Produktdetails
- Verlag: Tropen Verlag
- ISBN-13: 9783932170546
- ISBN-10: 3932170547
- Artikelnr.: 10637153
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.09.2002Zwangsjacke wie Hose
Vermischtes: Thomas Raabs Debüt erforscht das A und O der Seele
Der Weg in die Moderne kennt eine Abkürzung. Wenn Franz Kafka im "Schloß" seinen Landvermesser nur "K." nennt - sein Prozeßangeklagter hatte immerhin noch einen Vornamen -, ist damit ein Grad von Verallgemeinerung erreicht, der dieses absurde Schicksal zur Sache des modernen Menschen überhaupt macht. Das Verfahren der Anonymisierung stammt ursprünglich nicht aus der Literatur, sondern aus dem Journalismus. Eine Meldung im "Vermischten" war denn auch der authentische Fall wert, den Thomas Raab seinem Debütroman "Verhalten" zugrunde legt. Eine O genannte Frau wirft nach der Trennung von ihrem Mann A, einem bekannten Wiener Psychiater, ihre beiden Kinder aus dem Küchenfenster im vierten Stock und begeht anschließend Selbstmord. "Für eine Reportage in einem Wochenblatt wird's nicht gereicht haben." Für einen Roman dagegen schon.
Raab wurde 1968 in Graz geboren, er lebt als Kognitionsforscher, Schriftsteller und Übersetzer in Wien. Mit diesen Orten ist zugleich das Koordinatensystem bezeichnet, in dem sich "Verhalten" bewegt. Urszenen, wohin man blickt: Graz, das ist die Wiege der österreichischen experimentellen Literatur, Wien die Bühne, auf der das Drama moderner Seelenforschung erstaufgeführt und seitdem immer wieder aufgenommen worden ist. Nach Raabs Buch handelt es sich dabei um eine Tragödie, in der Individualität und ein Allgemeines, Menschen und Theorien aufeinanderprallen. Wer da unter die Räder kommt, ist klar.
"Es ist ein Tag im Herbst oder im Oktober in einer Stadt, die genau jetzt Wien genannt wird": Man kann den ersten Teil des Romans, in dem die Wochen nach der Trennung von A und O erzählt werden, als eine Parodie auf die Sprache der experimentellen Psychologie und Verhaltensforschung lesen, in der Säuglingssterblichkeit, Gesamtfruchtbarkeitsrate oder die Luftfeuchtigkeit die Experimentalanordnung definieren, in der das fatale Scheitern einer Beziehung in wissenschaftlicher Kühle beschrieben wird. Vorgeführt wird eine konsequente Außensicht, eine Beschränkung auf das Beobachtbare nach dem Muster des Behaviourismus. Interessant ist der ständige Wechsel der Beschreibungsdichte, bildtechnisch gesprochen: der Auflösung, etwa so, als würde man bei einem Objektiv ständig die Brennweite ändern.
So liest man abwechselnd von Dingen, die bis zur Banalität allgemein oder sinnlos spezifiziert sind. Ein klärendes Gespräch zwischen den Ehepartnern etwa bleibt reine Phrasendrescherei, in die Raab konsequenterweise als Kaffeehausmusik Popsongs montiert: "Es haben halt alle Gefühle, sagt O, da kann man nichts machen. Davon lebe ich, sagt A, daß man da nichts machen kann. Oh, sagt O, oh." Andererseits erfährt man, daß A, der sich eigentlich als Künstler versteht, für seinen Kugelschreiber "im Papiergeschäft auf dem Fleischmarkt" 149 Schilling bezahlt hat und im Büro während seiner schriftstellerischen Versuche "Scotch der Marke Johnny Walker, Produktspezifikation Black Label" trinkt.
Raab beweist einige Virtuosität darin, trotz des durchgängigen Konzeptualismus seine Figuren plastisch werden zu lassen. Die Einbildungskraft des Lesers stellt nun einmal unweigerlich Individuen vor Augen, deren Biographien Raab beiläufig erzählt: etwa die von Os Vater Franz, der die Entmündigung seiner vermeintlich aus der Art geschlagenen Tochter (und damit die Wegnahme der Kinder) betreibt: A sei, so der Vater, "von Berufs wegen geeignet, sich wohlausgewogene Urteile zu gestatten". Zugleich legt Raab ein dichtes Netz aus literarischen Verweisen, neben Kafkas "Schloß" und dem "Brief an den Vater", Bachmanns "Malina" vor allem Urs Widmers Roman "Forschungsreise", den jede Figur zumindest gelesen, wenn nicht gar (wie O) literaturwissenschaftlich bearbeitet hat.
Der zweite Teil wechselt in die Innenperspektive Os nach ihrer Einlieferung in die Anstalt und damit zugleich in einen ganz anderen, poetisierenden Tonfall, der ihre Wahnwelt bis in die tödliche Flucht in die eiskalte Nacht abzubilden versucht: "Das mußte so kommen, sagen sie in den Kitteln, den lachhaften Panzern aus Sprache und Stoff. Und die Hüften, sie spüren die Hände jetzt kreisen, die andere Seite des verstümmelten Fischs. Der Schnee, er schmilzt nicht. Ich hab keine Kraft hier. Dort warten die Henker und fragen nach mehr." Auf die ungeheuerliche Tat, die Tötung der eigenen Kinder, kann die Umgebung nur mit Sprachlosigkeit, die Wissenschaft nur mit ihren Erklärungsroutinen reagieren, die den Einzelfall in Begriffsschutt begraben. Im Sprachspiel der Poesie dagegen wird die Kindstötung als Konsequenz sichtbar, deren Logik keine allgemeine ist - als Tat einer "Koyotin", die in Not ihre eigenen Jungen frißt, oder einer mythischen Medea.
Sosehr man dies nun im einzelnen loben wollte - insgesamt leidet der Roman unter einem Konstruktionsfehler. Je sprachkräftiger und soghafter das Wahnsystem in irre tänzelnden Daktylen daherkommt, desto unwahrscheinlicher wird es. Denn die Aufzeichnungen der Wahnsinnigen werden mit einer merkwürdigen Herausgeberfiktion (die Oberschwester hat das Manuskript in der Schreibtischschublade As gefunden und einer Literaturzeitschrift angeboten) dem Ehemann zugeschrieben. Es ist also gar nicht Os Wahnwelt, die hier geschildert wird, sondern deren Konstruktion aus der Sicht eines schriftstellernden Psychiaters, der auch noch seinen eigenen Anteil an der Entwicklung hat. Will Raab damit einen weiteren Beweis für das feministische Klischee liefern, daß die Frau keine eigene Stimme hat? Will er gar damit seine eigene Position als Autor untergraben, der ja auch nur nachträglich ein inneres Geschehen in die Zwangsjacke seiner Sätze preßt?
Diese weitere Drehung der Reflexionsschraube läßt das strapazierte Gewinde endgültig brechen. As Entwicklung vom umschwärmten Karrieristen zum einfühlsamen Schriftsteller ist nicht nachvollziehbar, und damit geht das ganze Spiel um literarische Autor-, Vater- und Patenschaften nicht mehr restlos auf. Dieser Mangel ist um so bedauerlicher, als Raabs Debüt bezeugt, daß wissenschaftliche und literarische Stoffe unter Laborbedingungen durchaus explosiv miteinander reagieren können.
RICHARD KÄMMERLINGS.
Thomas Raab: "Verhalten". Roman. Tropen Verlag, Köln 2002. 184 S., geb., 17,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vermischtes: Thomas Raabs Debüt erforscht das A und O der Seele
Der Weg in die Moderne kennt eine Abkürzung. Wenn Franz Kafka im "Schloß" seinen Landvermesser nur "K." nennt - sein Prozeßangeklagter hatte immerhin noch einen Vornamen -, ist damit ein Grad von Verallgemeinerung erreicht, der dieses absurde Schicksal zur Sache des modernen Menschen überhaupt macht. Das Verfahren der Anonymisierung stammt ursprünglich nicht aus der Literatur, sondern aus dem Journalismus. Eine Meldung im "Vermischten" war denn auch der authentische Fall wert, den Thomas Raab seinem Debütroman "Verhalten" zugrunde legt. Eine O genannte Frau wirft nach der Trennung von ihrem Mann A, einem bekannten Wiener Psychiater, ihre beiden Kinder aus dem Küchenfenster im vierten Stock und begeht anschließend Selbstmord. "Für eine Reportage in einem Wochenblatt wird's nicht gereicht haben." Für einen Roman dagegen schon.
Raab wurde 1968 in Graz geboren, er lebt als Kognitionsforscher, Schriftsteller und Übersetzer in Wien. Mit diesen Orten ist zugleich das Koordinatensystem bezeichnet, in dem sich "Verhalten" bewegt. Urszenen, wohin man blickt: Graz, das ist die Wiege der österreichischen experimentellen Literatur, Wien die Bühne, auf der das Drama moderner Seelenforschung erstaufgeführt und seitdem immer wieder aufgenommen worden ist. Nach Raabs Buch handelt es sich dabei um eine Tragödie, in der Individualität und ein Allgemeines, Menschen und Theorien aufeinanderprallen. Wer da unter die Räder kommt, ist klar.
"Es ist ein Tag im Herbst oder im Oktober in einer Stadt, die genau jetzt Wien genannt wird": Man kann den ersten Teil des Romans, in dem die Wochen nach der Trennung von A und O erzählt werden, als eine Parodie auf die Sprache der experimentellen Psychologie und Verhaltensforschung lesen, in der Säuglingssterblichkeit, Gesamtfruchtbarkeitsrate oder die Luftfeuchtigkeit die Experimentalanordnung definieren, in der das fatale Scheitern einer Beziehung in wissenschaftlicher Kühle beschrieben wird. Vorgeführt wird eine konsequente Außensicht, eine Beschränkung auf das Beobachtbare nach dem Muster des Behaviourismus. Interessant ist der ständige Wechsel der Beschreibungsdichte, bildtechnisch gesprochen: der Auflösung, etwa so, als würde man bei einem Objektiv ständig die Brennweite ändern.
So liest man abwechselnd von Dingen, die bis zur Banalität allgemein oder sinnlos spezifiziert sind. Ein klärendes Gespräch zwischen den Ehepartnern etwa bleibt reine Phrasendrescherei, in die Raab konsequenterweise als Kaffeehausmusik Popsongs montiert: "Es haben halt alle Gefühle, sagt O, da kann man nichts machen. Davon lebe ich, sagt A, daß man da nichts machen kann. Oh, sagt O, oh." Andererseits erfährt man, daß A, der sich eigentlich als Künstler versteht, für seinen Kugelschreiber "im Papiergeschäft auf dem Fleischmarkt" 149 Schilling bezahlt hat und im Büro während seiner schriftstellerischen Versuche "Scotch der Marke Johnny Walker, Produktspezifikation Black Label" trinkt.
Raab beweist einige Virtuosität darin, trotz des durchgängigen Konzeptualismus seine Figuren plastisch werden zu lassen. Die Einbildungskraft des Lesers stellt nun einmal unweigerlich Individuen vor Augen, deren Biographien Raab beiläufig erzählt: etwa die von Os Vater Franz, der die Entmündigung seiner vermeintlich aus der Art geschlagenen Tochter (und damit die Wegnahme der Kinder) betreibt: A sei, so der Vater, "von Berufs wegen geeignet, sich wohlausgewogene Urteile zu gestatten". Zugleich legt Raab ein dichtes Netz aus literarischen Verweisen, neben Kafkas "Schloß" und dem "Brief an den Vater", Bachmanns "Malina" vor allem Urs Widmers Roman "Forschungsreise", den jede Figur zumindest gelesen, wenn nicht gar (wie O) literaturwissenschaftlich bearbeitet hat.
Der zweite Teil wechselt in die Innenperspektive Os nach ihrer Einlieferung in die Anstalt und damit zugleich in einen ganz anderen, poetisierenden Tonfall, der ihre Wahnwelt bis in die tödliche Flucht in die eiskalte Nacht abzubilden versucht: "Das mußte so kommen, sagen sie in den Kitteln, den lachhaften Panzern aus Sprache und Stoff. Und die Hüften, sie spüren die Hände jetzt kreisen, die andere Seite des verstümmelten Fischs. Der Schnee, er schmilzt nicht. Ich hab keine Kraft hier. Dort warten die Henker und fragen nach mehr." Auf die ungeheuerliche Tat, die Tötung der eigenen Kinder, kann die Umgebung nur mit Sprachlosigkeit, die Wissenschaft nur mit ihren Erklärungsroutinen reagieren, die den Einzelfall in Begriffsschutt begraben. Im Sprachspiel der Poesie dagegen wird die Kindstötung als Konsequenz sichtbar, deren Logik keine allgemeine ist - als Tat einer "Koyotin", die in Not ihre eigenen Jungen frißt, oder einer mythischen Medea.
Sosehr man dies nun im einzelnen loben wollte - insgesamt leidet der Roman unter einem Konstruktionsfehler. Je sprachkräftiger und soghafter das Wahnsystem in irre tänzelnden Daktylen daherkommt, desto unwahrscheinlicher wird es. Denn die Aufzeichnungen der Wahnsinnigen werden mit einer merkwürdigen Herausgeberfiktion (die Oberschwester hat das Manuskript in der Schreibtischschublade As gefunden und einer Literaturzeitschrift angeboten) dem Ehemann zugeschrieben. Es ist also gar nicht Os Wahnwelt, die hier geschildert wird, sondern deren Konstruktion aus der Sicht eines schriftstellernden Psychiaters, der auch noch seinen eigenen Anteil an der Entwicklung hat. Will Raab damit einen weiteren Beweis für das feministische Klischee liefern, daß die Frau keine eigene Stimme hat? Will er gar damit seine eigene Position als Autor untergraben, der ja auch nur nachträglich ein inneres Geschehen in die Zwangsjacke seiner Sätze preßt?
Diese weitere Drehung der Reflexionsschraube läßt das strapazierte Gewinde endgültig brechen. As Entwicklung vom umschwärmten Karrieristen zum einfühlsamen Schriftsteller ist nicht nachvollziehbar, und damit geht das ganze Spiel um literarische Autor-, Vater- und Patenschaften nicht mehr restlos auf. Dieser Mangel ist um so bedauerlicher, als Raabs Debüt bezeugt, daß wissenschaftliche und literarische Stoffe unter Laborbedingungen durchaus explosiv miteinander reagieren können.
RICHARD KÄMMERLINGS.
Thomas Raab: "Verhalten". Roman. Tropen Verlag, Köln 2002. 184 S., geb., 17,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ausgangspunkt dieser "literarischen Versuchsanordnung mit verblüffenden formalen Ergebnissen", erklärt Jutta Person, sei ein authentischer Vorfall in Wien: die getrennt lebende Ehefrau eines Psychiaters warf ihre beiden Kinder aus dem vierten Stock. Der 1968 geborene Autor, im Hauptberuf Kognitionsforscher, verwandelt nun seine Protagonisten, das Ehepaar A. und O., in Prototypen, so Person, die in bühnenreifen Dialogen die Rituale einer gescheiterten Ehe exerzierten. Wie ein Legokasten voller Zitatbausteine kommt Person dieser erste Teil des Romans vor, der im zweiten brachial die Tonlage wechselt und scheinbar auf die Innenperspektive der Frau umschwenkt und ein beinahe lyrisches Ich freisetze. Allerdings ist dieser zweite Teil mit einer Herausgeberfiktion versehen, berichtet Person, die den Psychiater zum Autor dieser intimen Zeilen erklärt. Geschickt laviere der Autor damit an der Grenze zwischen Wahnsinn, Psychiatrie und Literatur; wer gerade spricht, wer aufrichtig spricht, darauf gebe es keine Antwort und könne es in der Logik dieser Versuchsanordnung auch keine geben, bescheidet die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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