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Die Städtische Höhere Töchterschule, die erste öffentliche Höhere Mädchenschule in Hildesheim erlebte in der Kaiserzeit bis zu ihrem Jubiläum 1908 einen beispielhaften Aufschwung. Diese Schule war solide, ambitioniert und von hohem wissenschaftlichen Anspruch. Gefördert wurden die Mädchen von aufgeklärten Bürgern, weitsichtigen Bürgermeistern wie Friedrich Boysen und Dr. Gustav Struckmann und Schuldirektoren wie Dr. Wilhelm Tesdorpf, der beim Festakt zum Schuljubiläum 1908 den Patron des Bürgertums,Immanuel Kant, frei zitierte: Die Höhere Töchterschule stehe keinesfalls für eine…mehr

Produktbeschreibung
Die Städtische Höhere Töchterschule, die erste öffentliche Höhere Mädchenschule in Hildesheim erlebte in der Kaiserzeit bis zu ihrem Jubiläum 1908 einen beispielhaften Aufschwung. Diese Schule war solide, ambitioniert und von hohem wissenschaftlichen Anspruch. Gefördert wurden die Mädchen von aufgeklärten Bürgern, weitsichtigen Bürgermeistern wie Friedrich Boysen und Dr. Gustav Struckmann und Schuldirektoren wie Dr. Wilhelm Tesdorpf, der beim Festakt zum Schuljubiläum 1908 den Patron des Bürgertums,Immanuel Kant, frei zitierte: Die Höhere Töchterschule stehe keinesfalls für eine Treibhauskultur emanzipierter Blaustrümpfe, sondern kräftige Persönlichkeiten sollten in der Frauenwelt herangebildet werden zum Wohle der Menschheit.Die Töchterschule stand für die bürgerliche Emanzipation der Frauen durch Bildung und mit ihrem im Verhältnis zur Bevölkerung überproportionalen Anteil an jüdischen Schülerinnen auch für die Emanzipation der Juden und ihrer Töchter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – trotz aller frauenfeindlichen und antisemitischen Vorbehalte. Mädchen, die die Städtische Höhere Töchterschule besuchten, genossen eine hoffnungsvolle, zukunftweisende Erziehung, die schon bald ihre Früchte trug. Besonders bestürzend ist, dass viele ehemalige Schülerinnen, die zu dieser Zeit die Töchterschule besuchten, oft aus alten jüdischen Familien Hildesheims stammend, unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft so hochbetagt deportiert und ermordet worden sind. So fi ndet man ehemalige Schülerinnen, die vielleicht vertrauend auf den Respekt vor dem Alter, in gutem Glauben nicht aus ihrer Heimatstadt fl iehen wollten oder konnten, weil sie zuerst ihre Kinder in Sicherheit brachten, durch alte Eltern oder Ehepartner, durch eine große Familie gebunden oder gerade als Frauen mittel- und hilflos waren, nämlich selbst alt, verwitwet, ledig, behindert, verarmt, durch „Arisierungen“ beraubt.Die wahrscheinlich älteste Töchterschülerin war Johanne Jacobson geb. Güdemann. Im Alter von 85 Jahren deportierte man sie zusammen mit ihrer 60jährigen Tochter Bertha Jacobson im Juli 1942 von der Friesenstraße 3/4 aus, in einem Lastwagen zur Sammelstelle Ahlem in Hannover und von da aus mit dem Zug nach Theresienstadt. Unter den ersten und ältesten Töchterschülerinnen ist auch die bekannte Malerin AgnesMeyerhof, der ein Stolperstein gewidmet ist – ihre Schwester und Töchterschülerin Leonie Meyerhof war Autorin bei der Frankfurter Zeitung. Einige der Töchterschülerinnen hatten als erste Frauen überhaupt ein Studium aufgenommen – in Preußen war das erst 1908 möglich. So wurde die TöchterschülerinKlara Löbenstein bereits 1909 von David Hilbert, einem Mathematiker von Weltruf, in Göttingen promoviert. Sie absolvierte ihr Referendariat an der Scharnhorstschule, dem früheren Andreas Realgymnasium. Ihre Schwester Frieda war eine international anerkannte Expertin für Gregorianik; in Sao Paulo ist eine Straße nach ihr benannt. Die ehemalige Töchterschülerin Amalie Loewenberg wurde 1917 die erste jüdische Studienrätinan ihrer alten, ab 1922 Goetheschule genannten Schule in Hildesheim. Auch ihrer wurde mit einem Stolperstein gedacht. Einige der teils lange in Hildesheim ansässigen jüdischen Familien, die unter großenAnstrengungen ihre Töchter zur Höheren Schule schickten, hatten noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einfachen Verhältnissen gelebt. Ihre Väter hatten einen Zigarrenladen, einen Lotterieverkauf oder ein Wäschegeschäft. Manche Töchterschülerinnen führten als Witwen selbständig die Geschäfte ihrer Männer weiter. Viele sind die Mütter von Akademikern geworden, so Alma Davidson die von dem Nobelpreisträger Sir Hans Adolf Krebs. Edith Dux, die ebenfalls 2010 einen Stolperstein erhielt, ist die Mutter von Annie Loebenstein, die 1938 allein im Schweizer Exil in Physikalischer Chemie promoviert worden war. Henny Davidson ist die Großmutter von dem bekannten Atomphysiker und Atomkraftgegner Klaus Traube. Johanne Jacobson, 2010 mit einem Stolperstein bedacht, ist die Mutter von Dr. Ernst Jacobson, einem geachteten Rechtsanwalt und Notar in Osnabrück. Die Designerin Franziska Baruch entwarf hebräische Lettern füreine der bedeutendsten Ausgaben der Haggadah Shel Pesach; sie war die Tochter der ermordeten Töchterschülerin Auguste Baruch geb. Sabel. Wie entscheidend Bildung für Wohlstand, ein gesittetes Gemeinwesen, individuelle Selbstbestimmung und nicht zuletzt für ein erfülltes Leben sein kann, ist allgemeiner Konsens. Dafür stand die Städtische Höhere Töchterschule in ihren Anfängen und gerade in der Wilhelminischen Zeit. In der erweiterten Neuaufl age der vorliegenden Schrift wird die glanzvolle Wirkungsgeschichte der Mädchenschule deutlich, ebenso dieVerachtung und Zerstörung von Kultur und Zivilisation, die Fallhöhe in unvorstellbares Verbrechen.
Den ersten Stolperstein setzte der Künstler Gunter Demnig am 16. Dezember 1992 vor dem Kölner Rathaus in das Pflaster ein. Damit begann ein Kunstprojekt, das Mitte 2019 mit weit über 70.000 Stolpersteinen in 24 europäischen Ländern das größte dezentrale Mahnmal der Welt ist. In Hildesheim wurden die ersten drei Stolpersteine am 25. November 2008 verlegt. Inzwischen erinnern insgesamt 101 Stolpersteine an Menschen, die in Hildesheim durch Maßnahmen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates oder durch nationalsozialistische Gewalttäter zu Schaden oder ums Leben kamen. Neben jüdischen Hildesheimerinnen und Hildesheimern waren das bisher eine Sintizza, sieben Zeugen Jehovas sowie sechs katholische und evangelische Geistliche.