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Dolf Sternberger und Jürgen Habermas entwickelten das Konzept des Verfassungspatriotismus als Antwort auf die Situation der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg: Als alle Formen des kulturell oder ethnisch motivierten Patriotismus diskreditiert waren, plädierten sie für die rationale Identifikation mit den universellen Werten und Prinzipien des Grundgesetzes. Ist diese Form des Patriotismus in der postnationalen Konstellation, in der Nationalstaaten durch Migration kulturell vielfältiger werden und in der politische Kompetenzen auf supranationale Staatenverbände wie die Europäische Union…mehr

Produktbeschreibung
Dolf Sternberger und Jürgen Habermas entwickelten das Konzept des Verfassungspatriotismus als Antwort auf die Situation der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg: Als alle Formen des kulturell oder ethnisch motivierten Patriotismus diskreditiert waren, plädierten sie für die rationale Identifikation mit den universellen Werten und Prinzipien des Grundgesetzes. Ist diese Form des Patriotismus in der postnationalen Konstellation, in der Nationalstaaten durch Migration kulturell vielfältiger werden und in der politische Kompetenzen auf supranationale Staatenverbände wie die Europäische Union übergehen, in der Lage, Solidarität und kollektive Identifikation zu stiften? Dieser Frage geht Jan-Werner Müller in seiner präzisen ideengeschichtlichen Rekonstruktion nach.
Autorenporträt
Jan-Werner Müller, geboren 1970, lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Princeton. Er veröffentlicht regelmäßig Artikel zum aktuellen politischen Zeitgeschehen, unter anderem in der Süddeutschen und in der Neuen Zürcher Zeitung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2010

Herr Habermas lässt grüßen!
Suche nach dem übergreifenden Verfassungspatriotismus

Das Thema könnte aktueller nicht sein. Die von Thilo Sarrazin befeuerte Debatte über Zuwanderung, Einwanderung und Integration kommt ohne die Frage nach der nationalen Identität nicht aus - eine Frage, die doch die deutsche Nachkriegsgeschichte sowohl im Osten wie im Westen und verstärkt nach der Wiedervereinigung permanent begleitete und bis heute unterschiedlich beantwortet wird. Jan-Werner Müller zeichnet im ersten Kapitel seines "Essays" die Entstehung des Konzepts des Verfassungspatriotismus in der alten Bundesrepublik nach. Akribisch legt er dessen Wurzeln bei Dolf Sternberger 1946/47 frei: in Reflexionen über die Notwendigkeit von bürgerlichen Tugenden für eine "lebende Verfassung" des neuen demokratischen Gemeinwesens, das durch den Riss zwischen Staat und Nation gekennzeichnet war. Sternberger gebrauchte den Begriff "Verfassungspatriotismus" erstmals 1970 in einem Beitrag für diese Zeitung und führte ihn 1979 ebenda in einem Artikel mit dem gleichnamigen Titel zum dreißigsten Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland aus.

Kritisch vermerkt Müller, dass der Sternberger'sche Verfassungspatriotismus "keinen Deut an der ethnisch fundierten Konzeption deutscher Staatsbürgerschaft" geändert habe. Anders Jürgen Habermas. Er popularisierte in den achtziger Jahren den Begriff und setzte ihn gegen vermeintliche Versuche der Restauration eines "normalen" deutschen Nationalbewusstseins als "einzigen Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet" - durch die Bindung an "universalistische Verfassungsprinzipien", gründend auf der geistigen und ethischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Letztlich breitet das Buch die Ideen von Jürgen Habermas aus. Die Identität eines Landes soll sich in der Aneignung von Demokratie und Menschenrechten auf je eigene Weise vor dem Hintergrund seiner jeweiligen Geschichte und Kultur ergeben. Damit sind auch die "kommunikativen Praktiken" der Selbstverständigung, also die Habermas'sche Diskurstheorie, angesprochen.

Das zweite Kapitel versucht den Verfassungspatriotismus theoretisch umfassend zu verorten - einmal in der Abgrenzung zum "liberalen Nationalismus", einem Begriff aus der amerikanischen Debatte, der mit dem deutschen Konzept der nationalen Leitkultur gleichgesetzt wird; zum anderen in der Zurückweisung aller möglichen Einwände, dass der Verfassungspatriotismus zu abstrakt, zu partikularistisch oder verrechtlichend sei. Die Argumentation erweckt hier nicht selten den Eindruck des Spitzfindigen.

Im dritten Teil wendet der Verfasser den Verfassungspatriotismus als Instrument der innerstaatlichen und supranationalen Integration an. In den einzelstaatlichen Debatten sieht er eine "Konvergenz hin zu allgemein akzeptierten Zielen und Integrationsinstrumenten" zugunsten eines "sich immer wieder diskursiv erneuernden Verfassungspatriotismus". Es leuchtet ein, dass allein der Verfassungspatriotismus für das kulturell heterogene Europa identitätsbildend sein kann. Denkbar sei für die EU "eine Art rational-emotionaler Arbeitsteilung zwischen einem nationalstaatlich eingerahmten, emotional dichteren Bewusstsein und einem übergreifenden Verfassungspatriotismus, der sich auf die spezifischen Prinzipien und Praktiken der Union als liberales Projekt bezieht".

Das Buch ist nicht einfach zu lesen. Es ist aus Passagen unterschiedlicher Aufsätze und Bücher zusammengefügt, was zu einer gewissen Redundanz führt. Zudem leidet der "Essay" an einer unpräzisen Klärung deutscher und amerikanischer Begrifflichkeit. Wenn man von Habermas absieht, setzt Müller sich im Wesentlichen mit der amerikanischen Literatur auseinander. Die deutsche Diskussion über Republik und Verfassungspatriotismus in Abgrenzung von einem ethnisch verstandenen Nationbegriff kennt der Verfasser nur partiell. Die von ihm mehrfach angeprangerte Kritik, dass der Verfassungspatriotismus nur ein intellektuelles Konstrukt mit Seminarcharakter sei, kann Müller letztlich selbst nicht ausräumen. Eine Auseinandersetzung mit der empirisch fassbaren Realität der einzelstaatlichen politischen Kulturen wäre für die praktische Relevanz dieser normativen Studie eine notwendige Voraussetzung.

WOLFGANG JÄGER

Jan-Wener Müller: Verfassungspatriotismus. Edition Suhrkamp, Berlin 2010. 155 S., 12,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Gern würde Helmut König den Verfassungspatriotismus, den der Politikwissenschaftker Jan-Werner Müller in diesem band erläutert, auch als hinreichende Bedingung für gemeinsame Lebenswelten und Zusammengehörigkeit verstehen. Jedoch scheint ihm das Prinzip höchstens eine grundlegende Bedingung dafür zu sein. Eine kritische Anmerkung des Rezensenten zum Begriffsverständnis des Autors, das er in puncto Integrationsfähigkeit durchaus teilt. Überhaupt findet König eine Menge Klärungen, wenn auch nicht sämtliche. So scheint ihm der Verfassungspatriotismus als Basis für den Prozess der europäischen Einigung eher ungeeignet.

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