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'In Kabul tötet ein verarmter junger Mann eine alte Frau. Der ehemalige Jurastudent Rassul hat es auf Schmuck und Geld der Wucherin abgesehen, denn er weiß nicht mehr, wovon er seine Familie ernähren soll. Doch während derTat kommt ihm plötzlich sein Gewissen in die Quere und erinnert ihn an das Schicksal des Mörders Raskolnikow aus Dostojewskis berühmtem Roman Verbrechen und Strafe. In Panik flieht er und lässt die Beute am Ort des Geschehens zurück. Da niemand die Frau vermisst, ist Rassul fortan allein mit seiner Schuld und wird, wie Dostojewskis Figur, nur von seinem Gewissen verfolgt. Im…mehr

Produktbeschreibung
'In Kabul tötet ein verarmter junger Mann eine alte Frau. Der ehemalige Jurastudent Rassul hat es auf Schmuck und Geld der Wucherin abgesehen, denn er weiß nicht mehr, wovon er seine Familie ernähren soll. Doch während derTat kommt ihm plötzlich sein Gewissen in die Quere und erinnert ihn an das Schicksal des Mörders Raskolnikow aus Dostojewskis berühmtem Roman Verbrechen und Strafe. In Panik flieht er und lässt die Beute am Ort des Geschehens zurück. Da niemand die Frau vermisst, ist Rassul fortan allein mit seiner Schuld und wird, wie Dostojewskis Figur, nur von seinem Gewissen verfolgt. Im Afghanistan der Taliban findet sich jedoch kein Richter mehr, der ihn für den Mord an einer Frau zur Rechenschaft zieht. Rassul irrt durch die Stadt bis eine burkaverhüllte Gestalt ihn in das zerstörte Gerichtsgebäude lockt.
Autorenporträt
Atiq Rahimi, 1962 in Kabul geboren, studierte Literatur. 1984 floh er über Pakistan nach Frankreich, wo er vor allem als Dokumentarfilmer tätig ist. Sein international vielbeachtetes Erde und Asche wurde 2004 verfilmt.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ist es größenwahnsinnig oder einfach nur eine Werbestrategie, wenn sich der in Afghanistan geborene und seit1984 in Frankreich lebende Autor und Filmemacher Atiq Rahimi Dostojewskis "Schuld und Sühne" als Vorlage wählt? Rezensentin Sabine Berking findet das ambitionierte Projekt des Autors, der seine Raskolnikow-Adaption ins Afghanistan der 90er Jahre verlegt, offensichtlich gelungen. Bei Rahimi geschieht der Mord, der den Protagonisten umtreibt, keineswegs aus Übermensch-Phantasien, die sein russisches Vorbild umtreibt, sondern um seine Verlobte aus den Fängen einer Wucherin und Zuhälterin und seine Familie aus der Armut zu befreien, erfahren wir. Als er sich schließlich stellt, weil er mit der Schuld nicht leben kann, wird ihm klar gemacht, dass im verwüsteten Afghanistan kein Hahn nach einer ermordeten Alten kräht. Das Ende ist zwar - wie beim Vorbild, so Berking - eher "ephemer". Trotzdem zeigt sie sich insgesamt sehr beeindruckt von Rahimis philosophisch-psychologischem Bild eines "geschundenen, zerrissenen" Afghanistan, das nach Meinung der Rezensentin "überall" sein kann.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2012

Sein Afghanistan ist überall

Bilder aus einem wüsten, geschundenen Land: Der afghanische Schriftsteller Atiq Rahimi versetzt Dostojewskis Raskolnikow ins Kabul der neunziger Jahre.

Oh, jetzt verstehe ich den "Propheten", mit dem Säbel in der Hand, hoch zu Ross: Allah befiehlt, und du, zitternde Kreatur, gehorche! Das stammt keinesfalls aus dem Koran, sondern aus "Verbrechen und Strafe" von Dostojewski. Zitiert ein zeitgenössischer Autor so einen Giganten der Weltliteratur schon im Titel, muss man allzu cleveres Marketing oder schriftstellerischen Größenwahn befürchten. An großen Brocken, heißt es, kann man sich nur verheben. Unbeeindruckt davon, präsentiert der aus Afghanistan stammende Atiq Rahimi mit seinem zweiten Roman in französischer Sprache eine moderne Adaption des Klassikers.

Kein bescheidenes Unterfangen, aber immerhin wurde der 1962 in Kabul geborene Autor und Filmemacher für sein französisches Debüt, den Roman "Stein der Geduld", 2008 mit dem Prix Goncourt geehrt und auch seine zuvor aus dem Persischen übersetzten Bücher "Erde und Asche" und "Der Krieg und die Liebe" wurden gelobt.

Nun also die Sache mit Raskolnikow, der hier Rassul heißt und in Kabul mehr schlecht als recht dahinvegetiert. Überhaupt hält sich der seit 1984 in Frankreich lebende Autor ziemlich genau an die kriminalistisch-psychologisierende Grundstruktur des großen Russen, auch das Personal ist einigermaßen bekannt. Die düsteren Hinterhöfe und Stiegen des raubkapitalistischen Petersburg wurden eingetauscht gegen die elenden Kammern und verrauchten Opiumcafés Kabuls in den neunziger Jahren, als nach dem Abzug der geschlagenen Sowjets die Mudschahedin um die Macht kämpften. Die Stadt versinkt im Chaos, ihre Bewohner im Elend, da braucht es nicht erst Dostojewski, um alles zu verfluchen. Warum aber wird, so der Titel, Dostojewski verflucht?

Der afghanische Nachfahre Raskolnikows ist wie sein literarischer Verwandter ein mittelloser Student, gesegnet und eben auch verflucht mit ein paar Semestern Russlanderfahrung. Er plant den Raubmord an der Wucherin Nana Alia, um mit der Beute seine Familie, Mutter und Schwester, über Wasser zu halten und seine Verlobte Suphia aus den Krallen der alten Hexe, die auch Zuhälterin ist, zu befreien. Die hochtrabende Napoleon-Idee vom Übermenschen, der die Welt befreit und die Laus tötet, liegt ihm ziemlich fern. Doch in der Gemengelage des Mordes kommen Zweifel auf, dunkel erinnert er sich an den Roman und verlässt den Ort des Verbrechens überstürzt, verwirrt und ohne die Beute, die mitsamt der Leiche verschwindet. Allein mit seinem Gewissen, verfolgt er eine Frau in blauer Burka, bei der er Beute und Zeugenschaft vermutet, und will sich, nachdem Suphia ihn drängt, der Justiz stellen. So bekannt, so gut. Allein die Justiz existiert nicht mehr in diesem bizarren Absurdistan, ihr letzter Vertreter, ein alter Gerichtsschreiber, hat anderes zu tun und sucht ganz anders als Dostojewskis Detektiv dem Studenten klarzumachen, dass sich in Kabul niemand für sein Verbrechen interessieren wird. In einem Land, in dem Mord und Totschlag an der Tagesordnung sind, ist das Erschlagen einer Wucherin, einer Frau noch dazu, eine Bagatelle. Sich zu stellen grenze an Schwachsinn.

Verhaftet wird der afghanische Raskolnikow dennoch, aber nicht seines Verbrechens wegen, sondern weil er russische Bücher, vermeintliche Feindpropaganda liest, auch den verfluchten Dostojewski, und sein Vater, der fern von Kabul ermordet wird, Kommunist war. Sippe, Stamm, Blutsbande - darüber wird ein kafkaeskes Gericht gehalten. Und natürlich trifft der Held auch auf eine afghanische Ausgabe des mephistophelischen Swidrigailow, hier ist es ein Mudschahedin-Kommandeur, ein liebenswürdiger Massenmörder. Zum Schluss gibt es dann doch noch eine Leiche und ein - wie bei Dostojewski - etwas ephemeres Happy End.

Erzählt wird dies alles aus der fieberumnachteten Perspektive Rassuls, in die sich zuweilen ein Erzähler einschaltet, eine den Filmemacher ausweisende Montage mit Suggestivkraft. Die groteske, surreale Realität der Wüstung Kabul verschwimmt mit den inneren Monologen des getriebenen Helden, bis man selbst nicht recht weiß, was Dichtung und Wahrheit, Recht und Unrecht ist. Unweigerlich erinnert man sich an die Romane Khaled Hosseinis, des in Amerika lebenden, auf Englisch schreibenden anderen international bekannten afghanischen Autors. Beide Autoren suchten ihre Sujets bisher nur in ihrer einstigen Heimat, aber beide schreiben von ganz anderen literarischen Ufern. Rahimi, Psychologe und Philosoph, führt uns in Bildern aus einem geschundenen, zerrissenen Land vor Augen, was geschieht, wenn wir meinen, alles sei erlaubt, wenn wir den "Propheten" mit Säbeln und noch schärferen Worten blind folgen, wenn wir glauben, nicht aus Fleisch und Blut, sondern Abgötter aus Erz zu sein. Sein Afghanistan ist überall.

SABINE BERKING

Atiq Rahimi: "Verflucht sei Dostojewski". Roman.

Aus dem Französischen von Lis Künzli. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 290 S., geb., 19,99 [Euro].

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