Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts befindet sich mittlerweile im siebten Jahrzehnt. Von daher verwundert es wenig, dass das Gericht seine ohnehin schon elaborierte Verfassungs- und Grundrechtsdogmatik beständig verfeinert. All dies bot Anlass genug, eine dritte Auflage der "Verfassungsrechtsprechung" in Angriff zu nehmen. Wie schon zuvor erläutern die Beiträge dieses Bandes auch in der aktuellen Auflage historische und juristische Hintergründe, fassen die Kernaussagen zusammen und analysieren sie unter Einbeziehung der Folgen für die weitere Verfassungsentwicklung. Aus Rezensionen: "Der Band kann als hervorragende Ergänzung zum Studium und zur praktischen Erprobung des Verfassungsrechts herangezogen werden."www.rewibuch.de (1/2017)"Ein äußerst empfehlenswerter Band!" Hans-Günter Henneke Der Landkreis 2012, S. 120-121"[...] weitere Auflagen der Schrift [sind zu erwarten], die für Studierende ebenso wie für gestandene Juristen einen Gewinn darstellt und überdies für alle staatsrechtlich und staatspolitisch Interessierten nützlich ist." Hans Blasius Thüringer Verwaltungsblätter 2013, S. 70-71
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2017Todsünden
Fälle aus dem Verwaltungsrecht
Eine offene und dialogfähige Rechtsprechung ist konstitutiv für eine florierende Wirtschaft. Vor 17 Jahren veröffentlichte der Verlag Mohr Siebeck die erste Auflage seines Lehrbuches "Verfassungsrechtsprechung". In einer Art Kompendium wurden die 101 wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kurz nachgezeichnet, eingeordnet und gewürdigt.
Damit gelang den Autoren eine schön lesbare Übersicht, die es ermöglichte, die großen Debatten zum Grundgesetz rasch nachzuvollziehen. Herausgeber war Jörg Menzel, für die 2. Auflage stieß Ralf Müller-Terpitz hinzu, der Band wuchs auf 127 besprochene Entscheidungen an. Kurz vor Erscheinen der 3. Auflage verstarb Herausgeber Menzel, doch an der Auswahl der inzwischen 130 Entscheidungen hatte er noch mitgewirkt. Einige Altfälle aus der Vorauflage wurden aussortiert, etwa die Entscheidung zur Berliner Haushaltsnotlage, bei dessen Verkündung der Vizepräsident des Gerichts die Einschätzung abgab, Berlin sei vielleicht deshalb sexy, weil es so arm gar nicht sei. In der Besprechung hieß es: "Das Land Berlin hat schließlich trotz der ablehnenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts seine Haushaltssituation aus eigener Kraft wieder stabilisieren können." Der damalige Streit wird also kaum in die Verfassungsrechtsgeschichte eingehen. Zumal der große Jurist Otto Mayer schon vor einem Jahrhundert den immer wieder gerne zitierten Satz formulierte: Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht.
Ob das stimmt? Nun ist - endlich - auch eine "Verwaltungsrechtsprechung" erschienen. Herausgeber ist Armin Steinbach vom Max-Planck-Institut für Gemeinschaftsgüter in Bonn. Er hat, gemeinsam mit seinem Autorenteam, 95 Entscheidungen verschiedenster Gerichte treffend ausgewählt und gut verständlich aufbereitet. Und direkt im ersten Text des Buches, dort in den ersten Sätzen, wird das Diktum von Otto Mayer praktisch widerlegt. Denn hier heißt es: "Das deutsche Verwaltungsrecht ruht zwar auf Traditionslinien, die sich über mehrere staatsrechtliche Systembrüche hinweg erstrecken. Ungeachtet dessen markiert indes 1945/49 gerade für das Verwaltungsrecht eine Zäsur, eine strukturelle Diskontinuität, die nur wenige verwaltungsrechtliche Dogmen unberührt gelassen hat."
Klaus Ferdinand Gärditz begründet das wie folgt: "Das Grundgesetz hat mit der unmittelbaren Grundrechtsbindung, mit der Garantie effektiven sowie lückenlosen Rechtsschutzes sowie einer vorbehaltlosen Sicherung der Rechtstaatlichkeit vor allem ein Programm zur Einhegung diskreditierter Herrschaftsgewalt formuliert, was nicht ohne Folgen für die eingeschliffenen und bürokratisch stabilisierten Strukturen des Verwaltungsrechts bleiben konnte."
Die folgenden 94 Besprechungen zeigen genau das: Wie sich das Verwaltungsrecht in der Bundesrepublik neu erfinden musste und in weiten Teilen auch neu erfunden hat, wobei einige Probleme bis heute ungelöst sind. Zudem wirkt manche Entscheidung im Nachhinein antiquiert oder falsch: So entschied das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 1990, dass staatliche Warnungen vor Weinsorten, denen teilweise ein Frostschutzmittel beigemischt wurde, zulässig sind - obwohl weder eine Kompetenz noch eine gesetzliche Grundlage dafür bestand. Das Gericht hatte von einer einfachen Zuweisung auf eine Regelungsbefugnis geschlossen, was damals als "juristische Todsünde" bezeichnet wurde. Doch das Gericht wollte die Warnung aus naheliegenden Gründen unbedingt zulassen. Matthias Rossi mildert die rechtsdogmatische Kritik nun ab, wenn er schreibt, dass die Argumentationskette aus Sicht des Gerichts logisch gewesen sei, da es einen Eingriff in Grundrechte verneint hatte. Auch bei anderen Entscheidungen wird deutlich, dass die Gerichte oft zwischen pragmatisch-sinnvoller Handhabung einerseits und rechtsdogmatisch-korrekter Ableitung andererseits entscheiden mussten.
Das betrifft etwa die Frage, ob eine Verwaltung untergesetzliches Recht eines anderen Verwaltungsträgers anwenden muss, wenn es dieses für unwirksam und damit für nichtig hält. "Dann stellt sich die Machtfrage: Wer wird über die Unwirksamkeit der Norm entscheiden?", schreibt Christoph Külpmann. Bei jeder möglichen Lösung kommt es zu Problemen. Das Bundesverwaltungsgericht ließ "die Ewigkeitsfrage nach der Normverwerfungskompetenz" im Jahr 2001 offen und verlangt, dass sich die widerstreitenden Interessen im Wege des Verfahrens ausgleichen. Das bedeutet aber einen erheblichen Zeitverlust, etwa bei der Erteilung von Baugenehmigungen in Naturschutzgebieten.
Als die Bundesrepublik gegründet wurde, war das Verwaltungsrecht nur fragmentarisch geregelt. "Eine gesetzliche Vollprogrammierung, die uns heute selbstverständlich erscheint, war weder als normatives Leitbild noch als gesetzlicher Realbestand etabliert", schreibt Gärditz.
Heute habe das Verwaltungsrecht eine Ausdifferenzierung, Feingliedrigkeit und Unübersichtlichkeit erreicht, die sich für einen Juristen nur noch durch extreme Spezialisierung bewältigen lässt. Schuld ist sicherlich die zunehmende Komplexität der heutigen Gesellschaft, vor allem aber das verfassungsrechtliche Diktum der Wesentlichkeit. Die Wesentlichkeitstheorie wurde vom Bundesverfassungsgericht entwickelt und besagt, dass im Bereich der untergesetzlichen Normsetzung "wesentliche Entscheidungen" durch das Parlament selbst getroffen werden müssen. Hier verbinden sich Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht. Anders als in Frankreich begründen die obersten Gerichte in Deutschland ihre Entscheidungen ausführlich, und fordern damit natürlich auch Kritik heraus. Das ist gut so.
JOCHEN ZENTHÖFER
Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Herausgeber): Verfassungsrechtsprechung. 3. Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, 1034 Seiten, 36 Euro.
Armin Steinbach (Herausgeber): Verwaltungsrechtsprechung. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, 679 Seiten, 34 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fälle aus dem Verwaltungsrecht
Eine offene und dialogfähige Rechtsprechung ist konstitutiv für eine florierende Wirtschaft. Vor 17 Jahren veröffentlichte der Verlag Mohr Siebeck die erste Auflage seines Lehrbuches "Verfassungsrechtsprechung". In einer Art Kompendium wurden die 101 wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kurz nachgezeichnet, eingeordnet und gewürdigt.
Damit gelang den Autoren eine schön lesbare Übersicht, die es ermöglichte, die großen Debatten zum Grundgesetz rasch nachzuvollziehen. Herausgeber war Jörg Menzel, für die 2. Auflage stieß Ralf Müller-Terpitz hinzu, der Band wuchs auf 127 besprochene Entscheidungen an. Kurz vor Erscheinen der 3. Auflage verstarb Herausgeber Menzel, doch an der Auswahl der inzwischen 130 Entscheidungen hatte er noch mitgewirkt. Einige Altfälle aus der Vorauflage wurden aussortiert, etwa die Entscheidung zur Berliner Haushaltsnotlage, bei dessen Verkündung der Vizepräsident des Gerichts die Einschätzung abgab, Berlin sei vielleicht deshalb sexy, weil es so arm gar nicht sei. In der Besprechung hieß es: "Das Land Berlin hat schließlich trotz der ablehnenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts seine Haushaltssituation aus eigener Kraft wieder stabilisieren können." Der damalige Streit wird also kaum in die Verfassungsrechtsgeschichte eingehen. Zumal der große Jurist Otto Mayer schon vor einem Jahrhundert den immer wieder gerne zitierten Satz formulierte: Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht.
Ob das stimmt? Nun ist - endlich - auch eine "Verwaltungsrechtsprechung" erschienen. Herausgeber ist Armin Steinbach vom Max-Planck-Institut für Gemeinschaftsgüter in Bonn. Er hat, gemeinsam mit seinem Autorenteam, 95 Entscheidungen verschiedenster Gerichte treffend ausgewählt und gut verständlich aufbereitet. Und direkt im ersten Text des Buches, dort in den ersten Sätzen, wird das Diktum von Otto Mayer praktisch widerlegt. Denn hier heißt es: "Das deutsche Verwaltungsrecht ruht zwar auf Traditionslinien, die sich über mehrere staatsrechtliche Systembrüche hinweg erstrecken. Ungeachtet dessen markiert indes 1945/49 gerade für das Verwaltungsrecht eine Zäsur, eine strukturelle Diskontinuität, die nur wenige verwaltungsrechtliche Dogmen unberührt gelassen hat."
Klaus Ferdinand Gärditz begründet das wie folgt: "Das Grundgesetz hat mit der unmittelbaren Grundrechtsbindung, mit der Garantie effektiven sowie lückenlosen Rechtsschutzes sowie einer vorbehaltlosen Sicherung der Rechtstaatlichkeit vor allem ein Programm zur Einhegung diskreditierter Herrschaftsgewalt formuliert, was nicht ohne Folgen für die eingeschliffenen und bürokratisch stabilisierten Strukturen des Verwaltungsrechts bleiben konnte."
Die folgenden 94 Besprechungen zeigen genau das: Wie sich das Verwaltungsrecht in der Bundesrepublik neu erfinden musste und in weiten Teilen auch neu erfunden hat, wobei einige Probleme bis heute ungelöst sind. Zudem wirkt manche Entscheidung im Nachhinein antiquiert oder falsch: So entschied das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 1990, dass staatliche Warnungen vor Weinsorten, denen teilweise ein Frostschutzmittel beigemischt wurde, zulässig sind - obwohl weder eine Kompetenz noch eine gesetzliche Grundlage dafür bestand. Das Gericht hatte von einer einfachen Zuweisung auf eine Regelungsbefugnis geschlossen, was damals als "juristische Todsünde" bezeichnet wurde. Doch das Gericht wollte die Warnung aus naheliegenden Gründen unbedingt zulassen. Matthias Rossi mildert die rechtsdogmatische Kritik nun ab, wenn er schreibt, dass die Argumentationskette aus Sicht des Gerichts logisch gewesen sei, da es einen Eingriff in Grundrechte verneint hatte. Auch bei anderen Entscheidungen wird deutlich, dass die Gerichte oft zwischen pragmatisch-sinnvoller Handhabung einerseits und rechtsdogmatisch-korrekter Ableitung andererseits entscheiden mussten.
Das betrifft etwa die Frage, ob eine Verwaltung untergesetzliches Recht eines anderen Verwaltungsträgers anwenden muss, wenn es dieses für unwirksam und damit für nichtig hält. "Dann stellt sich die Machtfrage: Wer wird über die Unwirksamkeit der Norm entscheiden?", schreibt Christoph Külpmann. Bei jeder möglichen Lösung kommt es zu Problemen. Das Bundesverwaltungsgericht ließ "die Ewigkeitsfrage nach der Normverwerfungskompetenz" im Jahr 2001 offen und verlangt, dass sich die widerstreitenden Interessen im Wege des Verfahrens ausgleichen. Das bedeutet aber einen erheblichen Zeitverlust, etwa bei der Erteilung von Baugenehmigungen in Naturschutzgebieten.
Als die Bundesrepublik gegründet wurde, war das Verwaltungsrecht nur fragmentarisch geregelt. "Eine gesetzliche Vollprogrammierung, die uns heute selbstverständlich erscheint, war weder als normatives Leitbild noch als gesetzlicher Realbestand etabliert", schreibt Gärditz.
Heute habe das Verwaltungsrecht eine Ausdifferenzierung, Feingliedrigkeit und Unübersichtlichkeit erreicht, die sich für einen Juristen nur noch durch extreme Spezialisierung bewältigen lässt. Schuld ist sicherlich die zunehmende Komplexität der heutigen Gesellschaft, vor allem aber das verfassungsrechtliche Diktum der Wesentlichkeit. Die Wesentlichkeitstheorie wurde vom Bundesverfassungsgericht entwickelt und besagt, dass im Bereich der untergesetzlichen Normsetzung "wesentliche Entscheidungen" durch das Parlament selbst getroffen werden müssen. Hier verbinden sich Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht. Anders als in Frankreich begründen die obersten Gerichte in Deutschland ihre Entscheidungen ausführlich, und fordern damit natürlich auch Kritik heraus. Das ist gut so.
JOCHEN ZENTHÖFER
Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Herausgeber): Verfassungsrechtsprechung. 3. Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, 1034 Seiten, 36 Euro.
Armin Steinbach (Herausgeber): Verwaltungsrechtsprechung. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, 679 Seiten, 34 Euro.
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