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Auf den ersten Blick erzählt Katja Lange-Müller zwei kuriose Ereignisse aus der Kindheit und Jugend einer Frau: Im achten Schuljahr wird die triste Routine des Schulalltags unterbrochen durch den Auftritt eines Mannes, der den Schülern eine Sammlung von toten und lebenden Reptilien und Insekten vorführt. Jahre später geht die junge Frau durch ein neu eröffnetes Kaufhaus und landet im Keller als Gefangene eines dubiosen Warenhausdetektivs.

Produktbeschreibung
Auf den ersten Blick erzählt Katja Lange-Müller zwei kuriose Ereignisse aus der Kindheit und Jugend einer Frau: Im achten Schuljahr wird die triste Routine des Schulalltags unterbrochen durch den Auftritt eines Mannes, der den Schülern eine Sammlung von toten und lebenden Reptilien und Insekten vorführt. Jahre später geht die junge Frau durch ein neu eröffnetes Kaufhaus und landet im Keller als Gefangene eines dubiosen Warenhausdetektivs.
Autorenporträt
Katja Lange-Müller ist 1951 in Ostberlin geboren. Sie lernte Schriftsetzerin, arbeitete später als Hilfspflegerin auf psychiatrischen Stationen, lebte ein Jahr in der Mongolei und verließ die DDR 1984, fünf Jahre vor dem Mauerfall. 1986 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2008 den "LiteraTour Nord" sowie den "Gerty-Spies-Literaturpreis" der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz. 1995 wurde sie mit dem Alfred-Döblin-Preis, 2013 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.1995

Kunst mit Kerbtieren
Katja Lange-Müllers "Verfrühte Tierliebe" · Von Heinrich Detering

Das Kerbtier erfreut sich in der Literatur der Moderne einer erstaunlichen Beliebtheit. Von Kafkas verwandeltem Ungeziefer über Ernst Jüngers subtile Jagdausbeute bis zu den entomologischen Erzählungen des unvergessenen Ingomar von Kieseritzky zieht sich eine wahre Ameisenstraße von Insektengeschichten durch unsere Poesie - zu schweigen von jenem russisch-amerikanischen Schmetterlingsfänger, der auch als Erzähler Weltruhm erlangte. Ohne streng statistische Nachprüfung läßt sich doch mit Grund vermuten, daß "das Leben der Bienen" (M. Maeterlinck) und der "Gesang der Regenwürmer" (H. Stern) die Dichter weit intensiver beschäftigen als beispielsweise das Thema "masturbierende Männer", das jedenfalls in den höheren Etagen der Literatur eher ein Schattendasein fristet.

Hinwiederum ist der literarische Kerbtierkult seinerseits natürlich nur ein Schatten gegenüber einem Thema wie "Leben in der DDR". Nicht genug damit, daß es über diesen Staat noch viel mehr schöngeistige Bücher gibt als über alle Ameisenstaaten zusammen - viele gute Schriftsteller haben in diesem Staat sogar selber gelebt und können seinen Alltag sozusagen von innen und von unten schildern. Die zur Zeit vermutlich beste dieser Schriftstellerinnen heißt Katja Lange-Müller und hat eine wunderbare Erzählung geschrieben, die nicht nur alle bisherige Insektendichtung in den Schatten stellt, sondern überdies auch das Kunststück vollbringt, auf vollkommen plausible Weise Kerbtiere, masturbierende Männer und andere Bestandteile des Alltags in, unter anderem, der DDR zusammenzuführen.

So disparat wie diese Sujets erscheint zunächst auch die Geschichte, die daraus gemacht ist. Zusammengehalten wird sie zunächst von einer Erzählweise, die saloppen Umgangston mit raffiniertester Kunstfertigkeit vereint und von jenem Schmetterlingsfänger allerlei gelernt hat. Soviel durchtriebene Naivität, soviel beschwingter Übermut bei so klarem Verstand - wen das nicht betört, der soll sich dem Gesang der Regenwürmer hingeben.

Die beiden Teile des Geschichten-Duetts, das in diesem Ton durchgespielt wird, erweisen sich als zwei Sätze eines einzigen Musikstücks, die variierend dieselben Themen entfalten und ineinander spiegeln. Dabei sind sie beide nach Novellenart dramatisch zugespitzt auf zwei in der Tat unerhörte Begebenheiten, die sich, so versichert die Ich-Erzählerin, tatsächlich ereignet haben.

Die erste: In der Oberschule erscheint eines Tages ein kurioser Zoologe, ein "undurchsichtiger Zausel" namens Bisalzki, um seine stattliche Sammlung konservierter Kleintiere mitsamt einer lebenden Riesenschlange den staunenden Schülern zu präsentieren. Die tier- und namentlich insektenliebende Halbwüchsige, die die Erzählerin damals gewesen ist, verliebt sich auf der Stelle in Schlange und Zausel. Aus dieser in der Objektwahl so ambivalenten Liebe ergibt sich eine Kette wunderbarer und gräßlicher Ereignisse, deren Kulminationspunkt genau dort erreicht ist, wo sich die so unglückliche wie phantasiebegabte Schülerin, obendrein nicht mehr ganz nüchtern, mit ihrer Phantasie aus ihrem Unglück befreien will, wobei ihre entomologischen Kenntnisse eine entscheidende und katastrophale Rolle spielen.

Die zweite Begebenheit: Lange Zeit später, es ist das Jahr 1972, begeht die längst erwachsen Gewordene, mittlerweile Arbeiterin in einem Druckkombinat, mehr aus Versehen als aus Absicht einen kleinen Warenhausdiebstahl in einer Großstadt der DDR und wird dabei von einem Detektiv, einem undurchsichtigen Menschen, erwischt. Und siehe da, aus diesem Vorfall ergibt sich eine Kette komischer und gräßlicher Ereignisse, aus deren endlichem Unglück keine Phantasie mehr heraushilft. Kein Wort mehr von der pubertären Insektenbegeisterung der ersten Geschichtenhälfte - nur daß die gedemütigte, von einem Moment zum anderen aus dem Alltag herausgefallene Heldin sich fühlt "wie eine aufgescheuchte Assel". Eine so beiläufige Notiz genügt hier, um verzweigte Wege durch das Labyrinth der Bedeutungen und Beziehungen zu eröffnen.

Die Folgerichtigkeit, mit der diese Erzählerin steilste Dramatik und flachste Alltagsbanalität zusammenbringt, ist so frappierend wie die Komik ihrer traurigen Turbulenzen. Das Lachen, das diese Geschichten provozieren, ist zum Glück durchaus nicht von der Art, die einem im Halse steckenbleibt. Aber es gibt in ihnen doch allerlei Themen, die sich erst zu voller Größe aufrichten, wenn sich das Lachen wieder gelegt hat. Da geht es dann, auf hübsch erheiterten Wegen, um furchtbar ernste Dinge, um die Einsamkeit von Männern und Frauen etwa, um die Hilflosigkeit und Fremdheit zwischen den Geschlechtern, um die Pein und die Peinlichkeiten des Körpers. Um Vergessenwollen und Erinnernmüssen geht es, und um die merkwürdige Gemengelage von Untertanengehorsam und kleinen Hilfsbereitschaften im real existierenden Sozialismus. Da hier aber Menschen und Kulturzustände mit einem Blick beobachtet werden, der sich in langer Einsamkeit an so häßlichen wie unbedeutenden "Goldafterraupen" und exotischen rosa-weißen "Axolotls" geschult hat, konzentrieren sich die großen Fragen, zum Glück des Lesers, konsequent auf die kleinen, prägnanten Details.

Unter diesem zoologischen Blick, der die Kühle und den Witz der Distanz garantiert, werden Gegenstände wie die obligatorischen "Sprachlos"-Zigarillos oder "jene damals handelsüblichen hellgelben Mülleimer aus bruderstaatlicher Produktion" namens "Servus" so präzise wahrgenommen, daß auch der orts- und zeitunkundigste Leser begreifen muß, wie sie aussehen, riechen, sich anfühlen. Zugleich aber und darüber hinaus werden sie allesamt zu Bestandteilen eines leitmotivischen Bedeutungsgeflechts, in dem jedes Ding und jedes Wort einen doppelten Boden haben kann, in dem auf jeden Klang irgendwann ein fernes Echo antwortet, jedes Bild sich an verborgener Stelle spiegelt.

Da andererseits aber sämtliche nüchternen Beobachtungen "über dem Kokelfeuer meiner Phantasie" in Wallung gebracht werden, paart sich Distanz mit Intimität und gelingen "Sätze, von denen ich bis heute nicht sagen kann, wie oder woher ich sie mir zugezogen habe". Da ist dann jedes Leitmotiv wieder freigelassen, hinaus in eine poetische Zauberwelt, in der es sich jenseits aller Bedeutungs- und Beziehungspflichten lustvoll selbst genügen darf. An der (im Erzählzusammenhang vollkommen einleuchtenden) Merkwürdigkeit eines von Schülerinnenhand "animalisch gefüllten Knastkorkens" im ersten Teil beispielsweise kann sich auch erfreuen, wer dabei an die traurige Geschichte von der gefangenen menschlichen Kellerassel im zweiten noch gar nicht denkt; der zähe Widerstand jener kleinblättrigen Topfpflanze, die auf dem Schreibtisch des Schuldirektors ein unauffällig-beharrliches Eigenleben führt, ist auch ohne leitmotivische Perfektion bestechend.

Es gibt Geschichten, hat der Märchenerzähler Andersen bemerkt, die werden immer schöner und schöner, je öfter man sie liest. Dies hier könnte so eine Geschichte sein. Selten haben sich in der deutschen Literatur der letzten Jahre Impulsivität und Kalkül, Sinnlichkeit und intellektuelle Raffinesse so anmutig vereint wie hier. Die Verfasserin ist dafür mit dem Alfred-Döblin-Preis belohnt worden. Daß es ihr obendrein gelingt, Themen zu vereinen, die bislang stets getrennt waren, daß also auch hier endlich zusammenwächst, was zusammengehört, kann gar nicht genug gewürdigt werden.

Den Tiefpunkt der Erniedrigungen nämlich, als deren Abfolge sich die ganze Geschichte am Ende erweist, erreicht eine Szenerie von ausgemachter Scheußlichkeit, eine perfide Erfindung der Geschwister Scham und Schande. Man stelle sich vor, man befände sich in der DDR, in einem Warenhaus, eingesperrt in einem obskuren Kellerloch wie ein gefangenes Insekt, in einer menschenfernen Toilettenkabine, splitternackt und ohne Zigaretten und überdies nach Geschäftsschluß. Totenstille und die Aussicht auf eine lange, kalte Nacht. Und dann näherten sich Schritte, schwere Männerschritte, vielleicht ein Peiniger, vielleicht ein Befreier, atemloses Abwarten und Horchen, und dann ließe sich ein Herr in der Nebenkabine nieder, der sich ersichtlich allein wähnte, und dann endlich käme, nach Insekten und DDR, das dritte Thema ins Spiel. Es ist nicht auszudenken.

Katja Lange-Müller: "Verfrühte Tierliebe". Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995. 144 S., geb., 28,- DM.

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"Bestechend ist an beiden Texten, wie sie nüchtern und schnörkellos die Verstrickung einer pubertierenden Mädchen-welt mit dem verworren-autoritären Verhalten realsozialistischer Bürokraten vergegenwärtigen." (Martin Luchsinger im Tages-Anzeiger, Zürich)