Fluchten als Reaktion auf Verfolgung und Deportation zählten zu den wichtigsten Überlebensstrategien der Juden während der Zeit des Nationalsozialismus.Insa Meinen und Ahlrich Meyer begeben sich auf die Spuren von Juden aus Deutschland und Österreich, die ab 1938 vor der antisemitischen Gewalt nach Belgien flüchteten. Auch berichten sie erstmals über die schon im Zeichen des Genozid stehenden Fluchten von Juden innerhalb Westeuropas ab 1941/42. Der Leser bekommt ein eindrückliches Bild davon, welche immer neuen Anstrengungen die Menschen auf sich nahmen, um sich und ihre Familien vor dem Untergang zu bewahren. Im Mittelpunkt stehen die Rettungsversuche der vielen "namenlosen" jüdischen Flüchtlinge. Ihre Schicksale werden aus verstreuten Akten, Karteien und Transportlisten der Todeszüge nach Auschwitz erschlossen. Das Buch würdigt diejenigen, die der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum Opfer fielen und über deren Widerstand bislang kaum etwas bekannt war.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wegweisend findet Rezensent Jan Erik Schulte diese Darstellung jüdischen Widerstands gegen die Verfolgung durch die Nazis. Wenn die Autoren Insa Meinen und Ahlrich Meyer akribisch die Fluchtbewegungen der Verfolgten innerhalb Westeuropas, die Geschichten und Schicksale nachzeichnen und Etappen der Flucht rekonstruieren, die meist trotz allem im Lagertod endete, hat der Rezensent schwer zu kauen. Allerdings weniger an den Statistiken, als an den Fallbeispielen und Einzelschicksalen selbst, die ihm die Autoren durch die Erzählung von Lebensepisoden nahebringen. Schulte entdeckt Parallelen zu heutigen Fluchtbewegungen, weiß aber um die Besonderheit der hier erzählten Geschichten, in denen die Menschen nicht als Opfer erscheinen, sondern als willenstarke Akteure. Eine richtungsweisende Perspektive, betont Schulte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine ZeitungWege zur Selbstbehauptung
Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938 bis 1944
Über den jüdischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Verfolgung ist in der Öffentlichkeit noch immer wenig bekannt. Dies gilt sowohl für bewaffnete Aktionen als auch für andere Formen der Gegenwehr. Zu diesen vernachlässigten Aspekten "jüdischer Selbstbehauptung angesichts der Shoah" gehören für Insa Meinen und Ahlrich Meyer auch die Fluchten vor Verfolgung, Terror und Massenmord zunächst aus Deutschland und dann innerhalb ganz Westeuropas. Die Flüchtlinge stehen im Mittelpunkt des Buches; ihre Geschichten oder zumindest ihre Schicksale werden akribisch rekonstruiert.
Den Leser, der sich auf diese Geschichten einlässt, erwartet keine einfache Lektüre. Dies liegt nicht zuallererst an den detaillierten statistischen Ergebnissen. Vielmehr sind es die Flüchtlingsschicksale selbst, die innehalten lassen. Aus sprödem Datenmaterial oder aus zufällig erhalten gebliebenen Berichten von Grenzkontrollen destillieren die Autoren Etappen der Flucht, Zeiten scheinbarer Rettung und Umstände der Gefangennahme heraus. Die schlaglichtartig erfassten Lebensläufe endeten in den meisten Fällen mit der Verschleppung in den "Osten" und dem dort sicheren Tod. Denn die Autoren entreißen nicht die Davongekommenen, sondern diejenigen, die auf den Todeslisten der Deportationszüge standen, dem Vergessen. In kaum zu ertragender Regelmäßigkeit schließen kürzere wie auch längere Episoden aus dem Leben der Flüchtlinge mit Hinweisen auf deren Abtransport, wie im folgenden Beispiel: "David Jakobowitsch, 17 Jahre, im März 1939 aus Köln nach Brüssel geflohen, im Juli 1944 mit dem XXVI. Transport Belgien-Auschwitz deportiert."
Drehscheibe für viele Flüchtlingsschicksale war Belgien, das bis Kriegsbeginn eine formal strikte Einwanderungspolitik in individuellen Fällen häufig liberal handhabte. Etwa zwei Drittel des Bandes widmen sich diesem Fallbeispiel. Die Autoren interessieren sich insbesondere dafür, wer floh und wie die Fluchten durchgeführt wurden. Nach dem Novemberpogrom 1938 nahm beispielsweise die Flucht von Kindern überproportional zu. Teils kamen sie mit beiden Elternteilen, teils aber auch nur mit den Müttern, da die Väter noch in Konzentrationslagern einsaßen oder nach der Freilassung aus der KZ-Haft bereits geflohen waren. Oftmals wurden sie allein auf die Reise geschickt. Mehrere tausend jüdische Kinder, nicht nur Flüchtlingskinder, konnten auch nach Beginn der Deportationen seit 1942 erfolgreich in Belgien verborgen werden.
Um Deutschland zu verlassen, mussten die jüdischen Flüchtlinge auf illegale Praktiken zurückgreifen. Hier zeigt sich ein Paradox nationalsozialistischer Judenpolitik, die bis Kriegsbeginn die Ausreise mit Gewalt forcierte, zugleich aber zum Zwecke der Ausplünderung das Verlassen des Landes so schwierig wie möglich machte. Die Flüchtlinge mussten sich illegale Papiere beschaffen, falsche Einreisevisa und sich in die Hände von Schleusern begeben, die versprachen, sie sicher ins Ausland zu bringen. Nur so konnten sie hoffen, ihr Leben zu retten. Und doch waren die offensichtlichen Gesetzesübertretungen, wenn sie entdeckt wurden, häufig ein Grund, die Flüchtlinge abzuweisen und nach Deutschland zurückzuschicken. Die Parallelen zu heutigen Fluchtbewegungen und zur Asylpolitik sind offensichtlich.
Nach Kriegsbeginn und vor allem nach Aufnahme der Deportationen in den "Osten", also meist nach Auschwitz, versuchten diejenigen, die sich nur kurze Zeit im Exil sicher wähnen durften, den Verfolgern ein zweites Mal zu entgehen. Ihr Ziel war das unbesetzte Frankreich. Viele wurden auf dem Weg festgenommen, in Aufnahmelager geschickt und schließlich in die Vernichtungsstätten transportiert. Doch auch aus Vichy-Frankreich wurden Juden in den deutschen Machtbereich abgeschoben. Für einzelne Flüchtlinge oder ganze Familien stellten sich die Jahre nach 1938 als eine Kette von Flucht, Exil, Verstecken, erneuter Flucht, Verhaftung und schließlich Deportation in den Tod dar - immer verbunden mit der verzweifelter werdenden Hoffnung auf Rettung.
Doch geht es in diesem Buch nicht darum, die jüdischen Menschen als hoffnungslos verlorene Opfer eines erbarmungslosen Schicksals zu zeigen. Denn auch diejenigen, die schließlich von den nationalsozialistischen Menschenjägern und ihren einheimischen Helfern aufgespürt wurden, hatten ihr Leben selbst in die Hand genommen, waren Akteure und nicht nur Objekte fremden Handelns. Als die Wehrmacht die Benelux-Staaten und Frankreich besetzte, lebten dort rund 50 000 jüdische Flüchtlinge, die vor allem aus Deutschland geflohen waren. Von ihnen wurden mindestens 24 500 deportiert und umgebracht. Fast die Hälfte starb, aber ebenso viele konnten aufgrund ihrer eigenen Initiative und durch die Hilfe anderer Menschen ihr Leben retten. Es ist zu wünschen, dass diese Forschungsperspektive, die den Selbstbehauptungswillen ganz normaler Menschen ins Zentrum rückt, auf Studien zu anderen Regionen übertragen wird. Insa Meinen und Ahlrich Meyer weisen mit ihrer oft zu Herzen gehenden Darstellung hierfür einen Weg.
JAN ERIK SCHULTE
Insa Meinen/Ahlrich Meyer: Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938-1944. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2013. 332 S., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938 bis 1944
Über den jüdischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Verfolgung ist in der Öffentlichkeit noch immer wenig bekannt. Dies gilt sowohl für bewaffnete Aktionen als auch für andere Formen der Gegenwehr. Zu diesen vernachlässigten Aspekten "jüdischer Selbstbehauptung angesichts der Shoah" gehören für Insa Meinen und Ahlrich Meyer auch die Fluchten vor Verfolgung, Terror und Massenmord zunächst aus Deutschland und dann innerhalb ganz Westeuropas. Die Flüchtlinge stehen im Mittelpunkt des Buches; ihre Geschichten oder zumindest ihre Schicksale werden akribisch rekonstruiert.
Den Leser, der sich auf diese Geschichten einlässt, erwartet keine einfache Lektüre. Dies liegt nicht zuallererst an den detaillierten statistischen Ergebnissen. Vielmehr sind es die Flüchtlingsschicksale selbst, die innehalten lassen. Aus sprödem Datenmaterial oder aus zufällig erhalten gebliebenen Berichten von Grenzkontrollen destillieren die Autoren Etappen der Flucht, Zeiten scheinbarer Rettung und Umstände der Gefangennahme heraus. Die schlaglichtartig erfassten Lebensläufe endeten in den meisten Fällen mit der Verschleppung in den "Osten" und dem dort sicheren Tod. Denn die Autoren entreißen nicht die Davongekommenen, sondern diejenigen, die auf den Todeslisten der Deportationszüge standen, dem Vergessen. In kaum zu ertragender Regelmäßigkeit schließen kürzere wie auch längere Episoden aus dem Leben der Flüchtlinge mit Hinweisen auf deren Abtransport, wie im folgenden Beispiel: "David Jakobowitsch, 17 Jahre, im März 1939 aus Köln nach Brüssel geflohen, im Juli 1944 mit dem XXVI. Transport Belgien-Auschwitz deportiert."
Drehscheibe für viele Flüchtlingsschicksale war Belgien, das bis Kriegsbeginn eine formal strikte Einwanderungspolitik in individuellen Fällen häufig liberal handhabte. Etwa zwei Drittel des Bandes widmen sich diesem Fallbeispiel. Die Autoren interessieren sich insbesondere dafür, wer floh und wie die Fluchten durchgeführt wurden. Nach dem Novemberpogrom 1938 nahm beispielsweise die Flucht von Kindern überproportional zu. Teils kamen sie mit beiden Elternteilen, teils aber auch nur mit den Müttern, da die Väter noch in Konzentrationslagern einsaßen oder nach der Freilassung aus der KZ-Haft bereits geflohen waren. Oftmals wurden sie allein auf die Reise geschickt. Mehrere tausend jüdische Kinder, nicht nur Flüchtlingskinder, konnten auch nach Beginn der Deportationen seit 1942 erfolgreich in Belgien verborgen werden.
Um Deutschland zu verlassen, mussten die jüdischen Flüchtlinge auf illegale Praktiken zurückgreifen. Hier zeigt sich ein Paradox nationalsozialistischer Judenpolitik, die bis Kriegsbeginn die Ausreise mit Gewalt forcierte, zugleich aber zum Zwecke der Ausplünderung das Verlassen des Landes so schwierig wie möglich machte. Die Flüchtlinge mussten sich illegale Papiere beschaffen, falsche Einreisevisa und sich in die Hände von Schleusern begeben, die versprachen, sie sicher ins Ausland zu bringen. Nur so konnten sie hoffen, ihr Leben zu retten. Und doch waren die offensichtlichen Gesetzesübertretungen, wenn sie entdeckt wurden, häufig ein Grund, die Flüchtlinge abzuweisen und nach Deutschland zurückzuschicken. Die Parallelen zu heutigen Fluchtbewegungen und zur Asylpolitik sind offensichtlich.
Nach Kriegsbeginn und vor allem nach Aufnahme der Deportationen in den "Osten", also meist nach Auschwitz, versuchten diejenigen, die sich nur kurze Zeit im Exil sicher wähnen durften, den Verfolgern ein zweites Mal zu entgehen. Ihr Ziel war das unbesetzte Frankreich. Viele wurden auf dem Weg festgenommen, in Aufnahmelager geschickt und schließlich in die Vernichtungsstätten transportiert. Doch auch aus Vichy-Frankreich wurden Juden in den deutschen Machtbereich abgeschoben. Für einzelne Flüchtlinge oder ganze Familien stellten sich die Jahre nach 1938 als eine Kette von Flucht, Exil, Verstecken, erneuter Flucht, Verhaftung und schließlich Deportation in den Tod dar - immer verbunden mit der verzweifelter werdenden Hoffnung auf Rettung.
Doch geht es in diesem Buch nicht darum, die jüdischen Menschen als hoffnungslos verlorene Opfer eines erbarmungslosen Schicksals zu zeigen. Denn auch diejenigen, die schließlich von den nationalsozialistischen Menschenjägern und ihren einheimischen Helfern aufgespürt wurden, hatten ihr Leben selbst in die Hand genommen, waren Akteure und nicht nur Objekte fremden Handelns. Als die Wehrmacht die Benelux-Staaten und Frankreich besetzte, lebten dort rund 50 000 jüdische Flüchtlinge, die vor allem aus Deutschland geflohen waren. Von ihnen wurden mindestens 24 500 deportiert und umgebracht. Fast die Hälfte starb, aber ebenso viele konnten aufgrund ihrer eigenen Initiative und durch die Hilfe anderer Menschen ihr Leben retten. Es ist zu wünschen, dass diese Forschungsperspektive, die den Selbstbehauptungswillen ganz normaler Menschen ins Zentrum rückt, auf Studien zu anderen Regionen übertragen wird. Insa Meinen und Ahlrich Meyer weisen mit ihrer oft zu Herzen gehenden Darstellung hierfür einen Weg.
JAN ERIK SCHULTE
Insa Meinen/Ahlrich Meyer: Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938-1944. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2013. 332 S., 39,90 [Euro].
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