Dolf Sternberger und Jürgen Habermas entwickelten das Konzept des Verfassungspatriotismus als Antwort auf die Situation der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg: Als alle Formen des kulturell oder ethnisch motivierten Patriotismus diskreditiert waren, plädierten sie für die rationale Identifikation mit den universellen Werten und Prinzipien des Grundgesetzes. Ist diese Form des Patriotismus in der postnationalen Konstellation, in der Nationalstaaten durch Migration kulturell vielfältiger werden und in der politische Kompetenzen auf supranationale Staatenverbände wie die Europäische Union übergehen, in der Lage, Solidarität und kollektive Identifikation zu stiften? Dieser Frage geht Jan-Werner Müller in seiner präzisen ideengeschichtlichen Rekonstruktion nach.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.08.2010Freie Nationen ohne
Nationalismus
Jan-Werner Müller fragt, welchen
Verfassungspatriotismus Europa braucht
Mit der Wiedervereinigung hielten ihn seine Kritiker für erledigt: den Verfassungspatriotismus, jenes begriffliche Provisorium für eine geteilte Nation mit der moralischen Katastrophe des Zivilisationsbruchs im Rücken. Als blassen Seminargedanken und abstrakte Professorenidee taten konservative Intellektuelle das vermeintlich blutleere Konzept ab, das Dolf Sternberger und Jürgen Habermas auf den Begriff gebracht hatten.
Die Idee ist einfach. In all seinen Nuancen lässt sich Verfassungspatriotismus immer trennscharf von Kosmopolitismus einerseits und liberalem Nationalismus abgrenzen. Politische Loyalität ist weder einem sich über Herkunft, Kultur und Geschichte definierenden nationalen Kollektiv geschuldet noch der Menschheit an sich, sondern den universalen Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte – und den Verfahren, in denen sich diese in einem konkreten Verfassungsraum verwirklichen.
In den zwanzig Jahren seit dem Sommer 1990 hat sich der Verfassungspatriotismus als ebenso vital wie das Grundgesetz erwiesen, auf das ihn seine Väter bezogen – gleichfalls ein Provisorium des geteilten Deutschland. Seitdem erfreut er sich weltweit wachsender Beliebtheit, nicht nur in nach größerer Autonomie strebenden Regionen Spaniens und in der multikulturellen Gesellschaft Kanadas. Noch kurz vor seinem Tod legte Richard Rorty der iranischen Oppositionsbewegung den Verfassungspatriotismus als liberale Alternative ans Herz, um in dem zerrissenen Land bürgerschaftliche Solidarität zu entwickeln. Verfassungspatriotismus gewinnt dort neue Bedeutung, wo es um Integration und Festigung politischer Gemeinschaft geht: im supranationalen Integrationsprozess der Europäischen Union, aber auch im Innern des Staates.
Lange fehlte eine ideengeschichtlichen Rekonstruktion, die theoretisch Rechenschaft ablegt über Objekt, Modus und Gründe des Verfassungspatriotismus – und so eigentlich erst ein Urteil über das Potential des Konzepts ermöglicht. 2007 veröffentlichte der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller bei Princeton University Press einen schmalen Band zum Thema, der hohes Lob erntete. Nun liegt sein Essay in einer deutschen Ausgabe vor. Der Autor, der in Princeton politische Theorie lehrt, hat seine Überlegungen gründlich überarbeitet und ergänzt. Was nun vorliegt, ist nicht nur eine jener prägnanten ideengeschichtlichen Studien, mit denen sich Müller seit Erscheinen des aus seiner Dissertation hervorgegangenen Bandes „Another Country: German Intellectuals, Unification and National Identity“ (2000) einen Namen gemacht hat. Meinungsfreudig positioniert sich hier ein kluger Beobachter aktueller Debatten um Zugehörigkeit, Integration und politische Loyalitäten, pointiert und scharf durchdacht bis ins Detail.
Im ersten Teil geht Jan-Werner Müller den Ursprüngen und Entwicklungslinien des Verfassungspatriotismus nach, von Dolf Sternberger, der die Idee zuerst auf den Begriff brachte, zurück zu dessen Lehrer Jaspers – und nach vorne zu Jürgen Habermas, der sich das Konzept in den achtziger Jahren aneignete und ihm bis heute eine eigene, fortlaufend reflektierte und dezidiert universalistische Note gibt. Präzise werden die Unterschiede zwischen Habermas und Sternberger herausgearbeitet – und die Gemeinsamkeiten. „Blutleer“ und „abstrakt“ ist da nichts, stattdessen legt Müller eine Interpretation vor, die schon in den ursprünglichen Konzeptionen eine „anspruchsvolle Theorie der Dialektik des Universellen und des Partikularen“ freilegt: „Sie ließen den Nationalismus hinter sich, aber nicht die Nation als solche.“ Insofern sei der oft eng mit dem Verfassungspatriotismus verbundene Ausdruck „post-national“ von Anfang an irreführend gewesen. Es hätte, so Müller, eher „post-nationalistisch“ heißen müssen, denn das Nationale als in sich stimmiger Korpus kultureller Überlieferungen sei nicht etwa eliminiert, sondern transformiert worden – durch die sensible Befragung der eigenen Traditionen im Lichte öffentlicher Vernunft.
Nach Habermas müsse sich jedes Land Demokratie und Menschenrechte auf eigene Weise und vor dem Hintergrund seiner Geschichte und Kultur aneignen. Bewusst übernommene Verantwortung für die Vergangenheit sei die Voraussetzung kollektiver wie individueller Autonomie. Immer wieder unterstreicht Müller den Prozesscharakter des Verfassungspatriotismus. „Verfassungspatrioten sollten sich nicht nur um die Verfassung sorgen, sondern auch um die Qualität ihrer Öffentlichkeit und ihrer öffentlichen Auseinandersetzungen.“ Verfassungspatriotismus braucht und bedingt Verfassungskultur.
Den Kontext der ursprünglichen Versionen des Verfassungspatriotismus bildeten andere politische Probleme als unsere heutigen: Sternberger und Habermas ging es im weitesten Sinne um soziale „Integration“, aber kaum um die „Vergemeinschaftung“ kulturell zunehmend heterogener Einwanderungsgesellschaften oder um Fragen supranationaler Einigung. Es ging „um das normative Selbstverständnis der einen Hälfte eines geteilten Landes, das sich als Nation höchst problematisch geworden war und in dem eine zunehmend als erfolgreich erachtete Verfassung eine besonders wichtige Rolle spielen konnte“.
Doch dass die Konzeption des Verfassungspatriotismus in einem partikularen Kontext entstand, ändert nichts an ihrer universalistischen Ambition. Ob sich das darin liegende normative Versprechen auch jenseits der bundesrepublikanischen Grenzen verwirklichen lässt, untersucht Müller im zweiten Teil seines Essays, der die Diskussion auf eine abstraktere Ebene hebt und zeigt, dass sich Bürger überall den Verfassungspatriotismus produktiv aneignen können.
Verfassungspatriotismus erleichtere die Schaffung transnationaler Normen, denn er erzeuge „normativen Überschuss“. Schließlich könne keine Verfassungsordnung für sich beanspruchen, alle universellen Normen und Prinzipien bereits perfekt und ein für allemal verwirklicht zu haben. So lade eine Auseinandersetzung über staatliche Grenzen hinweg dazu ein, immer wieder neu um die bestmögliche Interpretation und Anwendung und Institutionalisierung politischer Prinzipien zu ringen, in der je konkreten Verfassungskultur.
In der Praxis des Verfassungspatriotismus gehe es um „die immer wieder neu zu erstreitende Selbstbeschreibung einer Gesellschaft – nicht um eine definitive Deskription.“ Kein Wunder also, dass der Begriff allgegenwärtig ist, wo es um Integration geht: um die innerstaatliche Integration von Minderheiten, um den Integrationsprozess der Europäischen Union. Angesichts einer transeuropäischen Tendenz zum Konsens über Fragen der Einwanderung, Integration und Bürgerschaft beobachtet Müller im völlig neu konzipierten dritten Teil seines Buches eine Konvergenz politischer Ziele und Integrationsinstrumente, die er als „verfassungspatriotisch“ identifiziert.
Was aber ist europäischer Verfassungspatriotismus, und zu welchem Ende soll man ihn kultivieren? Seine Spezifika ergeben sich, so Müller, nicht aus dem vermeintlich Besonderen an Europa, sondern aus den Besonderheiten der Europäischen Union, eines politischen Projekts zwischen Staatenbund und Bundesstaat, in dem Konfrontationen von Ideen, Interessen und Identitäten in zivilisierter Form ausgetragen werden. Dabei lassen sich supranationale Vernunft und nationale Leidenschaft nicht gegeneinander ausspielen. Objekte eines europäischen Verfassungspatriotismus müssten die Prinzipien und Praktiken der Toleranz sein, die in der EU-Tagespolitik eine wichtige Rolle spielen – und das von diesen getragene pluralistische, liberale Friedens- und Freiheitsprojekt Europa, welches eben keine neue „Nation Europa“ konstituieren wolle, sondern mit existierenden Nationalgefühlen und fortdauernder kultureller Vielfalt – auch einer Vielfalt nationaler Verfassungen – weitgehend kompatibel sei. „Gefordert wird von den Bürgern in einer solchen Verhandlungsdemokratie nicht Toleranz im Sinne von Nachsicht gegenüber Missständen in Brüssel, sondern liberale Aufmerksamkeit, kritisches Wohlwollen für ein einzigartiges – und einzigartig erfolgreiches – politisches Experiment, und, last but not least, eine Art von Sorge um dieses Experiment.“
Klingt nach Sonntagsrede? Könnte man meinen, räumt der kluge Autor selbst ein. Es ist aber, wie dieses ganze fulminante Bändchen, glänzend geschriebene politische Theorie, die Begriffe und Positionen unserer Zeit auf den Punkt bringt und dabei den Sinn für das Mögliche schärft.
ALEXANDRA KEMMERER
JAN-WERNER MÜLLER: Verfassungspatriotismus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 176 Seiten, 12 Euro.
Patrioten sollten sich auch um
die Qualität ihrer
Öffentlichkeit kümmern
Die Europäische Union braucht
eine Art von bürgerlicher Sorge
um dieses Experiment
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Nationalismus
Jan-Werner Müller fragt, welchen
Verfassungspatriotismus Europa braucht
Mit der Wiedervereinigung hielten ihn seine Kritiker für erledigt: den Verfassungspatriotismus, jenes begriffliche Provisorium für eine geteilte Nation mit der moralischen Katastrophe des Zivilisationsbruchs im Rücken. Als blassen Seminargedanken und abstrakte Professorenidee taten konservative Intellektuelle das vermeintlich blutleere Konzept ab, das Dolf Sternberger und Jürgen Habermas auf den Begriff gebracht hatten.
Die Idee ist einfach. In all seinen Nuancen lässt sich Verfassungspatriotismus immer trennscharf von Kosmopolitismus einerseits und liberalem Nationalismus abgrenzen. Politische Loyalität ist weder einem sich über Herkunft, Kultur und Geschichte definierenden nationalen Kollektiv geschuldet noch der Menschheit an sich, sondern den universalen Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte – und den Verfahren, in denen sich diese in einem konkreten Verfassungsraum verwirklichen.
In den zwanzig Jahren seit dem Sommer 1990 hat sich der Verfassungspatriotismus als ebenso vital wie das Grundgesetz erwiesen, auf das ihn seine Väter bezogen – gleichfalls ein Provisorium des geteilten Deutschland. Seitdem erfreut er sich weltweit wachsender Beliebtheit, nicht nur in nach größerer Autonomie strebenden Regionen Spaniens und in der multikulturellen Gesellschaft Kanadas. Noch kurz vor seinem Tod legte Richard Rorty der iranischen Oppositionsbewegung den Verfassungspatriotismus als liberale Alternative ans Herz, um in dem zerrissenen Land bürgerschaftliche Solidarität zu entwickeln. Verfassungspatriotismus gewinnt dort neue Bedeutung, wo es um Integration und Festigung politischer Gemeinschaft geht: im supranationalen Integrationsprozess der Europäischen Union, aber auch im Innern des Staates.
Lange fehlte eine ideengeschichtlichen Rekonstruktion, die theoretisch Rechenschaft ablegt über Objekt, Modus und Gründe des Verfassungspatriotismus – und so eigentlich erst ein Urteil über das Potential des Konzepts ermöglicht. 2007 veröffentlichte der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller bei Princeton University Press einen schmalen Band zum Thema, der hohes Lob erntete. Nun liegt sein Essay in einer deutschen Ausgabe vor. Der Autor, der in Princeton politische Theorie lehrt, hat seine Überlegungen gründlich überarbeitet und ergänzt. Was nun vorliegt, ist nicht nur eine jener prägnanten ideengeschichtlichen Studien, mit denen sich Müller seit Erscheinen des aus seiner Dissertation hervorgegangenen Bandes „Another Country: German Intellectuals, Unification and National Identity“ (2000) einen Namen gemacht hat. Meinungsfreudig positioniert sich hier ein kluger Beobachter aktueller Debatten um Zugehörigkeit, Integration und politische Loyalitäten, pointiert und scharf durchdacht bis ins Detail.
Im ersten Teil geht Jan-Werner Müller den Ursprüngen und Entwicklungslinien des Verfassungspatriotismus nach, von Dolf Sternberger, der die Idee zuerst auf den Begriff brachte, zurück zu dessen Lehrer Jaspers – und nach vorne zu Jürgen Habermas, der sich das Konzept in den achtziger Jahren aneignete und ihm bis heute eine eigene, fortlaufend reflektierte und dezidiert universalistische Note gibt. Präzise werden die Unterschiede zwischen Habermas und Sternberger herausgearbeitet – und die Gemeinsamkeiten. „Blutleer“ und „abstrakt“ ist da nichts, stattdessen legt Müller eine Interpretation vor, die schon in den ursprünglichen Konzeptionen eine „anspruchsvolle Theorie der Dialektik des Universellen und des Partikularen“ freilegt: „Sie ließen den Nationalismus hinter sich, aber nicht die Nation als solche.“ Insofern sei der oft eng mit dem Verfassungspatriotismus verbundene Ausdruck „post-national“ von Anfang an irreführend gewesen. Es hätte, so Müller, eher „post-nationalistisch“ heißen müssen, denn das Nationale als in sich stimmiger Korpus kultureller Überlieferungen sei nicht etwa eliminiert, sondern transformiert worden – durch die sensible Befragung der eigenen Traditionen im Lichte öffentlicher Vernunft.
Nach Habermas müsse sich jedes Land Demokratie und Menschenrechte auf eigene Weise und vor dem Hintergrund seiner Geschichte und Kultur aneignen. Bewusst übernommene Verantwortung für die Vergangenheit sei die Voraussetzung kollektiver wie individueller Autonomie. Immer wieder unterstreicht Müller den Prozesscharakter des Verfassungspatriotismus. „Verfassungspatrioten sollten sich nicht nur um die Verfassung sorgen, sondern auch um die Qualität ihrer Öffentlichkeit und ihrer öffentlichen Auseinandersetzungen.“ Verfassungspatriotismus braucht und bedingt Verfassungskultur.
Den Kontext der ursprünglichen Versionen des Verfassungspatriotismus bildeten andere politische Probleme als unsere heutigen: Sternberger und Habermas ging es im weitesten Sinne um soziale „Integration“, aber kaum um die „Vergemeinschaftung“ kulturell zunehmend heterogener Einwanderungsgesellschaften oder um Fragen supranationaler Einigung. Es ging „um das normative Selbstverständnis der einen Hälfte eines geteilten Landes, das sich als Nation höchst problematisch geworden war und in dem eine zunehmend als erfolgreich erachtete Verfassung eine besonders wichtige Rolle spielen konnte“.
Doch dass die Konzeption des Verfassungspatriotismus in einem partikularen Kontext entstand, ändert nichts an ihrer universalistischen Ambition. Ob sich das darin liegende normative Versprechen auch jenseits der bundesrepublikanischen Grenzen verwirklichen lässt, untersucht Müller im zweiten Teil seines Essays, der die Diskussion auf eine abstraktere Ebene hebt und zeigt, dass sich Bürger überall den Verfassungspatriotismus produktiv aneignen können.
Verfassungspatriotismus erleichtere die Schaffung transnationaler Normen, denn er erzeuge „normativen Überschuss“. Schließlich könne keine Verfassungsordnung für sich beanspruchen, alle universellen Normen und Prinzipien bereits perfekt und ein für allemal verwirklicht zu haben. So lade eine Auseinandersetzung über staatliche Grenzen hinweg dazu ein, immer wieder neu um die bestmögliche Interpretation und Anwendung und Institutionalisierung politischer Prinzipien zu ringen, in der je konkreten Verfassungskultur.
In der Praxis des Verfassungspatriotismus gehe es um „die immer wieder neu zu erstreitende Selbstbeschreibung einer Gesellschaft – nicht um eine definitive Deskription.“ Kein Wunder also, dass der Begriff allgegenwärtig ist, wo es um Integration geht: um die innerstaatliche Integration von Minderheiten, um den Integrationsprozess der Europäischen Union. Angesichts einer transeuropäischen Tendenz zum Konsens über Fragen der Einwanderung, Integration und Bürgerschaft beobachtet Müller im völlig neu konzipierten dritten Teil seines Buches eine Konvergenz politischer Ziele und Integrationsinstrumente, die er als „verfassungspatriotisch“ identifiziert.
Was aber ist europäischer Verfassungspatriotismus, und zu welchem Ende soll man ihn kultivieren? Seine Spezifika ergeben sich, so Müller, nicht aus dem vermeintlich Besonderen an Europa, sondern aus den Besonderheiten der Europäischen Union, eines politischen Projekts zwischen Staatenbund und Bundesstaat, in dem Konfrontationen von Ideen, Interessen und Identitäten in zivilisierter Form ausgetragen werden. Dabei lassen sich supranationale Vernunft und nationale Leidenschaft nicht gegeneinander ausspielen. Objekte eines europäischen Verfassungspatriotismus müssten die Prinzipien und Praktiken der Toleranz sein, die in der EU-Tagespolitik eine wichtige Rolle spielen – und das von diesen getragene pluralistische, liberale Friedens- und Freiheitsprojekt Europa, welches eben keine neue „Nation Europa“ konstituieren wolle, sondern mit existierenden Nationalgefühlen und fortdauernder kultureller Vielfalt – auch einer Vielfalt nationaler Verfassungen – weitgehend kompatibel sei. „Gefordert wird von den Bürgern in einer solchen Verhandlungsdemokratie nicht Toleranz im Sinne von Nachsicht gegenüber Missständen in Brüssel, sondern liberale Aufmerksamkeit, kritisches Wohlwollen für ein einzigartiges – und einzigartig erfolgreiches – politisches Experiment, und, last but not least, eine Art von Sorge um dieses Experiment.“
Klingt nach Sonntagsrede? Könnte man meinen, räumt der kluge Autor selbst ein. Es ist aber, wie dieses ganze fulminante Bändchen, glänzend geschriebene politische Theorie, die Begriffe und Positionen unserer Zeit auf den Punkt bringt und dabei den Sinn für das Mögliche schärft.
ALEXANDRA KEMMERER
JAN-WERNER MÜLLER: Verfassungspatriotismus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 176 Seiten, 12 Euro.
Patrioten sollten sich auch um
die Qualität ihrer
Öffentlichkeit kümmern
Die Europäische Union braucht
eine Art von bürgerlicher Sorge
um dieses Experiment
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2010Herr Habermas lässt grüßen!
Suche nach dem übergreifenden Verfassungspatriotismus
Das Thema könnte aktueller nicht sein. Die von Thilo Sarrazin befeuerte Debatte über Zuwanderung, Einwanderung und Integration kommt ohne die Frage nach der nationalen Identität nicht aus - eine Frage, die doch die deutsche Nachkriegsgeschichte sowohl im Osten wie im Westen und verstärkt nach der Wiedervereinigung permanent begleitete und bis heute unterschiedlich beantwortet wird. Jan-Werner Müller zeichnet im ersten Kapitel seines "Essays" die Entstehung des Konzepts des Verfassungspatriotismus in der alten Bundesrepublik nach. Akribisch legt er dessen Wurzeln bei Dolf Sternberger 1946/47 frei: in Reflexionen über die Notwendigkeit von bürgerlichen Tugenden für eine "lebende Verfassung" des neuen demokratischen Gemeinwesens, das durch den Riss zwischen Staat und Nation gekennzeichnet war. Sternberger gebrauchte den Begriff "Verfassungspatriotismus" erstmals 1970 in einem Beitrag für diese Zeitung und führte ihn 1979 ebenda in einem Artikel mit dem gleichnamigen Titel zum dreißigsten Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland aus.
Kritisch vermerkt Müller, dass der Sternberger'sche Verfassungspatriotismus "keinen Deut an der ethnisch fundierten Konzeption deutscher Staatsbürgerschaft" geändert habe. Anders Jürgen Habermas. Er popularisierte in den achtziger Jahren den Begriff und setzte ihn gegen vermeintliche Versuche der Restauration eines "normalen" deutschen Nationalbewusstseins als "einzigen Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet" - durch die Bindung an "universalistische Verfassungsprinzipien", gründend auf der geistigen und ethischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Letztlich breitet das Buch die Ideen von Jürgen Habermas aus. Die Identität eines Landes soll sich in der Aneignung von Demokratie und Menschenrechten auf je eigene Weise vor dem Hintergrund seiner jeweiligen Geschichte und Kultur ergeben. Damit sind auch die "kommunikativen Praktiken" der Selbstverständigung, also die Habermas'sche Diskurstheorie, angesprochen.
Das zweite Kapitel versucht den Verfassungspatriotismus theoretisch umfassend zu verorten - einmal in der Abgrenzung zum "liberalen Nationalismus", einem Begriff aus der amerikanischen Debatte, der mit dem deutschen Konzept der nationalen Leitkultur gleichgesetzt wird; zum anderen in der Zurückweisung aller möglichen Einwände, dass der Verfassungspatriotismus zu abstrakt, zu partikularistisch oder verrechtlichend sei. Die Argumentation erweckt hier nicht selten den Eindruck des Spitzfindigen.
Im dritten Teil wendet der Verfasser den Verfassungspatriotismus als Instrument der innerstaatlichen und supranationalen Integration an. In den einzelstaatlichen Debatten sieht er eine "Konvergenz hin zu allgemein akzeptierten Zielen und Integrationsinstrumenten" zugunsten eines "sich immer wieder diskursiv erneuernden Verfassungspatriotismus". Es leuchtet ein, dass allein der Verfassungspatriotismus für das kulturell heterogene Europa identitätsbildend sein kann. Denkbar sei für die EU "eine Art rational-emotionaler Arbeitsteilung zwischen einem nationalstaatlich eingerahmten, emotional dichteren Bewusstsein und einem übergreifenden Verfassungspatriotismus, der sich auf die spezifischen Prinzipien und Praktiken der Union als liberales Projekt bezieht".
Das Buch ist nicht einfach zu lesen. Es ist aus Passagen unterschiedlicher Aufsätze und Bücher zusammengefügt, was zu einer gewissen Redundanz führt. Zudem leidet der "Essay" an einer unpräzisen Klärung deutscher und amerikanischer Begrifflichkeit. Wenn man von Habermas absieht, setzt Müller sich im Wesentlichen mit der amerikanischen Literatur auseinander. Die deutsche Diskussion über Republik und Verfassungspatriotismus in Abgrenzung von einem ethnisch verstandenen Nationbegriff kennt der Verfasser nur partiell. Die von ihm mehrfach angeprangerte Kritik, dass der Verfassungspatriotismus nur ein intellektuelles Konstrukt mit Seminarcharakter sei, kann Müller letztlich selbst nicht ausräumen. Eine Auseinandersetzung mit der empirisch fassbaren Realität der einzelstaatlichen politischen Kulturen wäre für die praktische Relevanz dieser normativen Studie eine notwendige Voraussetzung.
WOLFGANG JÄGER
Jan-Wener Müller: Verfassungspatriotismus. Edition Suhrkamp, Berlin 2010. 155 S., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Suche nach dem übergreifenden Verfassungspatriotismus
Das Thema könnte aktueller nicht sein. Die von Thilo Sarrazin befeuerte Debatte über Zuwanderung, Einwanderung und Integration kommt ohne die Frage nach der nationalen Identität nicht aus - eine Frage, die doch die deutsche Nachkriegsgeschichte sowohl im Osten wie im Westen und verstärkt nach der Wiedervereinigung permanent begleitete und bis heute unterschiedlich beantwortet wird. Jan-Werner Müller zeichnet im ersten Kapitel seines "Essays" die Entstehung des Konzepts des Verfassungspatriotismus in der alten Bundesrepublik nach. Akribisch legt er dessen Wurzeln bei Dolf Sternberger 1946/47 frei: in Reflexionen über die Notwendigkeit von bürgerlichen Tugenden für eine "lebende Verfassung" des neuen demokratischen Gemeinwesens, das durch den Riss zwischen Staat und Nation gekennzeichnet war. Sternberger gebrauchte den Begriff "Verfassungspatriotismus" erstmals 1970 in einem Beitrag für diese Zeitung und führte ihn 1979 ebenda in einem Artikel mit dem gleichnamigen Titel zum dreißigsten Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland aus.
Kritisch vermerkt Müller, dass der Sternberger'sche Verfassungspatriotismus "keinen Deut an der ethnisch fundierten Konzeption deutscher Staatsbürgerschaft" geändert habe. Anders Jürgen Habermas. Er popularisierte in den achtziger Jahren den Begriff und setzte ihn gegen vermeintliche Versuche der Restauration eines "normalen" deutschen Nationalbewusstseins als "einzigen Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet" - durch die Bindung an "universalistische Verfassungsprinzipien", gründend auf der geistigen und ethischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Letztlich breitet das Buch die Ideen von Jürgen Habermas aus. Die Identität eines Landes soll sich in der Aneignung von Demokratie und Menschenrechten auf je eigene Weise vor dem Hintergrund seiner jeweiligen Geschichte und Kultur ergeben. Damit sind auch die "kommunikativen Praktiken" der Selbstverständigung, also die Habermas'sche Diskurstheorie, angesprochen.
Das zweite Kapitel versucht den Verfassungspatriotismus theoretisch umfassend zu verorten - einmal in der Abgrenzung zum "liberalen Nationalismus", einem Begriff aus der amerikanischen Debatte, der mit dem deutschen Konzept der nationalen Leitkultur gleichgesetzt wird; zum anderen in der Zurückweisung aller möglichen Einwände, dass der Verfassungspatriotismus zu abstrakt, zu partikularistisch oder verrechtlichend sei. Die Argumentation erweckt hier nicht selten den Eindruck des Spitzfindigen.
Im dritten Teil wendet der Verfasser den Verfassungspatriotismus als Instrument der innerstaatlichen und supranationalen Integration an. In den einzelstaatlichen Debatten sieht er eine "Konvergenz hin zu allgemein akzeptierten Zielen und Integrationsinstrumenten" zugunsten eines "sich immer wieder diskursiv erneuernden Verfassungspatriotismus". Es leuchtet ein, dass allein der Verfassungspatriotismus für das kulturell heterogene Europa identitätsbildend sein kann. Denkbar sei für die EU "eine Art rational-emotionaler Arbeitsteilung zwischen einem nationalstaatlich eingerahmten, emotional dichteren Bewusstsein und einem übergreifenden Verfassungspatriotismus, der sich auf die spezifischen Prinzipien und Praktiken der Union als liberales Projekt bezieht".
Das Buch ist nicht einfach zu lesen. Es ist aus Passagen unterschiedlicher Aufsätze und Bücher zusammengefügt, was zu einer gewissen Redundanz führt. Zudem leidet der "Essay" an einer unpräzisen Klärung deutscher und amerikanischer Begrifflichkeit. Wenn man von Habermas absieht, setzt Müller sich im Wesentlichen mit der amerikanischen Literatur auseinander. Die deutsche Diskussion über Republik und Verfassungspatriotismus in Abgrenzung von einem ethnisch verstandenen Nationbegriff kennt der Verfasser nur partiell. Die von ihm mehrfach angeprangerte Kritik, dass der Verfassungspatriotismus nur ein intellektuelles Konstrukt mit Seminarcharakter sei, kann Müller letztlich selbst nicht ausräumen. Eine Auseinandersetzung mit der empirisch fassbaren Realität der einzelstaatlichen politischen Kulturen wäre für die praktische Relevanz dieser normativen Studie eine notwendige Voraussetzung.
WOLFGANG JÄGER
Jan-Wener Müller: Verfassungspatriotismus. Edition Suhrkamp, Berlin 2010. 155 S., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Gern würde Helmut König den Verfassungspatriotismus, den der Politikwissenschaftker Jan-Werner Müller in diesem band erläutert, auch als hinreichende Bedingung für gemeinsame Lebenswelten und Zusammengehörigkeit verstehen. Jedoch scheint ihm das Prinzip höchstens eine grundlegende Bedingung dafür zu sein. Eine kritische Anmerkung des Rezensenten zum Begriffsverständnis des Autors, das er in puncto Integrationsfähigkeit durchaus teilt. Überhaupt findet König eine Menge Klärungen, wenn auch nicht sämtliche. So scheint ihm der Verfassungspatriotismus als Basis für den Prozess der europäischen Einigung eher ungeeignet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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