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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.1998

Wenn zwei sich streiten, prüft sich der Dritte
Alexandre Koyré lehrt mit Platon die Kunst, recht zu behalten

Platons politischer Philosophie ist über die Zeiten hinweg eine einzigartige Rezeption zuteil geworden. Immer wieder, und zumal in unserem Jahrhundert, hat sie die Interpreten zu aktuellen Bezugnahmen verleitet. Es ist bemerkenswert, daß dabei bedeutende Denker in einer ähnlichen Situation zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen konnten. Während des Zweiten Weltkriegs in Neuseeland schrieb Karl Popper seine Abrechnung mit Platon, den er zum Feind der offenen Gesellschaft und sogar zum geistigen Ahnherrn des Totalitarismus erklärte. Er bestätigte damit ex contrario die nicht seltenen Versuche deutscher Gelehrter, Platon für den nationalsozialistischen Staat zu vereinnahmen.

Zur gleichen Zeit hielt in New York ein anderer Flüchtling aus Europa, der französische Wissenschaftshistoriker und Philosoph Alexandre Koyré (1892 bis 1964), Seminare ab, in denen er im Rückgang auf Platon die Bildung der politischen Elite zur wichtigsten philosophischen Aufgabe erklärte: "Philosophieren und Politik machen ist eines, und den Sophisten zu bekämpfen bedeutet zugleich, das Gemeinwissen gegen die Tyrannis zu verteidigen." Koyrés "Introduction à la lecture de Platon" wurde erstmals 1945 in New York publiziert; jetzt ist das Büchlein in flüssiger Übersetzung auf deutsch erschienen, leider unter dem läppischen Titel "Vergnügen bei Platon". Das Nachwort von Horst Günther enthält neben unnötiger Polemik auch einige Informationen zum Autor.

Eine Einführung in die Platon-Lektüre muß die Frage erörtern, warum der Philosoph Dialoge und nicht Reden oder Abhandlungen schrieb. Koyré tut dies sehr überzeugend in seinem Eingangskapitel; außerdem vergißt er seine eigenen Einsichten nicht: bei der Besprechung exemplarischer Dialoge (Menon, Protagoras, Theaitetos, Politeia) behält er die Dramaturgie der Darstellung stets im Auge. So wird deutlich, daß der Dialog die eigentliche Form der philosophischen Untersuchung ist, daß er stets eine "Lektion in Methode" vermittelt. Platon führt durch die Gespräche des Sokrates vor, was Denken seinem Wesen nach ist: "ein Dialog der Seele mit sich selbst". Die performative Philosophie fordert den Leser heraus. Er muß sich als "dritte Person" an dem Dialog beteiligen, mit dem Autor zusammenarbeiten, seine Absichten verstehen und die impliziten Schlußfolgerungen des Dialoges selbst ziehen. Das ist nicht jedem gegeben, und so betrachtet Koyré den Dialog auch als Probe, an der sich die Geister scheiden.

Doch reicht der bloße Nachvollzug nicht aus, wenn der Leser tatsächlich in den Dialog eintreten soll. Kritik und Widerspruch sind notwendig, und es gehört zu den größten Vorteilen der Dialogform, daß sie ständig dazu herausfordert. Selbst wenn man sich auf die Ebene des Sokrates begibt, kann man Fehlschlüsse aufdecken, die Platon zweifellos meist mit Absicht eingebaut hat, um dem aufmerksamen Leser Probleme vorzuführen. Außerdem lohnt es sich, den Gesprächspartnern beizuspringen, um der Dominanz des Sokrates entgegenzuwirken. Dabei kann man sehr wohl über den Dialog hinausgehen, denn Platons Dramaturgie ist oft polemisch und läßt besonders die sophistischen Gegenspieler des Sokrates dümmer ausschauen, als sie tatsächlich waren.

Koyré begreift den Gegensatz und nimmt ihm nichts von seiner Schärfe. Die Sophisten stehen ungeachtet ihrer verbalen Radikalität auf dem Boden der konventionellen Moral. Sie streben keine Erneuerung der Gesellschaft und ihrer Wertvorstellungen an. Vielmehr suchen sie den Erfolg - und das heißt in den Begriffen des "gesunden Menschenverstandes" vor allem Macht und Reichtum -, der bei ihren herausragenden Vertretern auf einer kühlen Analyse des Gegebenen beruht. Dagegen beharrt Sokrates auf seiner Frage nach dem Wesen der Werte. Wir sind mit einer für Platons Dialoge typischen Konstellation konfrontiert. Sokrates versucht die Unterredung auf eine theoretische Ebene zu heben, während seine Gesprächspartner ihre praktische Geschicklichkeit und rhetorische Brillanz zur Schau stellen wollen. Sie verstehen Sokrates nicht, wie Koyré nicht müde wird zu betonen. Doch liegt hier nicht unbedingt eine intellektuelle Minderwertigkeit vor. Von Protagoras und Gorgias wissen wir, daß sie die Möglichkeit theoretischen Wissens grundsätzlich bezweifelten. Koyré räumt zwar ein, daß Protagoras eine "ernstzunehmende Lehre" hatte, aber er zeigt es nicht. Statt abfällig von "Soziologismus" zu sprechen, hätte er besser eine klare Alternative entwickelt: Philosophie oder Politik, Theorie oder Praxis.

Doch ist es gerade das Anliegen von Koyré, den allumfassenden Anspruch der Philosophie mit Platon zu verteidigen. Die sokratische Gleichsetzung von Wissen und Macht, Erkenntnis und Tugend, Intelligenz und Willen, die den zeitgenössischen Gesprächspartnern nicht nur paradox, sondern unverständlich erschien, macht sich der Autor emphatisch zu eigen: "Die Erkenntnis verlängert und vollendet sich in der Handlung. Die Theorie beherrscht die Praxis." Folgerichtig überschätzt Koyré die politische Wirksamkeit Platons und der Philosophie insgesamt. Trotzdem ist diese Einführung in die Platon-Lektüre sehr zu empfehlen. Sie gibt grundlegende Hinweise, enthält anregende Beobachtungen und ist schwungvoll geschrieben. Der Autor hat die Intentionen Platons zweifellos gut getroffen und sich insofern mit diesem identifiziert. Daß es ihm in einer unruhigen Zeit auch um seine Selbstvergewisserung ging, schadet dem Buch gewiß nicht, auch wenn wir dem hochgemuten Bildungsoptimismus nicht mehr folgen können. KAI TRAMPEDACH

Alexandre Koyré: "Vergnügen bei Platon". Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Horst Günther. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1997. 159 S., br., 16,80 DM.

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