Rund 10.000 Automobilfabrikate gab es seit 1883. Dieses Buch gedenkt mit fachkundigem Text und historischen wie neueren Bildern 300 längst oder auch erst in jüngster Zeit untergegangenen Pw-Marken. Zu ihnen zählen einst prestigevolle Namen wie Delage, Duesenberg, Hispano-Suiza, Horch, Isotta Fraschini, Maybach, Minerva, Napier, Packard oder Talbot, weit verbreitete Gebrauchswagen wie Austin, Borgward, DKW, Goggomobil, Hillman, Morris, NSU, Pontiac, Rover oder Simca, begehrte Sportwagenmarken wie Alpine, Austin-Healey, Bitter, Bizzarrini, De Tomaso, Iso, Matra, Pegaso, Triumph oder Wiesmann. Hinzu kommen erstaunliche Aussenseiterkonstruktionen, an die sich selbst Kenner kaum erinnern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2016Vergessene Vielfalt
Wenn sich der Nebel der Automobilgeschichte lichtet
Sein erstes Auto vergisst man(n) nicht. In unserem Fall war es ein Fiat Topolino 500 B, Baujahr 1948, aus vierter Hand, Kilometerstand unbekannt. Den Ausschlag für den Spontankauf an einer Tankstelle im Hessischen Ried gaben die stümperhafte Zweitlackierung in Feuerwehrrot sowie der vermeintlich sportliche Sound, generiert von einem durchgerosteten Abgaskrümmer. Voller Besitzerstolz machten wir uns mit unserem ersten eigenen Automobil auf den Weg zum Studienort Aachen. Die Jungfernfahrt endete freilich nach knapp zwanzig Kilometer, noch vor dem Frankfurter Kreuz, wo der Topolino mit abgerissenem Pleuel auf dem Standstreifen verröchelte. Ein Freund organisierte später den Abtransport zum nächsten Schrotthändler, der ihm dreißig Mark in die Hand drückte. Das war's.
Jedes Auto hinterlässt Spuren auf unserer körpereigenen Festplatte in Form von Erinnerungen und Emotionen. Sobald man es wiedersieht, sei es live oder als Foto, ploppen vor unserem inneren Auge selbst nach Jahrzehnten modellspezifische Details auf: der ständig reißende Bowdenzug-Choke auf dem Mitteltunnel des Fiat 500 Nuova, der Dreiwege-Benzinhahn im Fußraum des Brezel-Käfers, die klaviertastenähnliche Schalterleiste im Borgward Isabella Coupé, der hypersensitive Fußbremsknopf im Citroën DS oder der unverwechselbare Sound des Doppelnockers in Alfa Romeos Giulia.
Werden wir solche liebgewonnenen Reminiszenzen künftig vergessen, wenn wir in lautlosen Elektro- oder Brennstoffzellenautos durch die Lande gleiten? In autonomen, von Minicomputern, Radar, Lidar, Kameras und Sensoren gesteuerten, aber seelenlosen Vehikeln, die (hoffentlich) perfekt funktionieren, jedoch null Emotionen auslösen? Rein prophylaktisch sollten sich in der Wolle gefärbte Autoenthusiasten schon mal das kürzlich erschienene Alterswerk "Vergessene Autos" von Roger Gloor in den Bücherschrank stellen. In ihm setzt der Berner Fachjournalist und Automobilhistoriker 300 untergegangenen Automarken - vom 19. Jahrhundert bis ins neue Millennium - ein literarisches Denkmal.
Auf 352 Seiten rückt Gloor neben bekannten Marken wie DKW, Goggomobil, Studebaker oder Wolga nicht zuletzt weitgehend unbekannte Fahrzeuge in den Fokus, die sich durch wegweisende Konstruktionen, ungewöhnliches Design oder skurrile Details von den Fließbandprodukten ihrer Zeit abhoben. So wie beispielsweise der von 1906 bis 1910 in der Schweiz gebaute Ajax, der den Abgasdruck zur Benzinförderung nutzte und auf Wunsch mit einem Trittbrett ausgestattet wurde, das beim Betreten den Motor startete. Und dieser besaß, auch ein Novum, wassergekühlte Ventilsitze.
Selbst Autokenner reiben sich immer wieder verdutzt die Augen angesichts der Fülle unbekannter Details, die der Autor genüsslich vor ihnen ausbreitet. Sein Werk spannt den Bogen von den Dampf- und Elektromobilen der Frühzeit über skurrile Konstruktionen wie den luftgekühlten V8-Heckmotor im Tatra T 87 oder die in Gegenrichtung installierte Rücksitzbank im Zündapp Janus bis zu wegweisenden Innovationen wie der ersten Benzindirekteinspritzung von Bosch im Gutbrod Superior von 1952.
Neben Bonsai-Autos für minimale Mobilität wie dem deutschen Goggomobil, dem italienischen Zagato Zele von 1973 mit Elektro-Mittelmotor oder dem Schweizer Rapid aus der gleichnamigen Rasenmäherfabrik porträtiert Gloor extravagante Kreationen wie den österreichischen Rumpler-Tropfenwagen von 1921 mit seinem sensationellen Cw-Wert von 0,28 oder das nur 250 Kilogramm wiegende Propellerauto Leyat Hélica aus Frankreich bis hin zu exklusiven Hochleistungssportwagen der Neuzeit wie den italienischen Cizeta Moroder mit 560 PS leistendem V16-Motor oder dem 500 PS starken Vector M 12 aus Kalifornien.
In seinem Vorwort skizziert der Autor eine für den heutigen Leser schwer vorstellbare Vielfalt von Automarken, die längst im Nebel der Geschichte verschwunden sind. Rund 10 000 dürften es bis heute gewesen sein. So gab es 1899 in Frankreich fast 500 Autohersteller, 190 in den Vereinigten Staaten, 110 in England und 80 in Deutschland. Die meisten scheiterten nach wenigen Jahren, entweder aus Kapitalmangel oder - wie 1948 der revolutionäre amerikanische Tucker - an Repressalien der etablierten Wettbewerber gegen unverzichtbare Zulieferer. Roger Gloor ist mit seinem neuen Werk ein Markenlexikon der Extraklasse gelungen, eine Fundgrube für Enthusiasten, die auch gern mal über den Tellerrand des H-Kennzeichens hinausblicken.
Das 352 Seiten starke Buch "Vergessene Autos" von Roger Gloor mit 160 Schwarzweiß- und 155 Farbfotos erschien im Motorbuch-Verlag und ist in Deutschland für 69 Euro erhältlich.
HANS W. MAYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn sich der Nebel der Automobilgeschichte lichtet
Sein erstes Auto vergisst man(n) nicht. In unserem Fall war es ein Fiat Topolino 500 B, Baujahr 1948, aus vierter Hand, Kilometerstand unbekannt. Den Ausschlag für den Spontankauf an einer Tankstelle im Hessischen Ried gaben die stümperhafte Zweitlackierung in Feuerwehrrot sowie der vermeintlich sportliche Sound, generiert von einem durchgerosteten Abgaskrümmer. Voller Besitzerstolz machten wir uns mit unserem ersten eigenen Automobil auf den Weg zum Studienort Aachen. Die Jungfernfahrt endete freilich nach knapp zwanzig Kilometer, noch vor dem Frankfurter Kreuz, wo der Topolino mit abgerissenem Pleuel auf dem Standstreifen verröchelte. Ein Freund organisierte später den Abtransport zum nächsten Schrotthändler, der ihm dreißig Mark in die Hand drückte. Das war's.
Jedes Auto hinterlässt Spuren auf unserer körpereigenen Festplatte in Form von Erinnerungen und Emotionen. Sobald man es wiedersieht, sei es live oder als Foto, ploppen vor unserem inneren Auge selbst nach Jahrzehnten modellspezifische Details auf: der ständig reißende Bowdenzug-Choke auf dem Mitteltunnel des Fiat 500 Nuova, der Dreiwege-Benzinhahn im Fußraum des Brezel-Käfers, die klaviertastenähnliche Schalterleiste im Borgward Isabella Coupé, der hypersensitive Fußbremsknopf im Citroën DS oder der unverwechselbare Sound des Doppelnockers in Alfa Romeos Giulia.
Werden wir solche liebgewonnenen Reminiszenzen künftig vergessen, wenn wir in lautlosen Elektro- oder Brennstoffzellenautos durch die Lande gleiten? In autonomen, von Minicomputern, Radar, Lidar, Kameras und Sensoren gesteuerten, aber seelenlosen Vehikeln, die (hoffentlich) perfekt funktionieren, jedoch null Emotionen auslösen? Rein prophylaktisch sollten sich in der Wolle gefärbte Autoenthusiasten schon mal das kürzlich erschienene Alterswerk "Vergessene Autos" von Roger Gloor in den Bücherschrank stellen. In ihm setzt der Berner Fachjournalist und Automobilhistoriker 300 untergegangenen Automarken - vom 19. Jahrhundert bis ins neue Millennium - ein literarisches Denkmal.
Auf 352 Seiten rückt Gloor neben bekannten Marken wie DKW, Goggomobil, Studebaker oder Wolga nicht zuletzt weitgehend unbekannte Fahrzeuge in den Fokus, die sich durch wegweisende Konstruktionen, ungewöhnliches Design oder skurrile Details von den Fließbandprodukten ihrer Zeit abhoben. So wie beispielsweise der von 1906 bis 1910 in der Schweiz gebaute Ajax, der den Abgasdruck zur Benzinförderung nutzte und auf Wunsch mit einem Trittbrett ausgestattet wurde, das beim Betreten den Motor startete. Und dieser besaß, auch ein Novum, wassergekühlte Ventilsitze.
Selbst Autokenner reiben sich immer wieder verdutzt die Augen angesichts der Fülle unbekannter Details, die der Autor genüsslich vor ihnen ausbreitet. Sein Werk spannt den Bogen von den Dampf- und Elektromobilen der Frühzeit über skurrile Konstruktionen wie den luftgekühlten V8-Heckmotor im Tatra T 87 oder die in Gegenrichtung installierte Rücksitzbank im Zündapp Janus bis zu wegweisenden Innovationen wie der ersten Benzindirekteinspritzung von Bosch im Gutbrod Superior von 1952.
Neben Bonsai-Autos für minimale Mobilität wie dem deutschen Goggomobil, dem italienischen Zagato Zele von 1973 mit Elektro-Mittelmotor oder dem Schweizer Rapid aus der gleichnamigen Rasenmäherfabrik porträtiert Gloor extravagante Kreationen wie den österreichischen Rumpler-Tropfenwagen von 1921 mit seinem sensationellen Cw-Wert von 0,28 oder das nur 250 Kilogramm wiegende Propellerauto Leyat Hélica aus Frankreich bis hin zu exklusiven Hochleistungssportwagen der Neuzeit wie den italienischen Cizeta Moroder mit 560 PS leistendem V16-Motor oder dem 500 PS starken Vector M 12 aus Kalifornien.
In seinem Vorwort skizziert der Autor eine für den heutigen Leser schwer vorstellbare Vielfalt von Automarken, die längst im Nebel der Geschichte verschwunden sind. Rund 10 000 dürften es bis heute gewesen sein. So gab es 1899 in Frankreich fast 500 Autohersteller, 190 in den Vereinigten Staaten, 110 in England und 80 in Deutschland. Die meisten scheiterten nach wenigen Jahren, entweder aus Kapitalmangel oder - wie 1948 der revolutionäre amerikanische Tucker - an Repressalien der etablierten Wettbewerber gegen unverzichtbare Zulieferer. Roger Gloor ist mit seinem neuen Werk ein Markenlexikon der Extraklasse gelungen, eine Fundgrube für Enthusiasten, die auch gern mal über den Tellerrand des H-Kennzeichens hinausblicken.
Das 352 Seiten starke Buch "Vergessene Autos" von Roger Gloor mit 160 Schwarzweiß- und 155 Farbfotos erschien im Motorbuch-Verlag und ist in Deutschland für 69 Euro erhältlich.
HANS W. MAYER
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