlasses auf einzelne Lebenswege verdeutlichen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2022Mit Willy Brandt zum "Radikalenerlass"
Wie der Beschluss zur Abwehr von Extremisten im öffentlichen Dienst 1972 die Bundesrepublik polarisierte
Zehn Jahre ist es her, dass Winfried Kretschmann ankündigte, dass ein Erlass wissenschaftlich aufgearbeitet werde, der ihn selbst fast den Berufseinstieg als Gymnasiallehrer für Biologie und Chemie gekostet hätte. Der 2011 zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg gewählte Grüne, der seine Partei mit wertkonservativen Ansichten und einer pragmatisch-ökologischen Wirtschaftspolitik im Südwesten mehrheitsfähig machte, geriet Mitte der Siebzigerjahre als Anhänger kommunistischer Studentengruppen in den Verdacht, ein Verfassungsfeind zu sein. Zwei vom Verfassungsschutz dem Oberschulamt gemeldete Kandidaturen für maoistische Hochschulgruppen 1972 und 1973 begründeten die Zweifel seines Dienstherrn an Kretschmanns Verfassungstreue. Dem Kultusministerium in Stuttgart diente als Grundlage für die Überprüfung des angehenden Referendars Kretschmann der als "Radikalenerlass" bekannt gewordene Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 28. Januar 1972, den auch der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) zunächst unterstützt hatte. Ein Beschluss, der in Baden-Württemberg unter dem damaligen Innenminister Karl Schiess ein Jahr später auf ausdrücklichen Wunsch seines Ministerpräsidenten Hans Filbinger (beide CDU) in Form eines Erlasses besonders rigide ausgelegt wurde. Nicht nur Beamte, sondern alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst sollten im Südwesten auf ihre Verfassungstreue überprüft werden. Aber auch in Bundesländern, die von Sozialdemokraten regiert wurden, wurde der "Radikalenerlass" bei der Einstellung von Bewerbern in den Staatsdienst angewendet.
In der Folge wurden Tausende vor allem junge Frauen und Männer, die sich im Zuge der Studentenrevolte von 1968 politisch in linken und linksextremen Gruppen und Parteien engagierten, wegen Zweifel an ihrer Verfassungstreue nicht als Beamte eingestellt oder gar entlassen. Vor allem angehende Lehrer waren überdurchschnittlich oft betroffen. Im Ausland, etwa in Frankreich, den Niederlanden oder Schweden, wurde diese bundesdeutsche Praxis der Extremistenabwehr kritisch bis besorgt betrachtet, etwa von Alfred Grosser oder dem in London lehrenden Liberalen Ralf Dahrendorf. Der von seinen Gegnern polemisch geprägte Kampfbegriff "Berufsverbot" fand als deutsches Wort Eingang in den internationalen Sprachgebrauch wie davor "Blitzkrieg" oder später "Waldsterben". Der damals 27 Jahre alte Kretschmann selbst entging dem "Berufsverbot" nur knapp, nachdem er zunächst nicht zum Referendariat zugelassen worden war. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975, das zwar den Erlass grundsätzlich billigte, aber auch das Recht auf Ausbildung hervorhob, half dem heutigen Landesvater. Zumal sich Kretschmann in seinem späteren Engagement bei den Grünen glaubwürdig vom Kommunismus distanzierte.
Nun liegt auch das vom "staatlich geprüften Verfassungsfreund" Kretschmann 2012 versprochene wissenschaftliche Werk zum Thema "Radikalenerlass" vor, das "forschungsintensiv und komplex" sei, wie es seinerzeit aus der Staatskanzlei zur Begründung für die lange Wartezeit hieß.
Der Heidelberger Professor für Zeitgeschichte Edgar Wolfrum hat als Herausgeber nach drei Jahren Forschungsarbeit etlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter ein Buch vorgelegt, das erstmals auf fast 700 Seiten und in 34 Einzelstudien, Zeitzeugengesprächen und Quellenfundstücken den Radikalenerlass, seine Vorgeschichte und die politische Auseinandersetzung und Wirkung auf das gesellschaftliche Klima in den Siebziger- und Achtzigerjahren beleuchtet. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei wie von Kretschmann angekündigt auf Baden-Württemberg. Warum gerade das bis 2011 von der CDU regierte Bundesland aus Sicht der grün geführten Landesregierung im Fokus steht, macht das Geleitwort von Kretschmanns Wissenschaftsministerin Theresa Bauer meinungsstark deutlich, deren Haus das Projekt finanziell unterstützt hat. Dem Radikalenerlass komme in Baden-Württemberg besondere Bedeutung zu, da die Praxis aufgrund der damals vorherrschenden politischen Kultur hier besonders intensiv und länger als in anderen Bundesländern angewandt worden sei, schreibt Bauer. Das Land habe sich damals einen Namen als "schwarze Berufsverbotsprovinz" gemacht. Die Praxis des Erlasses habe dazu geführt, "dass die Lebensentwürfe von vor allem jungen Menschen zerstört und Existenzen zerstört wurden".
In ihrer Einführung benennen Wolfrum und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Birgit Hofmann gleich die politische Fallhöhe des Erlasses für die Entwicklung der Bundesrepublik nach dem sozialliberalen Machtwechsel 1969. "Kaum ein anderes Ereignis der jüngeren Zeitgeschichte hat so tiefe Spuren in der bundesrepublikanischen Gesellschaft hinterlassen wie der Radikalenerlass vom Januar 1972." Seine Entstehungsgeschichte spielt sich vor dem Hintergrund der gescheiterten Studentenrevolte und dem nachfolgenden Entstehen zahlreicher linksextremistischer Splittergruppen ab, deren mörderischer Ableger die "RAF" um Andreas Baader und Ulrike Meinhof war. Aber auch die Erfahrungen aus dem Ende der Weimarer Republik und der daraus 1949 gezogenen Lehre von der "wehrhaften Demokratie" gegenüber Verfassungsfeinden von rechts und links spielten eine Rolle bei der Entstehung des Erlasses. Gleichzeitig stand die von Brandt geführte rot-gelbe Koalition mit ihrer knappen Bundestagsmehrheit, wie Wolfrum und Hofmann pointiert darlegen, "vom ersten Tag ihres Amtsantritts 1969 an unter Druck".
Die Union, die den Machtverlust nicht habe verwinden können, "malte grell eine Gefahr von links an die Wand". Der beschworene "Marsch durch die Institutionen" sei indes kein "bloßes Hirngespinst" von CDU und CSU gewesen.
Die SPD war innerlich zerrissen, weit mehr als Jahrzehnte später durch Schröders Agenda-Reformen. Große Teile der Jusos und SPD-Linken träumten von sozialistischen Gesellschaftsmodellen und propagierten die Überwindung des Spätkapitalismus, auch "in Aktionseinheit mit kommunistischen Kräften". Die Sowjetunion und der von ihr beherrschte Ostblock erschien im Westen damals weitaus mächtiger und gefestigter, als er sich im Rückblick nach dem Ende des Kalten Kriegs erwies. Für die Befürworter des Radikalenerlasses wie Friedrich Karl Fromme in der F.A.Z. war "Unbesorgtheit angesichts der kommunistischen Gefahr" ein schwerer Fehler. Auch die Führung der SPD und gerade auch Willy Brandt, darauf weist Wolfrum hin, waren ungeachtet ihrer Entspannungspolitik antikommunistisch eingestellt, nicht zuletzt aus der bitteren Erfahrung der Zwangsvereinigung von KPD und SPD 1946 zur SED in der Sowjetischen Besatzungszone. Brandt wollte mit seinem Eintreten für einen "Extremistenerlass" im öffentlichen Dienst wie auch das SPD-geführte Hamburg sich bei der Abwehr von Kommunisten nicht von der Union "zum Jagen tragen" lassen.
Warum Brandt und andere Sozialdemokraten wie Peter Glotz wenige Jahre später angesichts der Proteste und der Überprüfungspraxis auch durch den Verfassungsschutz den Erlass selbstkritisch als großen politischen Fehler sahen, wird ebenfalls nachvollziehbar geschildert. Mit welcher Sammelwut und Akribie der Staat gerade in Baden-Württemberg unter der CDU Filbingers auch aus parteipolitischer Motivation ("Freiheit oder Sozialismus") vorging, wird in Einzelstudien wie etwa von Yvonne Hilges herausgearbeitet. Lesenswert sind ebenso die Zeitzeugengespräche, die auch die teils dramatischen Eingriffe in private und berufliche Lebenswege vor Augen führen. Außerdem finden die verfassungsrechtliche Problematik des Radikalenerlasses, die zwiespältige Rolle des Verfassungsschutzes und die breite Bewegung gegen den Erlass an den Hochschulen Platz in dem Werk. Wünschenswert wäre eine ähnlich sorgfältige, wissenschaftliche Aufarbeitung unerschlossener Archivquellen auch in damals SPD-geführten Bundesländern wie etwa in West-Berlin oder Hamburg. THOMAS HOLL
Birgit Hofmann / Edgar Wolfrum (Hrsg.): Verfassungsfeinde im Land? Der "Radikalenerlass" von 1972 in der Geschichte Baden-Württembergs und der Bundesrepublik.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 684 S., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie der Beschluss zur Abwehr von Extremisten im öffentlichen Dienst 1972 die Bundesrepublik polarisierte
Zehn Jahre ist es her, dass Winfried Kretschmann ankündigte, dass ein Erlass wissenschaftlich aufgearbeitet werde, der ihn selbst fast den Berufseinstieg als Gymnasiallehrer für Biologie und Chemie gekostet hätte. Der 2011 zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg gewählte Grüne, der seine Partei mit wertkonservativen Ansichten und einer pragmatisch-ökologischen Wirtschaftspolitik im Südwesten mehrheitsfähig machte, geriet Mitte der Siebzigerjahre als Anhänger kommunistischer Studentengruppen in den Verdacht, ein Verfassungsfeind zu sein. Zwei vom Verfassungsschutz dem Oberschulamt gemeldete Kandidaturen für maoistische Hochschulgruppen 1972 und 1973 begründeten die Zweifel seines Dienstherrn an Kretschmanns Verfassungstreue. Dem Kultusministerium in Stuttgart diente als Grundlage für die Überprüfung des angehenden Referendars Kretschmann der als "Radikalenerlass" bekannt gewordene Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 28. Januar 1972, den auch der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) zunächst unterstützt hatte. Ein Beschluss, der in Baden-Württemberg unter dem damaligen Innenminister Karl Schiess ein Jahr später auf ausdrücklichen Wunsch seines Ministerpräsidenten Hans Filbinger (beide CDU) in Form eines Erlasses besonders rigide ausgelegt wurde. Nicht nur Beamte, sondern alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst sollten im Südwesten auf ihre Verfassungstreue überprüft werden. Aber auch in Bundesländern, die von Sozialdemokraten regiert wurden, wurde der "Radikalenerlass" bei der Einstellung von Bewerbern in den Staatsdienst angewendet.
In der Folge wurden Tausende vor allem junge Frauen und Männer, die sich im Zuge der Studentenrevolte von 1968 politisch in linken und linksextremen Gruppen und Parteien engagierten, wegen Zweifel an ihrer Verfassungstreue nicht als Beamte eingestellt oder gar entlassen. Vor allem angehende Lehrer waren überdurchschnittlich oft betroffen. Im Ausland, etwa in Frankreich, den Niederlanden oder Schweden, wurde diese bundesdeutsche Praxis der Extremistenabwehr kritisch bis besorgt betrachtet, etwa von Alfred Grosser oder dem in London lehrenden Liberalen Ralf Dahrendorf. Der von seinen Gegnern polemisch geprägte Kampfbegriff "Berufsverbot" fand als deutsches Wort Eingang in den internationalen Sprachgebrauch wie davor "Blitzkrieg" oder später "Waldsterben". Der damals 27 Jahre alte Kretschmann selbst entging dem "Berufsverbot" nur knapp, nachdem er zunächst nicht zum Referendariat zugelassen worden war. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975, das zwar den Erlass grundsätzlich billigte, aber auch das Recht auf Ausbildung hervorhob, half dem heutigen Landesvater. Zumal sich Kretschmann in seinem späteren Engagement bei den Grünen glaubwürdig vom Kommunismus distanzierte.
Nun liegt auch das vom "staatlich geprüften Verfassungsfreund" Kretschmann 2012 versprochene wissenschaftliche Werk zum Thema "Radikalenerlass" vor, das "forschungsintensiv und komplex" sei, wie es seinerzeit aus der Staatskanzlei zur Begründung für die lange Wartezeit hieß.
Der Heidelberger Professor für Zeitgeschichte Edgar Wolfrum hat als Herausgeber nach drei Jahren Forschungsarbeit etlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter ein Buch vorgelegt, das erstmals auf fast 700 Seiten und in 34 Einzelstudien, Zeitzeugengesprächen und Quellenfundstücken den Radikalenerlass, seine Vorgeschichte und die politische Auseinandersetzung und Wirkung auf das gesellschaftliche Klima in den Siebziger- und Achtzigerjahren beleuchtet. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei wie von Kretschmann angekündigt auf Baden-Württemberg. Warum gerade das bis 2011 von der CDU regierte Bundesland aus Sicht der grün geführten Landesregierung im Fokus steht, macht das Geleitwort von Kretschmanns Wissenschaftsministerin Theresa Bauer meinungsstark deutlich, deren Haus das Projekt finanziell unterstützt hat. Dem Radikalenerlass komme in Baden-Württemberg besondere Bedeutung zu, da die Praxis aufgrund der damals vorherrschenden politischen Kultur hier besonders intensiv und länger als in anderen Bundesländern angewandt worden sei, schreibt Bauer. Das Land habe sich damals einen Namen als "schwarze Berufsverbotsprovinz" gemacht. Die Praxis des Erlasses habe dazu geführt, "dass die Lebensentwürfe von vor allem jungen Menschen zerstört und Existenzen zerstört wurden".
In ihrer Einführung benennen Wolfrum und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Birgit Hofmann gleich die politische Fallhöhe des Erlasses für die Entwicklung der Bundesrepublik nach dem sozialliberalen Machtwechsel 1969. "Kaum ein anderes Ereignis der jüngeren Zeitgeschichte hat so tiefe Spuren in der bundesrepublikanischen Gesellschaft hinterlassen wie der Radikalenerlass vom Januar 1972." Seine Entstehungsgeschichte spielt sich vor dem Hintergrund der gescheiterten Studentenrevolte und dem nachfolgenden Entstehen zahlreicher linksextremistischer Splittergruppen ab, deren mörderischer Ableger die "RAF" um Andreas Baader und Ulrike Meinhof war. Aber auch die Erfahrungen aus dem Ende der Weimarer Republik und der daraus 1949 gezogenen Lehre von der "wehrhaften Demokratie" gegenüber Verfassungsfeinden von rechts und links spielten eine Rolle bei der Entstehung des Erlasses. Gleichzeitig stand die von Brandt geführte rot-gelbe Koalition mit ihrer knappen Bundestagsmehrheit, wie Wolfrum und Hofmann pointiert darlegen, "vom ersten Tag ihres Amtsantritts 1969 an unter Druck".
Die Union, die den Machtverlust nicht habe verwinden können, "malte grell eine Gefahr von links an die Wand". Der beschworene "Marsch durch die Institutionen" sei indes kein "bloßes Hirngespinst" von CDU und CSU gewesen.
Die SPD war innerlich zerrissen, weit mehr als Jahrzehnte später durch Schröders Agenda-Reformen. Große Teile der Jusos und SPD-Linken träumten von sozialistischen Gesellschaftsmodellen und propagierten die Überwindung des Spätkapitalismus, auch "in Aktionseinheit mit kommunistischen Kräften". Die Sowjetunion und der von ihr beherrschte Ostblock erschien im Westen damals weitaus mächtiger und gefestigter, als er sich im Rückblick nach dem Ende des Kalten Kriegs erwies. Für die Befürworter des Radikalenerlasses wie Friedrich Karl Fromme in der F.A.Z. war "Unbesorgtheit angesichts der kommunistischen Gefahr" ein schwerer Fehler. Auch die Führung der SPD und gerade auch Willy Brandt, darauf weist Wolfrum hin, waren ungeachtet ihrer Entspannungspolitik antikommunistisch eingestellt, nicht zuletzt aus der bitteren Erfahrung der Zwangsvereinigung von KPD und SPD 1946 zur SED in der Sowjetischen Besatzungszone. Brandt wollte mit seinem Eintreten für einen "Extremistenerlass" im öffentlichen Dienst wie auch das SPD-geführte Hamburg sich bei der Abwehr von Kommunisten nicht von der Union "zum Jagen tragen" lassen.
Warum Brandt und andere Sozialdemokraten wie Peter Glotz wenige Jahre später angesichts der Proteste und der Überprüfungspraxis auch durch den Verfassungsschutz den Erlass selbstkritisch als großen politischen Fehler sahen, wird ebenfalls nachvollziehbar geschildert. Mit welcher Sammelwut und Akribie der Staat gerade in Baden-Württemberg unter der CDU Filbingers auch aus parteipolitischer Motivation ("Freiheit oder Sozialismus") vorging, wird in Einzelstudien wie etwa von Yvonne Hilges herausgearbeitet. Lesenswert sind ebenso die Zeitzeugengespräche, die auch die teils dramatischen Eingriffe in private und berufliche Lebenswege vor Augen führen. Außerdem finden die verfassungsrechtliche Problematik des Radikalenerlasses, die zwiespältige Rolle des Verfassungsschutzes und die breite Bewegung gegen den Erlass an den Hochschulen Platz in dem Werk. Wünschenswert wäre eine ähnlich sorgfältige, wissenschaftliche Aufarbeitung unerschlossener Archivquellen auch in damals SPD-geführten Bundesländern wie etwa in West-Berlin oder Hamburg. THOMAS HOLL
Birgit Hofmann / Edgar Wolfrum (Hrsg.): Verfassungsfeinde im Land? Der "Radikalenerlass" von 1972 in der Geschichte Baden-Württembergs und der Bundesrepublik.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 684 S., 38,- Euro.
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