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Gunzenhausen in Mittelfranken - ein Ort wie jeder andere?
Ein spektakulärer Fotofund aus dem Jahr 2003 entfaltet exemplarisch das düstere Panorama der Machtetablierung der NSDAP in der Provinz. 2500 Fotografien aus den Jahren 1933 bis 1949 zeigen die ambitionierte Formierung und den anschließenden Zerfall einer kleinstädtischen »Volksgemeinschaft«. In acht Essays mit rund 280 ausgewählten Fotos vermitteln die Beiträger_innen ein bewegendes Bild der kleinstädtischen Täter, Opfer und Zuschauer.

Produktbeschreibung
Gunzenhausen in Mittelfranken - ein Ort wie jeder andere?

Ein spektakulärer Fotofund aus dem Jahr 2003 entfaltet exemplarisch das düstere Panorama der Machtetablierung der NSDAP in der Provinz. 2500 Fotografien aus den Jahren 1933 bis 1949 zeigen die ambitionierte Formierung und den anschließenden Zerfall einer kleinstädtischen »Volksgemeinschaft«. In acht Essays mit rund 280 ausgewählten Fotos vermitteln die Beiträger_innen ein bewegendes Bild der kleinstädtischen Täter, Opfer und Zuschauer.
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Autorenporträt
Ulrike Jureit, Dr. phil., ist Historikerin in der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur; assoziiert am Hamburger Institut für Sozialforschung. Sie ist Gutachterin für die VW-Stiftung und war von April 2000 bis April 2004 Leiterin des Forschungs- und Ausstellungsprojekts »Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944« am Hamburger Institut für Sozialforschung.

Bettina Greiner, Dr. phil., Historikerin, Leiterin des Willy-Brandt-Hauses in Lübeck.

Karin Wieland studierte Politische Theorie und Ideengeschichte und lebt in Berlin.

Thomas Medicus, Dr. phil., geboren in Gunzenhausen, arbeitet er als freier Autor und Publizist in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.09.2016

Die totgeschwiegene Vergangenheit
Der Autor Thomas Medicus arbeitet in einem Buch den Blutpalmsonntag in Gunzenhausen auf.
Schon früh wurde aus dem Ort eine Nazi-Hochburg – auch unter Mitwirkung protestantischer Institutionen
VON OLAF PRZYBILLA
Gunzenhausen – Der ehemalige Bürgermeister von Neustadt an der Aisch, Wolfgang Mück, hat kürzlich erzählt, wie das war mit dem nationalsozialistischen Erbe im ländlich-protestantischen Westmittelfranken. Wie zwar alle wussten, dass der Landstrich deutlich früher den Nazis anheimgefallen ist als die meisten anderen in der Weimarer Republik. Dass dies aber noch Jahrzehnte danach kaum einer hören, geschweige denn aufgeschrieben sehen wollte. Mück hat trotzdem eine Monografie über die sehr frühe Nazi-Hochburg Neustadt, seine Heimatstadt, geschrieben, auch wenn es an Warnungen nicht mangelte. Es scheint so zu sein, als breche da gerade etwas auf im westlichen Mittelfranken, 70 Jahre nach dem Nürnberger Urteil gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher.
  Die Geschichte des Autors Thomas Medicus, 63, ähnelt in nicht unwesentlichen Teilen der von Mück. Auch Medicus ist in Westmittelfranken geboren, in Gunzenhausen, auch er hat das eisige Schweigen über die Vergangenheit erlebt, auch er ist später nach Berlin umgezogen und legt jetzt ein Buch vor, das dokumentiert, wie früh der braune Mob in der Kleinstadt wütete, unter Mithilfe protestantischer Würdenträger. Bei der letzten freien Reichstagswahl 1933 kamen die Nazis in Gunzenhausen auf 67,1 Prozent, 23 Prozentpunkte mehr als im Reichsdurchschnitt. Schon im April 1933 wurde unter reger Anteilnahme der Stadtbevölkerung das sogenannte Hitlerdenkmal eingeweiht, das erste seiner Art in Deutschland. Und bereits im März 1934 – viereinhalb Jahre also vor der Reichspogromnacht – kam es in Gunzenhausen zu einem Exzess offenbar angestauter antisemitischer Ressentiments.
  Der sogenannte Blutpalmsonntag gilt in dieser Phase des NS-Regimes als einzigartig drastische Hetzjagd. Nach unterschiedlichen Schätzungen nahmen zwischen 700 und 1500 Personen daran teil, bis in die Abendstunden zog der Mob marodierend durch Gassen, drang in Häuser ein, zerstörte Möbel, misshandelte Bewohner. Zwei Menschen kamen dabei ums Leben: Der 30-jährige Sozialdemokrat Jakob Rosenfelder wurde erhängt in einem Schuppen gefunden, der 65-jährige Max Rosenau erstach sich aus Angst vor eindringenden Hetzjägern. Der Prozess gegen den Mob geriet zur Farce: Die Mehrheit der SA-Männer wurde wegen Landfriedensbruchs zu niedrigen Gefängnisstrafen verurteilt.
  Medicus lebte bis zum Abitur in seiner Heimatstadt, 1972 verließ er sie. Vom Blutpalmsonntag hatte er bis zu der Zeit kein Wort gehört. Darauf gestoßen ist Medicus erst 20 Jahre später, beim Lesen eines Buches von W. G. Sebald. Medicus war zu der Zeit Redakteur beim Tagesspiegel in Berlin. „Als ich die Passage las, in der es um die NS-Umtriebe in Gunzenhausen geht, dachte ich, mich trifft der Schlag“, erzählt er. Das war immerhin seine Stadt, in der er aufgewachsen ist. Und trotzdem hatte er nie davon gehört. „So was springt einen an wie ein bissiger Hund“, sagt Medicus.
  Als ihm ein Archivar vor drei Jahren die Sammlung eines Foto-Studios aus Gunzenhausen auf den Tisch legte, folgte der zweite Schock. Und der Beschluss, mehr wissen zu wollen. Das Atelier Biella hatte die NS-Machtetablierung in Gunzenhausen akribisch dokumentiert, auf 2500 Fotos sind „Volksgenossen“ in Parteiuniform ebenso abgebildet wie Zwangsarbeiter und Menschen, die Biella in einer „Judenkartei“ archivierte. Medicus kennt alle Schauplätze auf den Fotos, einschließlich des Gebäudes, in dem er zur Schule gegangen ist. Dieses NS-Panorama hätte ihn fast in einen Zustand des Taumelns versetzt, sagt er.
  Vor allem die Bilder von der „Hensoltshöhe“. Das oberhalb der Stadt an einem bewaldeten Höhenzug liegende Erholungshaus hatte sich diakonischen Tätigkeiten verschrieben, im Zeichen des Pietismus. Unter der Leitung des Hausvaters, des Pfarrers Ernst Keupp, ging das Heim aber auch früh schon ein Bündnis mit den lokalen NSDAP-Führern ein. Das Gruppenbild aus dem Atelier Biella mit dem „Frankenführer“ Julius Streicher stehe geradezu exemplarisch für den Abschluss der lokalen NS-Machtübernahme, sagt Medicus: „Als Zeugnis einer protestantisch-pietistischen-völkischen Allianz“, die das geistige Klima in der Kleinstadt fortan prägte und dominierte. Entstanden ist es bereits im Oktober 1934, Streicher wurde von Spalier stehenden Diakonissinnen triumphal begrüßt. Nach dem Krieg musste sich Keupp, der Hauspfarrer des Heims, vor einem Spruchkammergericht verantworten, er starb während des Verfahrens. In Gunzenhausen begann die Zeit des Schweigens.  
Thomas Medicus (Hg.), Verhängnisvoller Wandel. Ansichten aus der Provinz 1933-1949. Mit Beiträgen von acht weiteren Autoren. Hamburg 2016.
Der Blutpalmsonntag von 1934
gilt als einzigartig drastische
Hetzjagd in dieser Zeit
Unter Diakonissen: Im Oktober 1934 wurde der sogenannte „Frankenführer“ Julius Streicher (Bildmitte unten) im Diakonissenmutterhaus Hensoltshöhe empfangen. Das Bild zeigt, wie eng der Kontakt von Nazi-Größen und kirchlichen Einrichtungen schon zu Beginn der NS-Zeit in Gunzenhausen war. FotoS: Stadtarchiv Gunzenhausen
Das Foto-Atelier Biella dokumentierte die ganze Breite des Lebens in der Kleinstadt. Auch im Zentralschulhaus von Gunzenhausen hingen Hitler- und Streicherporträts.
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