Zur Vergänglichkeit und Wandelbarkeit von Emotionen.Gefühle sind nicht nur per se vergänglich, sie sind es auch in der historischen Zeit. Es gibt Gefühle - zum Beispiel Ehre -, die uns fremd geworden sind, die aber unseren Groß- und Urgroßeltern noch vertraut waren. Umgekehrt finden heute Empfindungen großen Anklang - wie Empathie und Mitleid -, um die sich vormoderne Gesellschaften kaum scherten. Ute Frevert geht in ihrem Essay der Frage nach, wie sich solche emotionalen Konjunkturen erklären lassen, und zeigt damit, wie sich Emotionen in der und durch die Geschichte wandeln.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Waltraud Schwab folgt Ute Frevert sehr gerne bei deren "kenntnisreichen" Darlegungen zur Historizität der Gefühle, an deren jeweiligen Stand sich Veränderungen einer Kultur nachvollziehen lassen. So etwa am Begriff der "Scham", dessen Wandel von der Bezeichnung des zunächst menschlichen, später allein weiblichen Geschlechtsbereichs bis zu sehr heutigen Begriffen wie "Fremdschämen" die Rezensentin ausführlich referiert. Dass die Autorin dabei sehr genderbewusst argumentiert und ihre Darlegungen mit einer "charmanten Boshaftigkeit" garniert, weiß Schwab dabei zu schätzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2013Durch Mitleid wissend, war's nicht so?
Zwischen Natur und Stil: Ute Frevert widmet sich dem Erstarken und Verblassen von Gefühlsdiskursen
Die Historisierung von Gefühlslagen ist längst Konsens in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Selbst die Entdeckung der Spiegelneuronen konnte die Essentialisierung unserer Empfindungen nicht gänzlich etablieren. Tatsächlich scheint es ein evolutionäres Zulaufen auf einfühlende Verhaltensweisen zu geben, die wir mit unseren nächsten evolutionären Verwandten teilen. Darüber hinaus, so Ute Frevert, ist das meiste aber sozialhistorische Verhandlungsmasse.
Zwei Begriffspaare stellt die Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung auf den Prüfstand. Zum einen die Gefühle von Scham und Ehre. Zum anderen jene von Mitleid und Empathie. Während das erste Gefühlsduo sich in einer kulturellen Flaute befinde, erlebe die Empathie, nach ihrer philosophischen Erstentdeckung im achtzehnten Jahrhundert - damals noch als Verpflichtung zum Mitleid, dann zur Brüderlichkeit und schließlich zur Solidarität -, einen zweiten Frühling: Mitgefühl mit Opfern von Naturkatastrophen oder diktatorischen Regimes, utilitaristische Gruppendynamiken im Netz, Zivilcourage und Ehrenämter: ohne Mitgefühl stehe die westliche Welt heute auf verlorenem Posten.
Gefühle, so Ute Frevert, haben einen Ort und eine Zeit. Der Psychiater Allen Frances hat in seiner von Frevert zitierten Streitschrift gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (F.A.Z. vom 13. Mai) darauf hingewiesen, dass heute das Gefühl der Trauer beim Tod eines nahen Angehörigen schon nach wenigen Wochen pathologisiert wird. Man steuert mit verschreibungspflichtigen Medikamenten gegen ihre Symptome an. Es wäre durchaus vorstellbar, dass die Empfindung von Verlust-Trauer eines Tages als "Gefühlspraktik" insofern beseitigt sein wird, als es keinen Raum mehr gibt, diese auszuleben.
Max Weber sah den Zenit des Ehrbegriffs bereits um 1900 überschritten. Außer beim Militär, so Frevert, sei in dieser Hinsicht keine gesteigerte Reizbarkeit mehr zu messen. Wer fühlt sich schon heute noch bei seiner Ehre gepackt? Der Bedeutungsverlust der Ehre legt den Schluss nahe, dass so "natürlichen" Gefühlen wie dem Wunsch nach Satisfaktion ein stark kulturrelativistisches Moment innewohnt.
"Zu einem gesunden und männlichen Charakter", hieß es noch im Brockhaus von 1884, gehöre vor allem ein "reges Mitgefühl". Und einer der größten Naturalisten des Mitleids war im neunzehnten Jahrhundert Richard Wagner. Sein Parsifal ist nicht durch Bildung, sondern "durch Mitleid wissend". Im Nationalsozialismus verband man diese moderne Mitleids-Ethik mit dem herrschenden Rassenwahn. Meyers Lexikon von 1939 beschränkt die Fähigkeit zur Einfühlung auf "Gemeinschaftsgenossen". Ein scheinbar natürliches Gefühl ist offenbar selbst in habitualisierter Form anfällig für Missbrauch. Frevert gibt zu bedenken: Auch wenn wir uns heute in einer Zivilisation wähnen, die humanitäre Maßstäbe gesetzt hat und mit internationalen Hilfsorganisationen Gutes auf der gesamten Welt bewirkt: Mitleid bleibe ein Stilmittel, mit dem sich politische, wirtschaftliche oder individuelle Ziele durchsetzen ließen. Wer mit natürlichen Gefühlen argumentiert, macht sich schnell verdächtig.
KATHARINA TEUTSCH
Ute Frevert:
"Vergängliche Gefühle".
Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 96 S., br., 9,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen Natur und Stil: Ute Frevert widmet sich dem Erstarken und Verblassen von Gefühlsdiskursen
Die Historisierung von Gefühlslagen ist längst Konsens in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Selbst die Entdeckung der Spiegelneuronen konnte die Essentialisierung unserer Empfindungen nicht gänzlich etablieren. Tatsächlich scheint es ein evolutionäres Zulaufen auf einfühlende Verhaltensweisen zu geben, die wir mit unseren nächsten evolutionären Verwandten teilen. Darüber hinaus, so Ute Frevert, ist das meiste aber sozialhistorische Verhandlungsmasse.
Zwei Begriffspaare stellt die Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung auf den Prüfstand. Zum einen die Gefühle von Scham und Ehre. Zum anderen jene von Mitleid und Empathie. Während das erste Gefühlsduo sich in einer kulturellen Flaute befinde, erlebe die Empathie, nach ihrer philosophischen Erstentdeckung im achtzehnten Jahrhundert - damals noch als Verpflichtung zum Mitleid, dann zur Brüderlichkeit und schließlich zur Solidarität -, einen zweiten Frühling: Mitgefühl mit Opfern von Naturkatastrophen oder diktatorischen Regimes, utilitaristische Gruppendynamiken im Netz, Zivilcourage und Ehrenämter: ohne Mitgefühl stehe die westliche Welt heute auf verlorenem Posten.
Gefühle, so Ute Frevert, haben einen Ort und eine Zeit. Der Psychiater Allen Frances hat in seiner von Frevert zitierten Streitschrift gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (F.A.Z. vom 13. Mai) darauf hingewiesen, dass heute das Gefühl der Trauer beim Tod eines nahen Angehörigen schon nach wenigen Wochen pathologisiert wird. Man steuert mit verschreibungspflichtigen Medikamenten gegen ihre Symptome an. Es wäre durchaus vorstellbar, dass die Empfindung von Verlust-Trauer eines Tages als "Gefühlspraktik" insofern beseitigt sein wird, als es keinen Raum mehr gibt, diese auszuleben.
Max Weber sah den Zenit des Ehrbegriffs bereits um 1900 überschritten. Außer beim Militär, so Frevert, sei in dieser Hinsicht keine gesteigerte Reizbarkeit mehr zu messen. Wer fühlt sich schon heute noch bei seiner Ehre gepackt? Der Bedeutungsverlust der Ehre legt den Schluss nahe, dass so "natürlichen" Gefühlen wie dem Wunsch nach Satisfaktion ein stark kulturrelativistisches Moment innewohnt.
"Zu einem gesunden und männlichen Charakter", hieß es noch im Brockhaus von 1884, gehöre vor allem ein "reges Mitgefühl". Und einer der größten Naturalisten des Mitleids war im neunzehnten Jahrhundert Richard Wagner. Sein Parsifal ist nicht durch Bildung, sondern "durch Mitleid wissend". Im Nationalsozialismus verband man diese moderne Mitleids-Ethik mit dem herrschenden Rassenwahn. Meyers Lexikon von 1939 beschränkt die Fähigkeit zur Einfühlung auf "Gemeinschaftsgenossen". Ein scheinbar natürliches Gefühl ist offenbar selbst in habitualisierter Form anfällig für Missbrauch. Frevert gibt zu bedenken: Auch wenn wir uns heute in einer Zivilisation wähnen, die humanitäre Maßstäbe gesetzt hat und mit internationalen Hilfsorganisationen Gutes auf der gesamten Welt bewirkt: Mitleid bleibe ein Stilmittel, mit dem sich politische, wirtschaftliche oder individuelle Ziele durchsetzen ließen. Wer mit natürlichen Gefühlen argumentiert, macht sich schnell verdächtig.
KATHARINA TEUTSCH
Ute Frevert:
"Vergängliche Gefühle".
Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 96 S., br., 9,90 [Euro].
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»ein lesenswertes Denkstück« (Martin Ebel, Deutschlandfunk, 04.04.2014) »Die Geschichtlichkeit der Gefühle wird in schöner Anschaulichkeit vor Augen geführt« (Gerhard Sauder, Das achtzehnte Jahrhundert, Jg. 40. Heft 2, 2016)