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Nach »Vergewisserungen« nun ein weiterer Essayband von Bernhard Schlink: Das Thema, das sein literarisches Werk durchzieht, wird hier theoretisch und zugleich anschaulich erörtert. Schuld kann nicht nur einzelne Menschen betreffen, sondern ganze Generationen, nicht nur einzelne Taten, sondern ganze Abschnitte der Geschichte sie kann als Vergangenheitsschuld die Gegenwart belasten. "

Produktbeschreibung
Nach »Vergewisserungen« nun ein weiterer Essayband von Bernhard Schlink: Das Thema, das sein literarisches Werk durchzieht, wird hier theoretisch und zugleich anschaulich erörtert. Schuld kann nicht nur einzelne Menschen betreffen, sondern ganze Generationen, nicht nur einzelne Taten, sondern ganze Abschnitte der Geschichte sie kann als Vergangenheitsschuld die Gegenwart belasten.
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Autorenporträt
Bernhard Schlink, 1944, Jurist, lebt in Berlin und New York. Sein erster Roman ¿Selbs Justiz¿ erschien 1987; sein 1995 veröffentlichter Roman ¿Der Vorleser¿, in über 50 Sprachen übersetzt, mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet und 2009 von Stephen Daldry mit Kate Winslet unter dem Titel ¿The Reader¿ verfilmt, machte ihn weltweit bekannt. Zuletzt erschien von ihm der Roman ¿Das späte Leben¿ (2023).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2008

Täter, die im Regen stehen

Im Haus der Geschichte der Bundesrepublik treffen sich die Generationen: Bernhard Schlink macht in seinem neuen Roman der RAF den Prozess und führt die Parteien am Ende zur Versöhnung.

Von Richard Kämmerlings

Bernhard Schlink, Jurist und Bestseller-Autor hat einen Roman zur Debatte um die Begnadigung der RAF-Terroristen geschrieben, die im vergangenen Frühjahr ihren Höhepunkt erreichte: Während Brigitte Mohnhaupt im März auf Bewährung freigelassen wurde, lehnte der Bundespräsident im Mai das Gnadengesuch Christian Klars ab. Schlink hat beeindruckend schnell gearbeitet; so dicht dran an aktuellen politischen Ereignissen sind Romanciers, selbst so handwerklich routinierte wie Schlink, selten.

Dem Eindruck, dass die deutsche Gegenwartsliteratur ein Problem mit der Gegenwart hat, widerspricht diese Reaktionsgeschwindigkeit allerdings nicht. Denn einerseits geht es bei Schlink natürlich wieder einmal vor allem um die deutsche Vergangenheit, andererseits ist höchst aufschlussreich, wie sich der Erfolgsautor seinem Stoff nähert - nämlich in der Form des Familienromans beziehungsweise seiner ursprünglich aus dem Drama stammenden Unterart des Kammerspiels. Modell: Eine Familienfeier platzt durch verdrängte Schuld, düstere Familiengeheimnisse, Leichen im Weinkeller. Man kennt das etwas aus Thomas Vinterbergs Dogma-Film "Das Fest"; Romane wie John von Düffels "Houwelandt" oder Harriet Köhlers "Ostersonntag" variierten beispielsweise zuletzt das abgenudelte Schema.

Bei Schlink läuft das so: Eine Gruppe von Freunden aus vergangenen radikalen Tagen trifft sich in einem Landhaus irgendwo in Ostdeutschland übers Wochenende zu einer Willkommensfeier für den gerade aus der Haft entlassenen Terroristen Jörg. (Dessen Biographie erinnert an Klar, im Unterschied zu diesem aber ist Jörg vom Bundespräsidenten begnadigt worden, obwohl er sich - wie Klar - in einem Grußwort an einen linksradikalen Kongress unzweideutig zu seinen früheren Zielen bekannte.) Eingeladen hat Jörgs Schwester Christiane, die während all der Jahre nur lockeren Kontakt zu den einstigen Weggefährten hielt, sich aber als Mutterersatz um den Inhaftierten kümmerte. Sie hat das Wochenende als eine Art Seelenschleuse für das neue Leben in Freiheit angelegt, als ein Übergangsritual mit praktischem Nutzwert, haben doch die anderen Gäste den Absprung in die einst verhasste bürgerliche Existenz geschafft: Es kommen unter anderem ein Anwalt, ein Journalist, ein Dentaltechniker und eine Bischöfin - da sollte doch irgendwo eine Zukunftsperspektive oder wenigstens ein Praktikum herausspringen.

Doch von Anfang an gerät die gutgemeinte Resozialisierungsmaßnahme auf die schiefe Bahn. Jörg besteht darauf, dass auch der politische Aktivist Marko, Veranstalter jenes für seine Begnadigung beinahe fatalen Kongresses, hinzugeladen wird, der prompt wüste Reden über Terrorbündnisse mit Islamisten schwingt und Jörg als Galionsfigur für die Revolution zurückgewinnen will. Umgekehrt wird der alles andere als reuige Jörg umgehend für seine Untaten ins Gebet genommen, vor allem der Dentaltechniker bohrt hartnäckig nach: "Ich werde nie meine erste Brücke vergessen; ich habe in keine spätere Arbeit so viel Zeit und Liebe gesteckt und an ihr was fürs Leben gelernt. Wie war das mit dem ersten Mord, Jörg?" Und dann gibt es noch die junge, prominentengeile Tochter des Dentaltechnikers, die sich des Nachts über Jörg hermachen will und damit den nächsten Eklat heraufbeschwört: "Du Schlappschwanz. Ficken ist kämpfen - war das nicht euer Motto? Kämpfen ist Ficken? Was guckst du mir ständig auf den Busen, wenn du's nicht bringst?" So ziehen und zerren fast alle auf ihre Weise am Frischentlassenen; die Freiheit rächt sich auf ungeahnte Weise. Nach der Gnade kommt das dicke Ende erst noch.

Vollends zum Familiendrama wird das "Wochenende" durch das plötzliche Auftauchen von Jörgs Sohn Ferdinand, der nach Jahren völliger Funkstille zum Generalangriff auf den Vater und die ganze Generation ausholt: "Du bist zur Wahrheit und zur Trauer so unfähig, wie die Nazis es waren. Du bist keinen Deut besser - nicht, als du Leute ermordet hast, die dir nichts getan haben, und nicht, als du danach nicht begriffen hast, was du getan hast. Ihr habt euch über eure Elterngeneration aufgeregt, die Mörder-Generation, aber ihr seid genauso geworden."

Der Wechsel vom "du" zum "ihr" ist symptomatisch. Die Weitergabe der Schuld der Elterngeneration als "Fluch" an die Kinder ist ein zentraler Gedanke in Schlinks gesamtem Werk. Schon 1988 schrieb er in seinem nun wiederveröffentlichten Essay über "Kollektivschuld": "Von dem Fluch der Kinder, zu dem die Schuld der Eltern wird, befreit kein Richter, kein Gerichtsverfahren und kein Urteilsspruch." Die Romanform ist so eine Konsequenz aus Schlinks Sicht der deutschen Vergangenheit als eines mythischen Schuldzusammenhangs, in dem die Kinder wie in der antiken Tragödie dazu verurteilt scheinen, die Schuld ihrer Eltern zu wiederholen. Und tatsächlich ist Ferdinand (der nicht von ungefähr wie der Feuerkopf in Schillers "Kabale und Liebe" heißt) mit seinem gnadenlosen Furor weiterhin im Zirkel ideologischer Verblendung gefangen. Gibt es kein Entrinnen?

Schafft zwei, drei, viele Eimerketten!

Schlink ist ein schwieriger Fall. Er ist einer unserer scharfsinnigsten Schriftsteller, zugleich tragen seine erzählerischen Arbeiten deutliche Züge gehobener Unterhaltungsliteratur. Klischeehafte Beschreibungen (es "hüpft" der Busen, es "strahlt" der blaue Himmel, es wird "heftig geschnaubt" und "Ärger heruntergeschluckt"), steife Dialoge ("Wir brauchen dich. Wir wissen nicht, wie wir gegen das System kämpfen sollen") und überhaupt allzu simple Charakterzeichnungen laden dazu ein, den Roman auch inhaltlich leicht zu nehmen. Doch zielt Schlink bewusst auf den Thesenroman, dessen Handlung und Figuren nur Mittel zum Zweck sind. Worauf läuft es nun hinaus?

In seinem Essay "Vergeben und Versöhnen", interessanterweise entstanden für einen Vortrag in Johannesburg, hat Schlink die Blaupause für seinen Roman geliefert. Im Umgang mit einer Schuld habe die Allgemeinheit zwei Möglichkeiten: Verurteilen oder Vergessen. Letzteres entspricht der Amnestie durch das Staatsoberhaupt. Vergeben aber könne nur das Opfer, im Roman also der von seinem Vater verlassene Sohn, der außerdem noch - reichlich anmaßend - für die Hinterbliebenen der RAF-Mordopfer sprechen will. Doch es gibt noch eine weitere Möglichkeit, auf die dieser Thesenroman schließlich hinausläuft: die Versöhnung. Mit ihr "wird nicht wie mit der Vergebung die Last der Schuld vom Schuldigen genommen, sie wird lediglich ein bisschen leichter gemacht. An der Schuld soll das weitere Zusammenleben nicht scheitern."

Im Roman verleiht Schlink diesem Programm irritierenderweise eine heilsgeschichtliche Dimension. Schon der Zeitablauf von Freitag bis Sonntag entspricht dem Ostergeschehen. Wenn Jörg "an der Breitseite der Tafel" Platz nimmt, ist das Abendmahl nicht weit. Die ursprünglich zehn Anwesenden werden durch Marko und Ferdinand ergänzt; mit dem einst auf mysteriöse Weise verschwundenen Freund Jan, einer anwesend-abwesenden Parallelfigur zu Jörg, ist das Setting des Heilands mit zwölf Aposteln komplett. Zumal sich dann auch noch herausstellt, dass Jörg unheilbar an Prostatakrebs erkrankt ist (daher auch die Abweisung des flotten Dentaltechnikerfrüchtchens, das nun mit dem zornigen Sohn vorliebnimmt). Die Judasrolle schließlich spielt Jörgs fürsorgliche Schwester, die - ein weiteres enthülltes Familiengeheimnis - seinerzeit den Bruder an die Polizei verriet, um Schlimmeres zu verhüten. Dass schließlich sogar die Bischöfin, die die eingefleischten Atheisten zur Andacht am Sonntagmorgen zusammenbringt, eine Abtreibung auf dem Gewissen hat, ist dann doch zu viel des Bösen.

"Die Beteiligten einer Versöhnung", so schreibt Schlink in seinem Essay, "können aber nicht nur Täter und Opfer sein, sondern auch in die Täterschuld und das Opferschicksal verstrickte Kinder und Enkel (...), und sogar Freunde und Liebende, die miteinander streiten, einander vielleicht nur versehentlich verletzt oder verfehlt und verloren haben - einfach alle, deren Beziehung zueinander beschädigt ist." Und das trifft tatsächlich auf das komplette Romanpersonal zu.

Dies läuft auf zweierlei hinaus: Erinnerungspolitisch auf eine höchst fragwürdige Nivellierung, wo der Mord gleichrangig neben dem Liebesverrat steht. Und erzählerisch auf den Kitsch eines ökumenischen Bußgottesdienstes, bei dem sich alle an den Händen halten. Nachdem es in Strömen gegossen hat ("Denn so fühlt der Regen sich an: wie eine Sintflut, die erst enden wird, wenn alles unter Wasser steht"), ruft die Hausbesitzerin vor der allgemeinen Abfahrt zum Kellertrocknen auf. "Alle stellten sich ein"; Freund und Feind, Vater und Sohn, Täter und Opfer bilden eine Eimerkette gegen die himmlische Kollektivstrafe, die die sündige Welt zu verschlingen droht. Schlinks "Wochenende" ist ein erinnerungspolitisches Plädoyer in Romanform, dessen literarische Qualität hinter seinem Reiz als Gedankenspiel leider deutlich zurückbleibt.

- Bernhard Schlink: "Vergangenheitsschuld". Beiträge zu einem deutschen Thema. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 192 S., geb., 19,90 [Euro].

- Bernhard Schlink: "Das Wochenende". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2008. 242 S., geb., 18,90 [Euro].

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»Bernhard Schlink gehört zu den größten Begabungen der deutschen Gegenwartsliteratur. Er ist ein einfühlsamer, scharf beobachtender und überaus intelligenter Erzähler. Seine Prosa ist klar, präzise und von schöner Eleganz.« Michael Kluger / Frankfurter Neue Presse Frankfurter Neue Presse