Kennzeichnend für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sind der konsequente Ausbau des Verfassungsstaats mit dem Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Europäisierung und Internationalisierung der nationalen Staaten in Europa. Die Verfassungsidee, die historisch für den Staat entwickelt wurde, erhält heute Bedeutung auch für die supranationalen und internationalen Organisationen, sie verbindet die Entwicklung von mehr als zwei Jahrhunderten. Dieser Band verbindet detaillierte historische Studien mit systematischen überlegungen und bietet zugleich einen überblick über die gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen Debatten im Kontext der Europäisierung. Rainer Wahl ist Professor für öffentliches Recht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2003Vergleichende Verflechtung
Rainer Wahls Glanzstücke zur Entwicklung des Verfassungsstaats
Beginnend mit der Reformation hat die Religion Recht und Politik ihre Legitimation entzogen. Um sich selbst strukturieren zu können, ersetzten Recht und Politik die göttliche Ordnung durch die Bezugnahme auf das Individuum. Umschaltstelle war das Gewissen, auf das sich die evangelischen Reichsfürsten 1529 in Speyer gegen die katholische Mehrheit des Reichstages berufen hatten. Da die Gewissensträger zugleich für ihre Territorien sprachen, aus denen sich später der Staat entwickelte, konnte der souveräne Staat in der Gesellschaft der Gemeinwesen das werden, was das Individuum in der Gesellschaft der Menschen war: letzter Bezugspunkt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Staaten, Befugnisse, die traditionell mit Souveränität verbunden waren, auf gemeinschaftliche Einrichtungen zu übertragen. Damit entstand ein weiterer, dritter Zurechnungspunkt, von dem man aber nicht wußte, wie er sich zu den beiden anderen verhielt. Eine Folge dieser Unklarheit ist die seltsam anmutende Diskussion um eine Verfassung für die Europäische Union, die keine Verfassung haben können soll.
Rainer Wahl, der in Freiburg i. Br. Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte lehrt, hat die Entwicklung aufmerksam beobachtet und mit zahlreichen Beiträgen selbst vorangetrieben. Jetzt legt er die wichtigsten jüngeren Aufsätze gesammelt vor. Manche Leute haben etwas gegen Aufsatzsammlungen. Der Rezensent hält sie für einen Gewinn. Von vielen technischen Erleichterungen abgesehen, lehren sie in der Regel, den Autor besser zu verstehen. Wahls Buch ist ein schönes Beispiel. Wahl beschäftigt sich mit der Entwicklung der politischen Organisation, beginnt aber, wie alle Aufsätze zeigen, praktisch mit der Französischen Revolution. Dadurch wird für ihn der Nationalstaat des neunzehnten Jahrhunderts zum Ausgangspunkt der weiteren Bewegung und zum Maßstab. Der Rezensent meint dagegen, nicht die Französische Revolution, sondern die Reformation habe die Modernisierung der Gesellschaft angestoßen. Für ihn wird der Nationalstaat daher zu einer nicht besonders erfreulichen Übergangserscheinung. Aber Wahls Ansicht entspricht wohl der weit überwiegenden Mehrheit der Verfassungshistoriker.
Der Beginn mit der Französischen Revolution hat einen kaum zu überschätzenden Vorteil. Er gestattet es, Verfassungsdogmatik und Verfassungsgeschichte zu verknüpfen und eine aufsteigende Linie von den frühliberalen Verfassungen Badens, Bayerns und Württembergs (1818/19) bis zum geltenden Grundgesetz zu ziehen und in die Zukunft und in den Bereich des Internationalen zu verlängern. So kann Wahl zeigen, daß die Befugnisse des Bundes, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen (Artikel 24 des Grundgesetzes) gleichsam die Staatsseite der internationalen Organisation der Politik ist. Die Verflechtungen der Organisation werden für den einzelnen zum Mehrebenensystem, der Außenhandel wird zu einem überaus merkwürdigen individuellen Freiheitsrecht, und der Verfassungsvergleich verläßt die dogmatische Ebene und wird zur Kulturvergleichung.
Die ist freilich nicht einfach. Nach Wahl hat sich der Vorrang der Verfassung in Deutschland ganz anders entwickelt als in Amerika. Hierzulande rang die Volkssouveränität mit der monarchischen Souveränität. Die Legitimation der politischen Macht war unsicher, und in dieser Unsicherheit gewann der Wortlaut der Verfassung zusätzliches Gewicht. Die Unsicherheit stabilisierte. Erst die Verfassungsgerichtsbarkeit hat den Vorrang endgültig gesichert. Ihr gilt denn auch Wahls besondere Aufmerksamkeit. Zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichtes ist allerdings auch ihm nichts Neues eingefallen. Aber wem fällt dazu noch etwas ein? Die Politik hat das Gericht längst dem freien Wettbewerb überlassen.
Ein Glanzstück ist die Darstellung der Verfassungsentwicklung von der Französischen Revolution bis zur deutschen Einigung. Wahl versteht es meisterlich, historische Konflikte mit aktuellen Problemen zu beleuchten. Er läßt seine Leser gleichsam an der Verfassungsdiskussion des neunzehnten Jahrhunderts teilnehmen. Charakteristisch ist, wie er die deutsche Einigung betrachtet: "im Spiegel historischer Parallelen", der tatsächlich das Bild schärft und bereichert.
GERD ROELLECKE
Rainer Wahl: "Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 441 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rainer Wahls Glanzstücke zur Entwicklung des Verfassungsstaats
Beginnend mit der Reformation hat die Religion Recht und Politik ihre Legitimation entzogen. Um sich selbst strukturieren zu können, ersetzten Recht und Politik die göttliche Ordnung durch die Bezugnahme auf das Individuum. Umschaltstelle war das Gewissen, auf das sich die evangelischen Reichsfürsten 1529 in Speyer gegen die katholische Mehrheit des Reichstages berufen hatten. Da die Gewissensträger zugleich für ihre Territorien sprachen, aus denen sich später der Staat entwickelte, konnte der souveräne Staat in der Gesellschaft der Gemeinwesen das werden, was das Individuum in der Gesellschaft der Menschen war: letzter Bezugspunkt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Staaten, Befugnisse, die traditionell mit Souveränität verbunden waren, auf gemeinschaftliche Einrichtungen zu übertragen. Damit entstand ein weiterer, dritter Zurechnungspunkt, von dem man aber nicht wußte, wie er sich zu den beiden anderen verhielt. Eine Folge dieser Unklarheit ist die seltsam anmutende Diskussion um eine Verfassung für die Europäische Union, die keine Verfassung haben können soll.
Rainer Wahl, der in Freiburg i. Br. Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte lehrt, hat die Entwicklung aufmerksam beobachtet und mit zahlreichen Beiträgen selbst vorangetrieben. Jetzt legt er die wichtigsten jüngeren Aufsätze gesammelt vor. Manche Leute haben etwas gegen Aufsatzsammlungen. Der Rezensent hält sie für einen Gewinn. Von vielen technischen Erleichterungen abgesehen, lehren sie in der Regel, den Autor besser zu verstehen. Wahls Buch ist ein schönes Beispiel. Wahl beschäftigt sich mit der Entwicklung der politischen Organisation, beginnt aber, wie alle Aufsätze zeigen, praktisch mit der Französischen Revolution. Dadurch wird für ihn der Nationalstaat des neunzehnten Jahrhunderts zum Ausgangspunkt der weiteren Bewegung und zum Maßstab. Der Rezensent meint dagegen, nicht die Französische Revolution, sondern die Reformation habe die Modernisierung der Gesellschaft angestoßen. Für ihn wird der Nationalstaat daher zu einer nicht besonders erfreulichen Übergangserscheinung. Aber Wahls Ansicht entspricht wohl der weit überwiegenden Mehrheit der Verfassungshistoriker.
Der Beginn mit der Französischen Revolution hat einen kaum zu überschätzenden Vorteil. Er gestattet es, Verfassungsdogmatik und Verfassungsgeschichte zu verknüpfen und eine aufsteigende Linie von den frühliberalen Verfassungen Badens, Bayerns und Württembergs (1818/19) bis zum geltenden Grundgesetz zu ziehen und in die Zukunft und in den Bereich des Internationalen zu verlängern. So kann Wahl zeigen, daß die Befugnisse des Bundes, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen (Artikel 24 des Grundgesetzes) gleichsam die Staatsseite der internationalen Organisation der Politik ist. Die Verflechtungen der Organisation werden für den einzelnen zum Mehrebenensystem, der Außenhandel wird zu einem überaus merkwürdigen individuellen Freiheitsrecht, und der Verfassungsvergleich verläßt die dogmatische Ebene und wird zur Kulturvergleichung.
Die ist freilich nicht einfach. Nach Wahl hat sich der Vorrang der Verfassung in Deutschland ganz anders entwickelt als in Amerika. Hierzulande rang die Volkssouveränität mit der monarchischen Souveränität. Die Legitimation der politischen Macht war unsicher, und in dieser Unsicherheit gewann der Wortlaut der Verfassung zusätzliches Gewicht. Die Unsicherheit stabilisierte. Erst die Verfassungsgerichtsbarkeit hat den Vorrang endgültig gesichert. Ihr gilt denn auch Wahls besondere Aufmerksamkeit. Zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichtes ist allerdings auch ihm nichts Neues eingefallen. Aber wem fällt dazu noch etwas ein? Die Politik hat das Gericht längst dem freien Wettbewerb überlassen.
Ein Glanzstück ist die Darstellung der Verfassungsentwicklung von der Französischen Revolution bis zur deutschen Einigung. Wahl versteht es meisterlich, historische Konflikte mit aktuellen Problemen zu beleuchten. Er läßt seine Leser gleichsam an der Verfassungsdiskussion des neunzehnten Jahrhunderts teilnehmen. Charakteristisch ist, wie er die deutsche Einigung betrachtet: "im Spiegel historischer Parallelen", der tatsächlich das Bild schärft und bereichert.
GERD ROELLECKE
Rainer Wahl: "Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 441 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rainer Wahls Band "Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung", der die jüngsten Aufsätze des Verfassungsgeschichtlers versammelt, hat Rezensent Gerd Roellecke rundum überzeugt. Ausgehend von der Französischen Revolution und dem Nationalstaat des neunzehnten Jahrhunderts verfolgt Wahl die Entwicklung politischer Organisation bis zur Diskussion über eine gemeinsame Verfassung der Europäischen Union, berichtet Roellecke. Wahl verknüpfe Verfassungsdogmatik und Verfassungsgeschichte und ziehe eine Linie von den frühliberalen Verfassungen Badens, Bayerns und Württembergs (1818/19) bis zum geltenden Grundgesetz und verlängere sie in die Zukunft und in den Bereich des Internationalen. So könne er zeigen, "dass die Befugnisse des Bundes, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen (Artikel 24 des Grundgesetzes) gleichsam die Staatsseite der internationalen Organisation der Politik ist". Als "Glanzstück" des Bandes würdigt Roellecke Wahls Darstellung der Verfassungsentwicklung von der Französischen Revolution bis zur deutschen Einigung, die "meisterlich" historische Konflikte mit aktuellen Problemen beleuchte und den Leser gleichsam an der Verfassungsdiskussion des neunzehnten Jahrhunderts teilnehmen lasse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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