'In Kabul tötet ein verarmter junger Mann eine alte Frau. Der ehemalige Jurastudent Rassul hat es auf Schmuck und Geld der Wucherin abgesehen, denn er weiß nicht mehr, wovon er seine Familie ernähren soll. Doch während derTat kommt ihm plötzlich sein Gewissen in die Quere und erinnert ihn an das Schicksal des Mörders Raskolnikow aus Dostojewskis berühmtem Roman Verbrechen und Strafe. In Panik flieht er und lässt die Beute am Ort des Geschehens zurück. Da niemand die Frau vermisst, ist Rassul fortan allein mit seiner Schuld und wird, wie Dostojewskis Figur, nur von seinem Gewissen verfolgt. Im Afghanistan der Taliban findet sich jedoch kein Richter mehr, der ihn für den Mord an einer Frau zur Rechenschaft zieht. Rassul irrt durch die Stadt bis eine burkaverhüllte Gestalt ihn in das zerstörte Gerichtsgebäude lockt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ist es größenwahnsinnig oder einfach nur eine Werbestrategie, wenn sich der in Afghanistan geborene und seit1984 in Frankreich lebende Autor und Filmemacher Atiq Rahimi Dostojewskis "Schuld und Sühne" als Vorlage wählt? Rezensentin Sabine Berking findet das ambitionierte Projekt des Autors, der seine Raskolnikow-Adaption ins Afghanistan der 90er Jahre verlegt, offensichtlich gelungen. Bei Rahimi geschieht der Mord, der den Protagonisten umtreibt, keineswegs aus Übermensch-Phantasien, die sein russisches Vorbild umtreibt, sondern um seine Verlobte aus den Fängen einer Wucherin und Zuhälterin und seine Familie aus der Armut zu befreien, erfahren wir. Als er sich schließlich stellt, weil er mit der Schuld nicht leben kann, wird ihm klar gemacht, dass im verwüsteten Afghanistan kein Hahn nach einer ermordeten Alten kräht. Das Ende ist zwar - wie beim Vorbild, so Berking - eher "ephemer". Trotzdem zeigt sie sich insgesamt sehr beeindruckt von Rahimis philosophisch-psychologischem Bild eines "geschundenen, zerrissenen" Afghanistan, das nach Meinung der Rezensentin "überall" sein kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.04.2012Ein Esel in Kabul
Atiq Rahimi verlegt Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ nach Afghanistan und dringt zur Seele eines Landes vor
Der Esel ist ein tragisches Tier. Geschunden, geschlagen, als störrisch, stumpf und dumm gebrandmarkt. So wie im alten Gleichnis von Buridans Esel, der verhungerte, als er zwischen zwei Heuhaufen stand und sich für keinen entscheiden konnte. Dem Esel wohnt das Absurde von jeher inne, das spürt auch Rassul, der junge Afghane, der zum Mörder geworden ist. Er hat die Wucherin Nana Alia erschlagen, und bereits während der Tat musste er an Raskolnikow und die Parallelen aus Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ denken. Nun, im Moment der höchsten Verzweiflung, den Revolver zum Suizid schon auf der Brust, erinnert er sich zurück an die seltsamste Geschichte seines Lebens.
Als Kind begleitet Rassul seinen Vater auf Vogeljagd. In der Nacht greifen Wölfe den zurückgelassenen Packesel an, das völlig verängstigte und wild schreiende Tier wird jedoch in letzter Sekunde von ihnen gerettet. Aber es hat einen Knacks davongetragen, es hat die Furchtbarkeit der Welt geschaut: Der Esel kehrt eigenwillig an den Ort des Geschehens zurück und ist von dort nicht mehr weg zu bewegen. Alles Flehen und Schlagen hilft nichts, schließlich erschießt ihn der Vater. „Seine schicksalsergebenen Augen öffneten sich, um sich kurz darauf sanft, wie erleichtert, zu schließen.“
Die Geschichte vom selbstmörderischen Esel steht in der Mitte von Atiq Rahimis Roman „Verflucht sei Dostojewski“, und sie ist seine Basis-Metapher. Der Held hat, ausgelöst durch das begangene Verbrechen, seinen Weg aus den Augen verloren, er ist fremd geworden in der Welt. Er sucht nach Strafe und Sühne, und keiner gewährt sie ihm. „Ich bin gekommen, um mich der Justiz zu stellen. – Ach so, tut mir leid, da ist niemand, der Sie empfangen kann.“ Das Gerichtsgebäude in Kabul ist verlassen. Für Gerechtigkeit ist Rassul zur falschen Zeit im falschen Land: in Afghanistan. Nach dem Abzug der Sowjets 1989 tobt der Bürgerkrieg zwischen Kommunisten, den gemäßigten Mudschaheddin unter Ahmad Schah Massoud und fundamentalistischen Taliban.
Rassul interessieren Ideologien nicht, und die Ideologen interessiert kein unbedeutender Mord. Mit dem Geld der Alten, die keiner mochte, wollte Rassul seine Familie durchbringen, aber vor lauter Schreck hat er die Beute liegenlassen. Ein nutzloses Verbrechen. Aber so viele morden, so viele sterben hier jeden Tag. Es gebe, heißt es, „in diesem Land kaum einen unbedeutenderen Akt, als zu töten“. Verurteilt werden nur die vom anderen Lager. Rassul erlaubt sich im Krieg den Luxus, zwischen den Parteien zu stehen und an einer universalen Idee von Gerechtigkeit festzuhalten. Er ist ein autonomes Individuum in einer Welt, die sagt: „Du bist nicht, was du bist. Du bist nur, was deine Eltern sind, dein Stamm.“
Rahimi, 1962 in Kabul geboren und 1984 nach Frankreich geflohen, verlegt in „Verflucht sei Dostojewski“ das berühmteste Buch des Russen nach Afghanistan. Wenn sich ein Schriftsteller einen Kollegen in den Titel schreibt, dann hat das zwei Auswirkungen. Erstens generiert es Aufmerksamkeit, besonders, wenn der Betroffene verflucht wird. Andererseits fordert es einen Vergleich heraus – einen, den man schwerlich gewinnen kann. Dem ungeachtet entzieht sich Rahimi, der 2008 für „Stein der Geduld“ den Prix Goncourt erhielt, gekonnt dieser Gegenüberstellung. Zwar übernimmt er vieles aus der Handlung von „Verbrechen und Strafe“ und behält auch die drei Ebenen bei, die den Roman so einzigartig machen, also das Verweben von kriminalistischer Handlung mit psychologischer Schuldfrage und dem Kampf der gesellschaftlichen Ideen im Hintergrund. Aber: Aus Dostojewskis Grundgerüst schafft Rahimi etwas Eigenständiges von höchster literarischer Qualität.
Da ist zum Beispiel die Stimme des Erzählers, bei der man nie weiß, ob sie Rassuls Über-Ich ist oder ein literarischer Ringrichter, der aufpasst, dass sich die Parallelen der beiden Geschichten nicht berühren. Als der Held sich vorstellt, dass seine Verlobte Suphia ihn zur öffentlichen Beichte drängt, schaltet sich der Erzähler ein: „Aber Rassul, vergiss nicht, dass sie nicht Sonja ist, die Geliebte Raskolnikows.“
Die Stimmung des Romans verdüstert sich immer mehr. Die Sinne kommen gleichsam an ihre Grenzen, Rahimi spielt dadurch geschickt mit der Orientierungslosigkeit seines Helden. Kabul versinkt im Rauch der zerbombten Häuser, bis sich die Sonne verdunkelt und das Atmen schwer wird. Rassul verliert seine Stimme, was der Kommunikation der Figuren einen wunderbar seltsamen Schliff gibt. Und schließlich die Haschisch-Spelunke, in der die vom Land und vom Krieg gezeichneten Männer ihre Zerrüttungen vergessen wollen.
Warum wird Dostojewski eigentlich verflucht? Rassul ist schließlich ein großer Fan. Die Gründe sind vielfältig. Einmal wird Rassul verhaftet, weil analphabetische Schergen die russischen Ausgaben des ehemaligen Austauschstudenten wegen der kyrillischen Schrift für sowjetische Propaganda halten. Oder es liegt daran, dass der Gedanke an Raskolnikow die Tat so nachhaltig beeinflusst, den Mörder quasi der Eigenständigkeit seines Schicksals beraubt. Im Grunde jedoch ist „Schuld und Sühne“ der Inbegriff der Hoffnung: „Dieses Buch muss in Afghanistan gelesen werden, in diesem einst mystischen Land, das sein Verantwortungsgefühl verloren hat. Rassul ist überzeugt, dass es hier, wenn man Dostojewski in den Lehrplan aufnehmen würde, weniger Verbrechen gäbe!“ Es ist die alte Frage: Wie viel Macht hat Fiktion über Realität? MATTHIAS WAHA
ATIQ RAHIMI: Verflucht sei Dostojewski. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 288 Seiten, 19,99 Euro.
1962 in Kabul geboren, floh Atiq Rahimi vor dem Bürgerkrieg nach Pakistan und dann nach Frankreich. Foto: Ekko von Schwichow
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Atiq Rahimi verlegt Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ nach Afghanistan und dringt zur Seele eines Landes vor
Der Esel ist ein tragisches Tier. Geschunden, geschlagen, als störrisch, stumpf und dumm gebrandmarkt. So wie im alten Gleichnis von Buridans Esel, der verhungerte, als er zwischen zwei Heuhaufen stand und sich für keinen entscheiden konnte. Dem Esel wohnt das Absurde von jeher inne, das spürt auch Rassul, der junge Afghane, der zum Mörder geworden ist. Er hat die Wucherin Nana Alia erschlagen, und bereits während der Tat musste er an Raskolnikow und die Parallelen aus Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ denken. Nun, im Moment der höchsten Verzweiflung, den Revolver zum Suizid schon auf der Brust, erinnert er sich zurück an die seltsamste Geschichte seines Lebens.
Als Kind begleitet Rassul seinen Vater auf Vogeljagd. In der Nacht greifen Wölfe den zurückgelassenen Packesel an, das völlig verängstigte und wild schreiende Tier wird jedoch in letzter Sekunde von ihnen gerettet. Aber es hat einen Knacks davongetragen, es hat die Furchtbarkeit der Welt geschaut: Der Esel kehrt eigenwillig an den Ort des Geschehens zurück und ist von dort nicht mehr weg zu bewegen. Alles Flehen und Schlagen hilft nichts, schließlich erschießt ihn der Vater. „Seine schicksalsergebenen Augen öffneten sich, um sich kurz darauf sanft, wie erleichtert, zu schließen.“
Die Geschichte vom selbstmörderischen Esel steht in der Mitte von Atiq Rahimis Roman „Verflucht sei Dostojewski“, und sie ist seine Basis-Metapher. Der Held hat, ausgelöst durch das begangene Verbrechen, seinen Weg aus den Augen verloren, er ist fremd geworden in der Welt. Er sucht nach Strafe und Sühne, und keiner gewährt sie ihm. „Ich bin gekommen, um mich der Justiz zu stellen. – Ach so, tut mir leid, da ist niemand, der Sie empfangen kann.“ Das Gerichtsgebäude in Kabul ist verlassen. Für Gerechtigkeit ist Rassul zur falschen Zeit im falschen Land: in Afghanistan. Nach dem Abzug der Sowjets 1989 tobt der Bürgerkrieg zwischen Kommunisten, den gemäßigten Mudschaheddin unter Ahmad Schah Massoud und fundamentalistischen Taliban.
Rassul interessieren Ideologien nicht, und die Ideologen interessiert kein unbedeutender Mord. Mit dem Geld der Alten, die keiner mochte, wollte Rassul seine Familie durchbringen, aber vor lauter Schreck hat er die Beute liegenlassen. Ein nutzloses Verbrechen. Aber so viele morden, so viele sterben hier jeden Tag. Es gebe, heißt es, „in diesem Land kaum einen unbedeutenderen Akt, als zu töten“. Verurteilt werden nur die vom anderen Lager. Rassul erlaubt sich im Krieg den Luxus, zwischen den Parteien zu stehen und an einer universalen Idee von Gerechtigkeit festzuhalten. Er ist ein autonomes Individuum in einer Welt, die sagt: „Du bist nicht, was du bist. Du bist nur, was deine Eltern sind, dein Stamm.“
Rahimi, 1962 in Kabul geboren und 1984 nach Frankreich geflohen, verlegt in „Verflucht sei Dostojewski“ das berühmteste Buch des Russen nach Afghanistan. Wenn sich ein Schriftsteller einen Kollegen in den Titel schreibt, dann hat das zwei Auswirkungen. Erstens generiert es Aufmerksamkeit, besonders, wenn der Betroffene verflucht wird. Andererseits fordert es einen Vergleich heraus – einen, den man schwerlich gewinnen kann. Dem ungeachtet entzieht sich Rahimi, der 2008 für „Stein der Geduld“ den Prix Goncourt erhielt, gekonnt dieser Gegenüberstellung. Zwar übernimmt er vieles aus der Handlung von „Verbrechen und Strafe“ und behält auch die drei Ebenen bei, die den Roman so einzigartig machen, also das Verweben von kriminalistischer Handlung mit psychologischer Schuldfrage und dem Kampf der gesellschaftlichen Ideen im Hintergrund. Aber: Aus Dostojewskis Grundgerüst schafft Rahimi etwas Eigenständiges von höchster literarischer Qualität.
Da ist zum Beispiel die Stimme des Erzählers, bei der man nie weiß, ob sie Rassuls Über-Ich ist oder ein literarischer Ringrichter, der aufpasst, dass sich die Parallelen der beiden Geschichten nicht berühren. Als der Held sich vorstellt, dass seine Verlobte Suphia ihn zur öffentlichen Beichte drängt, schaltet sich der Erzähler ein: „Aber Rassul, vergiss nicht, dass sie nicht Sonja ist, die Geliebte Raskolnikows.“
Die Stimmung des Romans verdüstert sich immer mehr. Die Sinne kommen gleichsam an ihre Grenzen, Rahimi spielt dadurch geschickt mit der Orientierungslosigkeit seines Helden. Kabul versinkt im Rauch der zerbombten Häuser, bis sich die Sonne verdunkelt und das Atmen schwer wird. Rassul verliert seine Stimme, was der Kommunikation der Figuren einen wunderbar seltsamen Schliff gibt. Und schließlich die Haschisch-Spelunke, in der die vom Land und vom Krieg gezeichneten Männer ihre Zerrüttungen vergessen wollen.
Warum wird Dostojewski eigentlich verflucht? Rassul ist schließlich ein großer Fan. Die Gründe sind vielfältig. Einmal wird Rassul verhaftet, weil analphabetische Schergen die russischen Ausgaben des ehemaligen Austauschstudenten wegen der kyrillischen Schrift für sowjetische Propaganda halten. Oder es liegt daran, dass der Gedanke an Raskolnikow die Tat so nachhaltig beeinflusst, den Mörder quasi der Eigenständigkeit seines Schicksals beraubt. Im Grunde jedoch ist „Schuld und Sühne“ der Inbegriff der Hoffnung: „Dieses Buch muss in Afghanistan gelesen werden, in diesem einst mystischen Land, das sein Verantwortungsgefühl verloren hat. Rassul ist überzeugt, dass es hier, wenn man Dostojewski in den Lehrplan aufnehmen würde, weniger Verbrechen gäbe!“ Es ist die alte Frage: Wie viel Macht hat Fiktion über Realität? MATTHIAS WAHA
ATIQ RAHIMI: Verflucht sei Dostojewski. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 288 Seiten, 19,99 Euro.
1962 in Kabul geboren, floh Atiq Rahimi vor dem Bürgerkrieg nach Pakistan und dann nach Frankreich. Foto: Ekko von Schwichow
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2012Sein Afghanistan ist überall
Bilder aus einem wüsten, geschundenen Land: Der afghanische Schriftsteller Atiq Rahimi versetzt Dostojewskis Raskolnikow ins Kabul der neunziger Jahre.
Oh, jetzt verstehe ich den "Propheten", mit dem Säbel in der Hand, hoch zu Ross: Allah befiehlt, und du, zitternde Kreatur, gehorche! Das stammt keinesfalls aus dem Koran, sondern aus "Verbrechen und Strafe" von Dostojewski. Zitiert ein zeitgenössischer Autor so einen Giganten der Weltliteratur schon im Titel, muss man allzu cleveres Marketing oder schriftstellerischen Größenwahn befürchten. An großen Brocken, heißt es, kann man sich nur verheben. Unbeeindruckt davon, präsentiert der aus Afghanistan stammende Atiq Rahimi mit seinem zweiten Roman in französischer Sprache eine moderne Adaption des Klassikers.
Kein bescheidenes Unterfangen, aber immerhin wurde der 1962 in Kabul geborene Autor und Filmemacher für sein französisches Debüt, den Roman "Stein der Geduld", 2008 mit dem Prix Goncourt geehrt und auch seine zuvor aus dem Persischen übersetzten Bücher "Erde und Asche" und "Der Krieg und die Liebe" wurden gelobt.
Nun also die Sache mit Raskolnikow, der hier Rassul heißt und in Kabul mehr schlecht als recht dahinvegetiert. Überhaupt hält sich der seit 1984 in Frankreich lebende Autor ziemlich genau an die kriminalistisch-psychologisierende Grundstruktur des großen Russen, auch das Personal ist einigermaßen bekannt. Die düsteren Hinterhöfe und Stiegen des raubkapitalistischen Petersburg wurden eingetauscht gegen die elenden Kammern und verrauchten Opiumcafés Kabuls in den neunziger Jahren, als nach dem Abzug der geschlagenen Sowjets die Mudschahedin um die Macht kämpften. Die Stadt versinkt im Chaos, ihre Bewohner im Elend, da braucht es nicht erst Dostojewski, um alles zu verfluchen. Warum aber wird, so der Titel, Dostojewski verflucht?
Der afghanische Nachfahre Raskolnikows ist wie sein literarischer Verwandter ein mittelloser Student, gesegnet und eben auch verflucht mit ein paar Semestern Russlanderfahrung. Er plant den Raubmord an der Wucherin Nana Alia, um mit der Beute seine Familie, Mutter und Schwester, über Wasser zu halten und seine Verlobte Suphia aus den Krallen der alten Hexe, die auch Zuhälterin ist, zu befreien. Die hochtrabende Napoleon-Idee vom Übermenschen, der die Welt befreit und die Laus tötet, liegt ihm ziemlich fern. Doch in der Gemengelage des Mordes kommen Zweifel auf, dunkel erinnert er sich an den Roman und verlässt den Ort des Verbrechens überstürzt, verwirrt und ohne die Beute, die mitsamt der Leiche verschwindet. Allein mit seinem Gewissen, verfolgt er eine Frau in blauer Burka, bei der er Beute und Zeugenschaft vermutet, und will sich, nachdem Suphia ihn drängt, der Justiz stellen. So bekannt, so gut. Allein die Justiz existiert nicht mehr in diesem bizarren Absurdistan, ihr letzter Vertreter, ein alter Gerichtsschreiber, hat anderes zu tun und sucht ganz anders als Dostojewskis Detektiv dem Studenten klarzumachen, dass sich in Kabul niemand für sein Verbrechen interessieren wird. In einem Land, in dem Mord und Totschlag an der Tagesordnung sind, ist das Erschlagen einer Wucherin, einer Frau noch dazu, eine Bagatelle. Sich zu stellen grenze an Schwachsinn.
Verhaftet wird der afghanische Raskolnikow dennoch, aber nicht seines Verbrechens wegen, sondern weil er russische Bücher, vermeintliche Feindpropaganda liest, auch den verfluchten Dostojewski, und sein Vater, der fern von Kabul ermordet wird, Kommunist war. Sippe, Stamm, Blutsbande - darüber wird ein kafkaeskes Gericht gehalten. Und natürlich trifft der Held auch auf eine afghanische Ausgabe des mephistophelischen Swidrigailow, hier ist es ein Mudschahedin-Kommandeur, ein liebenswürdiger Massenmörder. Zum Schluss gibt es dann doch noch eine Leiche und ein - wie bei Dostojewski - etwas ephemeres Happy End.
Erzählt wird dies alles aus der fieberumnachteten Perspektive Rassuls, in die sich zuweilen ein Erzähler einschaltet, eine den Filmemacher ausweisende Montage mit Suggestivkraft. Die groteske, surreale Realität der Wüstung Kabul verschwimmt mit den inneren Monologen des getriebenen Helden, bis man selbst nicht recht weiß, was Dichtung und Wahrheit, Recht und Unrecht ist. Unweigerlich erinnert man sich an die Romane Khaled Hosseinis, des in Amerika lebenden, auf Englisch schreibenden anderen international bekannten afghanischen Autors. Beide Autoren suchten ihre Sujets bisher nur in ihrer einstigen Heimat, aber beide schreiben von ganz anderen literarischen Ufern. Rahimi, Psychologe und Philosoph, führt uns in Bildern aus einem geschundenen, zerrissenen Land vor Augen, was geschieht, wenn wir meinen, alles sei erlaubt, wenn wir den "Propheten" mit Säbeln und noch schärferen Worten blind folgen, wenn wir glauben, nicht aus Fleisch und Blut, sondern Abgötter aus Erz zu sein. Sein Afghanistan ist überall.
SABINE BERKING
Atiq Rahimi: "Verflucht sei Dostojewski". Roman.
Aus dem Französischen von Lis Künzli. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 290 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bilder aus einem wüsten, geschundenen Land: Der afghanische Schriftsteller Atiq Rahimi versetzt Dostojewskis Raskolnikow ins Kabul der neunziger Jahre.
Oh, jetzt verstehe ich den "Propheten", mit dem Säbel in der Hand, hoch zu Ross: Allah befiehlt, und du, zitternde Kreatur, gehorche! Das stammt keinesfalls aus dem Koran, sondern aus "Verbrechen und Strafe" von Dostojewski. Zitiert ein zeitgenössischer Autor so einen Giganten der Weltliteratur schon im Titel, muss man allzu cleveres Marketing oder schriftstellerischen Größenwahn befürchten. An großen Brocken, heißt es, kann man sich nur verheben. Unbeeindruckt davon, präsentiert der aus Afghanistan stammende Atiq Rahimi mit seinem zweiten Roman in französischer Sprache eine moderne Adaption des Klassikers.
Kein bescheidenes Unterfangen, aber immerhin wurde der 1962 in Kabul geborene Autor und Filmemacher für sein französisches Debüt, den Roman "Stein der Geduld", 2008 mit dem Prix Goncourt geehrt und auch seine zuvor aus dem Persischen übersetzten Bücher "Erde und Asche" und "Der Krieg und die Liebe" wurden gelobt.
Nun also die Sache mit Raskolnikow, der hier Rassul heißt und in Kabul mehr schlecht als recht dahinvegetiert. Überhaupt hält sich der seit 1984 in Frankreich lebende Autor ziemlich genau an die kriminalistisch-psychologisierende Grundstruktur des großen Russen, auch das Personal ist einigermaßen bekannt. Die düsteren Hinterhöfe und Stiegen des raubkapitalistischen Petersburg wurden eingetauscht gegen die elenden Kammern und verrauchten Opiumcafés Kabuls in den neunziger Jahren, als nach dem Abzug der geschlagenen Sowjets die Mudschahedin um die Macht kämpften. Die Stadt versinkt im Chaos, ihre Bewohner im Elend, da braucht es nicht erst Dostojewski, um alles zu verfluchen. Warum aber wird, so der Titel, Dostojewski verflucht?
Der afghanische Nachfahre Raskolnikows ist wie sein literarischer Verwandter ein mittelloser Student, gesegnet und eben auch verflucht mit ein paar Semestern Russlanderfahrung. Er plant den Raubmord an der Wucherin Nana Alia, um mit der Beute seine Familie, Mutter und Schwester, über Wasser zu halten und seine Verlobte Suphia aus den Krallen der alten Hexe, die auch Zuhälterin ist, zu befreien. Die hochtrabende Napoleon-Idee vom Übermenschen, der die Welt befreit und die Laus tötet, liegt ihm ziemlich fern. Doch in der Gemengelage des Mordes kommen Zweifel auf, dunkel erinnert er sich an den Roman und verlässt den Ort des Verbrechens überstürzt, verwirrt und ohne die Beute, die mitsamt der Leiche verschwindet. Allein mit seinem Gewissen, verfolgt er eine Frau in blauer Burka, bei der er Beute und Zeugenschaft vermutet, und will sich, nachdem Suphia ihn drängt, der Justiz stellen. So bekannt, so gut. Allein die Justiz existiert nicht mehr in diesem bizarren Absurdistan, ihr letzter Vertreter, ein alter Gerichtsschreiber, hat anderes zu tun und sucht ganz anders als Dostojewskis Detektiv dem Studenten klarzumachen, dass sich in Kabul niemand für sein Verbrechen interessieren wird. In einem Land, in dem Mord und Totschlag an der Tagesordnung sind, ist das Erschlagen einer Wucherin, einer Frau noch dazu, eine Bagatelle. Sich zu stellen grenze an Schwachsinn.
Verhaftet wird der afghanische Raskolnikow dennoch, aber nicht seines Verbrechens wegen, sondern weil er russische Bücher, vermeintliche Feindpropaganda liest, auch den verfluchten Dostojewski, und sein Vater, der fern von Kabul ermordet wird, Kommunist war. Sippe, Stamm, Blutsbande - darüber wird ein kafkaeskes Gericht gehalten. Und natürlich trifft der Held auch auf eine afghanische Ausgabe des mephistophelischen Swidrigailow, hier ist es ein Mudschahedin-Kommandeur, ein liebenswürdiger Massenmörder. Zum Schluss gibt es dann doch noch eine Leiche und ein - wie bei Dostojewski - etwas ephemeres Happy End.
Erzählt wird dies alles aus der fieberumnachteten Perspektive Rassuls, in die sich zuweilen ein Erzähler einschaltet, eine den Filmemacher ausweisende Montage mit Suggestivkraft. Die groteske, surreale Realität der Wüstung Kabul verschwimmt mit den inneren Monologen des getriebenen Helden, bis man selbst nicht recht weiß, was Dichtung und Wahrheit, Recht und Unrecht ist. Unweigerlich erinnert man sich an die Romane Khaled Hosseinis, des in Amerika lebenden, auf Englisch schreibenden anderen international bekannten afghanischen Autors. Beide Autoren suchten ihre Sujets bisher nur in ihrer einstigen Heimat, aber beide schreiben von ganz anderen literarischen Ufern. Rahimi, Psychologe und Philosoph, führt uns in Bildern aus einem geschundenen, zerrissenen Land vor Augen, was geschieht, wenn wir meinen, alles sei erlaubt, wenn wir den "Propheten" mit Säbeln und noch schärferen Worten blind folgen, wenn wir glauben, nicht aus Fleisch und Blut, sondern Abgötter aus Erz zu sein. Sein Afghanistan ist überall.
SABINE BERKING
Atiq Rahimi: "Verflucht sei Dostojewski". Roman.
Aus dem Französischen von Lis Künzli. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 290 S., geb., 19,99 [Euro].
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