Baudelaire hatte die zivilisatorische und ästhetische Moderne als flüchtig, transitorisch und kontingent charakterisiert. Alle drei Merkmale verdichten sich im Vorstellungsbild 'Verkehr', das mithin eine zentrale Wahrnehmungsfigur der Moderne darstellt. Ebenso wie die neuen Formen der Massenunterhaltung und der Reklame ist die Dynamik auf dem Straßenpflaster unwesentlich, aber gerade die unwesentlichen Teile der Lebens-welt bauen den Menschen um, dezentrieren die alteuropäischen 'Ideokratien' (Musil) und revolutionieren die Künste. In zahlreichen Texten der Avantgarden repräsentiert der Straßenverkehr umfassende topographische, soziale und psychische Delokalisierung. Feierte der Futurismus den kinetischen Rausch elitärer Piloten und Chauffeure, so bieten neusachliche Romane Ansichten einer demokratisierten Teilhabe an den turbulenten Zirkulationssystemen der Metropolen; das massenhafte Verkehrstreiben auf dem Asphalt gerinnt um 1930 zu Bildern eines leerlaufenden, sich selbst genügenden Kreisverkehrs. Aus dem Inhalt I. VERSUCH, DIE MODERNE ALS VERKEHRSZUSTAND ZU DENKEN 1. Verkehr: Zivilisatorischer Befund 2. Verkehr: Kultureller Befund 3. Kulturtheorie des Verkehr(en)s 4. En avant, die Literaten ! Zur Genealogie des Topos 'Verkehr' 5. Verkehr im Text: Poetologische Aspekte II. POETISCHE VERKEHRSIMAGINATIONEN DER METROPOLE 1. '. schickt keinen Poeten!' Berichte zur Londoner Verkehrslage vor 1850 2. Retrospektive: Die Verkehrstechniken der großen Stadt 3. Verkehrsbeben in Megalopolis: Avantgardistische Straßenblicke III. TROTTOIR ROULANT: BERLINS LITERARISCHE VERKEHRSMODERNE 1. Funktion im Hohlraum - Berlin als transitorische Benutzeroberfläche 2. Berliner Verkehrsromane der Neuen Sachlichkeit
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2004Ampelmännchen im Gleichschritt
Johannes Roskothen sucht die Moderne im Straßenverkehr
Keine Frage: Ein Hauptmerkmal der "Moderne", die zum Neujahrstag 1887 von einigen progressiven Berliner Jungliteraten auf diesen Namen getauft worden war, ist der technisch forcierte Verkehr. 1825 war in England die erste Dampflokomotive auf Eisenschienen gesetzt worden; 1885 baute Carl Benz den ersten Motorwagen und Gottlieb Daimler das erste Motorrad; 1891 fuhr in Berlin die erste elektrische Straßenbahn. Dank der technischen Perfektionierung dieser Vehikel, dank des zügigen Ausbaus der Schienennetze und dank der Asphaltierung der Straßen entstand in Berlin wie in den anderen Metropolen der moderne, also rasante, turbulente, lärmende und stinkende Verkehr, der das Leben in den großen Städten prägte, die Menschen in Bewegung brachte, manche geradezu in einen Taumel versetzte und bald erschreckend viele Opfer forderte.
Die Literatur der Moderne hat dies selbstverständlich nicht übersehen, sondern vielfach reflektiert: Wichtige Romane der Moderne - "Ulysses" (1922), "Manhattan Transfer" (1925), "Berlin Alexanderplatz" (1929) - können geradezu als "Verkehrsromane" bezeichnet werden, wie dies Johannes Roskothen in seiner Düsseldorfer Habilitationsschrift tut. Und nicht nur dies: Mit dem Futurismus war bereits 1909 eine Ästhetik proklamiert worden, die der apparativen Beschleunigung der menschlichen Bewegungs- und Kommunikationsfähigkeit durch eine entsprechende Modifikation des künstlerischen Ausdrucks gerecht zu werden suchte: durch die Befreiung der Wörter aus dem homerisch alten Satzgefüge und durch die Entwicklung eines raketisierenden Explosivstils - "Parole in libertà!"
Diesen Phänomenen, dem modernen Verkehr und seiner literarischen Reflexion, gilt das Interesse Roskothens. Das Ziel seiner Studie, einen Beitrag "zu einer poetischen Theorie der Moderne" zu liefern, liegt jenseits der Literaturwissenschaft im traditionellen Sinn, ist durch ein "kulturwissenschaftliches" und näherhin "kulturanthropologisches" Erkenntnisinteresse bestimmt. Es geht darum, den Verkehr der sich herausbildenden Moderne, also im Kern der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, in seiner epochalen Bedeutung wahrzunehmen und zu verstehen: "Die Konfigurationen alltäglicher ,moderner' Wirklichkeit" - oder anders gesagt: die "transitorischen Ornamente" des Verkehrs - "werden zu materialen Hieroglyphen, deren entziffernde Lektüre den mentalen Gehalt einer Epoche freisetzt".
Was zeigt nun die Lektüre des Verkehrs oder, wie man eigentlich sagen muß: der vielen Bücher aller Art, in denen der Verkehr der beginnenden Moderne vergegenwärtigt wird? Fürs erste das, was er - Roskothen zufolge - in Irmgard Keuns collageartigem Roman "Das kunstseidene Mädchen" (1932) "metonymisiert": "eine allumfassende mentale, soziale und topographische Delokalisierung", eine "wurzellose Transitorik", in der sich der "universale Verlust von ,festen' Denksystemen, Normen und einer ortsstabilen Lebensführung verdichten". Moderner Verkehr bedeutet rasante und immer weiter ausgreifende Zirkulation, zu deren Gunsten feste Bindungen oder tiefe Verwurzelungen aufgelöst werden müssen.
Die weitere Analyse stützt sich auf Marx' Bestimmung der Geldzirkulation als eines abstrahierenden Phänomens an der "Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft" und konnotiert den Begriff "Verkehr" dann konsequent mit den Begriffen der "Oberfläche" und - den medialen Charakter des Verkehrs betonend - der "Benutzeroberfläche", für die nicht Substanz oder Ideen von Bedeutung sind, sondern "Auftritte", und die, mit dem Soziologen David Riesman gesprochen, nicht den alten, "innengeleiteten" Kompaß- oder Gesinnungstyp verlangt, sondern den neuen, "außengeleiteten" Radar- oder Anpassungstyp. Dies trifft sich mit Beobachtungen und Überlegungen, die in den zwanziger und dreißiger Jahren von vielen Zeitgenossen, vornehmlich aber von Siegfried Kracauer und Gottfried Benn, angestellt wurden und zu einer Philosophie oder Ästhetik der Oberfläche führten.
Die "Eideshelfer" dieser Lektüre sind nun allerdings nicht so sehr genuine Literaten (vulgo Dichter), sondern eben Kracauer, Georg Simmel und Walter Benjamin. Nur Alfred Döblin wird ausdrücklich auch einmal in den Rang eines "Kronzeugen" erhoben, und immer wieder wird Ernst Jünger als Analytiker der "totalen Mobilmachung" und der modernen "Werkstättenlandschaft" zitiert. Roskothen tendiert aber dazu, Literatur zum Belegmaterial für kulturphilosophische Analysen und Theorien zu machen. Damit soll ihr - auch literaturwissenschaftlicher - Wert nicht von vornherein geschmälert werden. Sie bietet, alle möglichen Quellen ausschöpfend, vielfältige Informationen über den Verkehr der beginnenden Moderne und seine lebensprägende Wirkung; sie macht seine Strukturen und Implikationen sichtbar; sie zeigt, welch fundamentale Bedeutung er für die Literatur der avancierten literarischen Moderne hat. Man liest Joyce, Dos Passos und Döblin nach der Lektüre von Roskothens Studie wieder einmal mit einem neuen oder wenigstens neu geschärften Blick. So sieht man, um bei "Berlin Alexanderplatz" zu bleiben, deutlicher als zuvor, in welchem Ausmaß Döblin "die Manifestationen des Straßenverkehrs (Tempo, Richtungswechsel, Dysfunktionen, schließlich das Überrolltwerden) als Belege für die gestörte Psychodynamik" des haftentlassenen Protagonisten verwendet hat.
Freilich, gerade an der "Alexanderplatz"-Interpretation zeigen sich auch die Grenzen dieser Studie. Literaturwissenschaftliches kommt etwas zu kurz. Das beginnt damit, daß etwa eine so aufschlußreiche Studie wie Sabina Beckers "Urbanität und Moderne" von 1993 nicht rezipiert wird, obwohl es dort gehaltvolle Ausführungen über den "Stil der Bewegung" und über "Berlin Alexanderplatz" gibt. Dasselbe gilt für Otto Kellers Buch "Döblins Montageroman als Epos der Moderne" (1980), das den Blick für die realitäts- oder oberflächentranszendierende Symbolstruktur von "Berlin Alexanderplatz" geöffnet hat. Und es gilt auch für Döblins eigene Texte, etwa seinen Essay "Der Bau des epischen Werks" (1928), der mit der Devise, daß der Epiker die Realitätsoberfläche nicht nur zu zeigen, sondern auch zu "durchstoßen" habe, das poetologische Prinzip von "Berlin Alexanderplatz" benennt - und diesen mithin als einen Anti-Oberflächenroman kennzeichnet.
Diese Versäumnisse wirken sich in fragwürdiger Weise auf Roskothens Interpretation aus, so aufschlußreich sie in mancher Hinsicht ist. Sie mündet in die Sätze: "Franz Biberkopf, der aus dem verkehrsfreien Areal des Zuchthauses kam, blieb die Synchronisierung mit dem zirkulierenden Stadtinnern verwehrt; er geriet unter die Räder und wurde schließlich aus der Stadt herauskatapultiert. Wer sich den funktionalen Oberflächen der Moderne nicht andienen kann, wer seinen Teil zur abstrakten Totalität der transitorischen Oberflächen nicht beitragen kann, der verliert den Anschluß, den bestraft das Leben."
Nichts davon stimmt: Biberkopf ist am Ende nicht aus der Stadt "herauskatapultiert", sondern hat einen festen Platz als "Hilfsportier in einer mittleren Fabrik" und beobachtet mit vorsichtiger Skepsis die vorbeiziehenden Marschkolonnen der extremen Parteien. Er hat in einem brachialen "Enthüllungsprozeß" lernen müssen, daß es falsch war, sich jeder Gelegenheit der Zirkulation "anzudienen", und daß es darauf angekommen wäre, in den "transitorischen Ornamenten" des Getriebes um den Alexanderplatz die unvergängliche Figur der "Großen Hure Babylon" zu entdecken: den Inbegriff der zivilisatorischen und vor allem in den Metropolen zur Erscheinung kommenden Destruktivität. So wurde Biberkopf von einem außengeleiteten "Menschen in Anführungszeichen" (Gottfried Benn), der nur aus begierig aufgegriffenen Parolen und Insinuationen anderer bestand, nur "Oberfläche" war und keinerlei "Substanz" hatte, zu einem nachdenklichen, seine "Benutzeroberfläche" sehr skeptisch betrachtenden Zeitgenossen. Das aber heißt: Die Poetik der Moderne ist nicht auf das Prinzip der Oberflächendarstellung zu reduzieren; sie kennt auch das Prinzip der Oberflächendurchstoßung.
Fragwürdig sind aber auch einige wohl kulturwissenschaftlich zu nennende Befunde oder Thesen. Kann man wirklich sagen, daß "die ornamentalen Muster" des modernen Verkehrs "sich selbst genügen", "einen Selbstzweck verkörpern", weil sie "von ihren Trägern weder intendiert noch mitgedacht" werden? Sicher, wer am Morgen über die Stadtautobahn in die City zur Arbeit fährt, hat nicht die Absicht, an der Bildung eines Zirkulationsornaments mitzuwirken; daß er dies aber tut, zeigt ihm jeder Blick auf die vielfarbig funkelnde Schlange der Automobile, die dem eleganten Schwung der Bahn folgt und sich im Autobahnkreuz kunstvoll verzweigt und neu verflicht. Und er kann leicht auch Einsicht in den Zweck dieses durch eine kluge Straßenplanung ermöglichten Ornaments haben: die Kanalisierung der aus unzähligen Garagen hervorschießenden Autos, die möglichst rasch und reibungslos in einen oder mehrere Zielbereiche geführt werden müssen.
Fragwürdig ist auch die vielleicht wichtigste These des Buches: daß nämlich "die Zirkulationssphäre zwischen den Kriegen ein weitaus wirksamerer Agent der Moderne als die Politik gewesen" sei: "Im Verkehrsraum verwirklicht sich die Passage von der autoritätshörigen, rigide formierten Gemeinschaft hin zur pragmatischen, funktional handelnden Gesellschaft nachdrücklicher und folgenreicher als in der pluralen, aber polarisierten politischen Sphäre der labilen Weimarer Demokratie." Der Grund dafür sei unter anderem darin zu sehen, daß "der Straßenverkehr nicht (familiaren) Befehlen folgt, sondern (objektiven) Signalen, die nach pragmatischen Vorgaben die Verkehrsabläufe regeln", oder daß Polizisten "nicht länger Gewährsmänner einer moralischen Ordnung der Dinge sind, sondern Funktionsträger im Dienste eines reibungslosen Verkehrsflusses". Das klingt schön, und man würde in dieses Hohelied auf den großen zivilisierenden und modernisierenden Lehrmeister Verkehr gerne einstimmen, wenn der Erfolg seiner Bemühungen den 30. Januar 1933 überstanden und die "Gleichschaltungen" der folgenden Monate verhindert hätte.
Man liest Roskothens Studie daher mit manchem Gewinn, aber auch mit manchem Unbehagen. Forschungsdefizite und Deutungsüberschüsse wirken zusammen und untergraben die Solidität dieser ansonsten vielfach anregenden Studie. Und zu befürchten ist, daß dies für diese Art von Wissenschaft symptomatisch ist.
HELMUTH KIESEL.
Johannes Roskothen: "Verkehr". Zu einer poetischen Theorie der Moderne. Wilhelm Fink Verlag, München 2003. 345 S., br., 40,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Johannes Roskothen sucht die Moderne im Straßenverkehr
Keine Frage: Ein Hauptmerkmal der "Moderne", die zum Neujahrstag 1887 von einigen progressiven Berliner Jungliteraten auf diesen Namen getauft worden war, ist der technisch forcierte Verkehr. 1825 war in England die erste Dampflokomotive auf Eisenschienen gesetzt worden; 1885 baute Carl Benz den ersten Motorwagen und Gottlieb Daimler das erste Motorrad; 1891 fuhr in Berlin die erste elektrische Straßenbahn. Dank der technischen Perfektionierung dieser Vehikel, dank des zügigen Ausbaus der Schienennetze und dank der Asphaltierung der Straßen entstand in Berlin wie in den anderen Metropolen der moderne, also rasante, turbulente, lärmende und stinkende Verkehr, der das Leben in den großen Städten prägte, die Menschen in Bewegung brachte, manche geradezu in einen Taumel versetzte und bald erschreckend viele Opfer forderte.
Die Literatur der Moderne hat dies selbstverständlich nicht übersehen, sondern vielfach reflektiert: Wichtige Romane der Moderne - "Ulysses" (1922), "Manhattan Transfer" (1925), "Berlin Alexanderplatz" (1929) - können geradezu als "Verkehrsromane" bezeichnet werden, wie dies Johannes Roskothen in seiner Düsseldorfer Habilitationsschrift tut. Und nicht nur dies: Mit dem Futurismus war bereits 1909 eine Ästhetik proklamiert worden, die der apparativen Beschleunigung der menschlichen Bewegungs- und Kommunikationsfähigkeit durch eine entsprechende Modifikation des künstlerischen Ausdrucks gerecht zu werden suchte: durch die Befreiung der Wörter aus dem homerisch alten Satzgefüge und durch die Entwicklung eines raketisierenden Explosivstils - "Parole in libertà!"
Diesen Phänomenen, dem modernen Verkehr und seiner literarischen Reflexion, gilt das Interesse Roskothens. Das Ziel seiner Studie, einen Beitrag "zu einer poetischen Theorie der Moderne" zu liefern, liegt jenseits der Literaturwissenschaft im traditionellen Sinn, ist durch ein "kulturwissenschaftliches" und näherhin "kulturanthropologisches" Erkenntnisinteresse bestimmt. Es geht darum, den Verkehr der sich herausbildenden Moderne, also im Kern der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, in seiner epochalen Bedeutung wahrzunehmen und zu verstehen: "Die Konfigurationen alltäglicher ,moderner' Wirklichkeit" - oder anders gesagt: die "transitorischen Ornamente" des Verkehrs - "werden zu materialen Hieroglyphen, deren entziffernde Lektüre den mentalen Gehalt einer Epoche freisetzt".
Was zeigt nun die Lektüre des Verkehrs oder, wie man eigentlich sagen muß: der vielen Bücher aller Art, in denen der Verkehr der beginnenden Moderne vergegenwärtigt wird? Fürs erste das, was er - Roskothen zufolge - in Irmgard Keuns collageartigem Roman "Das kunstseidene Mädchen" (1932) "metonymisiert": "eine allumfassende mentale, soziale und topographische Delokalisierung", eine "wurzellose Transitorik", in der sich der "universale Verlust von ,festen' Denksystemen, Normen und einer ortsstabilen Lebensführung verdichten". Moderner Verkehr bedeutet rasante und immer weiter ausgreifende Zirkulation, zu deren Gunsten feste Bindungen oder tiefe Verwurzelungen aufgelöst werden müssen.
Die weitere Analyse stützt sich auf Marx' Bestimmung der Geldzirkulation als eines abstrahierenden Phänomens an der "Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft" und konnotiert den Begriff "Verkehr" dann konsequent mit den Begriffen der "Oberfläche" und - den medialen Charakter des Verkehrs betonend - der "Benutzeroberfläche", für die nicht Substanz oder Ideen von Bedeutung sind, sondern "Auftritte", und die, mit dem Soziologen David Riesman gesprochen, nicht den alten, "innengeleiteten" Kompaß- oder Gesinnungstyp verlangt, sondern den neuen, "außengeleiteten" Radar- oder Anpassungstyp. Dies trifft sich mit Beobachtungen und Überlegungen, die in den zwanziger und dreißiger Jahren von vielen Zeitgenossen, vornehmlich aber von Siegfried Kracauer und Gottfried Benn, angestellt wurden und zu einer Philosophie oder Ästhetik der Oberfläche führten.
Die "Eideshelfer" dieser Lektüre sind nun allerdings nicht so sehr genuine Literaten (vulgo Dichter), sondern eben Kracauer, Georg Simmel und Walter Benjamin. Nur Alfred Döblin wird ausdrücklich auch einmal in den Rang eines "Kronzeugen" erhoben, und immer wieder wird Ernst Jünger als Analytiker der "totalen Mobilmachung" und der modernen "Werkstättenlandschaft" zitiert. Roskothen tendiert aber dazu, Literatur zum Belegmaterial für kulturphilosophische Analysen und Theorien zu machen. Damit soll ihr - auch literaturwissenschaftlicher - Wert nicht von vornherein geschmälert werden. Sie bietet, alle möglichen Quellen ausschöpfend, vielfältige Informationen über den Verkehr der beginnenden Moderne und seine lebensprägende Wirkung; sie macht seine Strukturen und Implikationen sichtbar; sie zeigt, welch fundamentale Bedeutung er für die Literatur der avancierten literarischen Moderne hat. Man liest Joyce, Dos Passos und Döblin nach der Lektüre von Roskothens Studie wieder einmal mit einem neuen oder wenigstens neu geschärften Blick. So sieht man, um bei "Berlin Alexanderplatz" zu bleiben, deutlicher als zuvor, in welchem Ausmaß Döblin "die Manifestationen des Straßenverkehrs (Tempo, Richtungswechsel, Dysfunktionen, schließlich das Überrolltwerden) als Belege für die gestörte Psychodynamik" des haftentlassenen Protagonisten verwendet hat.
Freilich, gerade an der "Alexanderplatz"-Interpretation zeigen sich auch die Grenzen dieser Studie. Literaturwissenschaftliches kommt etwas zu kurz. Das beginnt damit, daß etwa eine so aufschlußreiche Studie wie Sabina Beckers "Urbanität und Moderne" von 1993 nicht rezipiert wird, obwohl es dort gehaltvolle Ausführungen über den "Stil der Bewegung" und über "Berlin Alexanderplatz" gibt. Dasselbe gilt für Otto Kellers Buch "Döblins Montageroman als Epos der Moderne" (1980), das den Blick für die realitäts- oder oberflächentranszendierende Symbolstruktur von "Berlin Alexanderplatz" geöffnet hat. Und es gilt auch für Döblins eigene Texte, etwa seinen Essay "Der Bau des epischen Werks" (1928), der mit der Devise, daß der Epiker die Realitätsoberfläche nicht nur zu zeigen, sondern auch zu "durchstoßen" habe, das poetologische Prinzip von "Berlin Alexanderplatz" benennt - und diesen mithin als einen Anti-Oberflächenroman kennzeichnet.
Diese Versäumnisse wirken sich in fragwürdiger Weise auf Roskothens Interpretation aus, so aufschlußreich sie in mancher Hinsicht ist. Sie mündet in die Sätze: "Franz Biberkopf, der aus dem verkehrsfreien Areal des Zuchthauses kam, blieb die Synchronisierung mit dem zirkulierenden Stadtinnern verwehrt; er geriet unter die Räder und wurde schließlich aus der Stadt herauskatapultiert. Wer sich den funktionalen Oberflächen der Moderne nicht andienen kann, wer seinen Teil zur abstrakten Totalität der transitorischen Oberflächen nicht beitragen kann, der verliert den Anschluß, den bestraft das Leben."
Nichts davon stimmt: Biberkopf ist am Ende nicht aus der Stadt "herauskatapultiert", sondern hat einen festen Platz als "Hilfsportier in einer mittleren Fabrik" und beobachtet mit vorsichtiger Skepsis die vorbeiziehenden Marschkolonnen der extremen Parteien. Er hat in einem brachialen "Enthüllungsprozeß" lernen müssen, daß es falsch war, sich jeder Gelegenheit der Zirkulation "anzudienen", und daß es darauf angekommen wäre, in den "transitorischen Ornamenten" des Getriebes um den Alexanderplatz die unvergängliche Figur der "Großen Hure Babylon" zu entdecken: den Inbegriff der zivilisatorischen und vor allem in den Metropolen zur Erscheinung kommenden Destruktivität. So wurde Biberkopf von einem außengeleiteten "Menschen in Anführungszeichen" (Gottfried Benn), der nur aus begierig aufgegriffenen Parolen und Insinuationen anderer bestand, nur "Oberfläche" war und keinerlei "Substanz" hatte, zu einem nachdenklichen, seine "Benutzeroberfläche" sehr skeptisch betrachtenden Zeitgenossen. Das aber heißt: Die Poetik der Moderne ist nicht auf das Prinzip der Oberflächendarstellung zu reduzieren; sie kennt auch das Prinzip der Oberflächendurchstoßung.
Fragwürdig sind aber auch einige wohl kulturwissenschaftlich zu nennende Befunde oder Thesen. Kann man wirklich sagen, daß "die ornamentalen Muster" des modernen Verkehrs "sich selbst genügen", "einen Selbstzweck verkörpern", weil sie "von ihren Trägern weder intendiert noch mitgedacht" werden? Sicher, wer am Morgen über die Stadtautobahn in die City zur Arbeit fährt, hat nicht die Absicht, an der Bildung eines Zirkulationsornaments mitzuwirken; daß er dies aber tut, zeigt ihm jeder Blick auf die vielfarbig funkelnde Schlange der Automobile, die dem eleganten Schwung der Bahn folgt und sich im Autobahnkreuz kunstvoll verzweigt und neu verflicht. Und er kann leicht auch Einsicht in den Zweck dieses durch eine kluge Straßenplanung ermöglichten Ornaments haben: die Kanalisierung der aus unzähligen Garagen hervorschießenden Autos, die möglichst rasch und reibungslos in einen oder mehrere Zielbereiche geführt werden müssen.
Fragwürdig ist auch die vielleicht wichtigste These des Buches: daß nämlich "die Zirkulationssphäre zwischen den Kriegen ein weitaus wirksamerer Agent der Moderne als die Politik gewesen" sei: "Im Verkehrsraum verwirklicht sich die Passage von der autoritätshörigen, rigide formierten Gemeinschaft hin zur pragmatischen, funktional handelnden Gesellschaft nachdrücklicher und folgenreicher als in der pluralen, aber polarisierten politischen Sphäre der labilen Weimarer Demokratie." Der Grund dafür sei unter anderem darin zu sehen, daß "der Straßenverkehr nicht (familiaren) Befehlen folgt, sondern (objektiven) Signalen, die nach pragmatischen Vorgaben die Verkehrsabläufe regeln", oder daß Polizisten "nicht länger Gewährsmänner einer moralischen Ordnung der Dinge sind, sondern Funktionsträger im Dienste eines reibungslosen Verkehrsflusses". Das klingt schön, und man würde in dieses Hohelied auf den großen zivilisierenden und modernisierenden Lehrmeister Verkehr gerne einstimmen, wenn der Erfolg seiner Bemühungen den 30. Januar 1933 überstanden und die "Gleichschaltungen" der folgenden Monate verhindert hätte.
Man liest Roskothens Studie daher mit manchem Gewinn, aber auch mit manchem Unbehagen. Forschungsdefizite und Deutungsüberschüsse wirken zusammen und untergraben die Solidität dieser ansonsten vielfach anregenden Studie. Und zu befürchten ist, daß dies für diese Art von Wissenschaft symptomatisch ist.
HELMUTH KIESEL.
Johannes Roskothen: "Verkehr". Zu einer poetischen Theorie der Moderne. Wilhelm Fink Verlag, München 2003. 345 S., br., 40,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Helmuth Kiesel hat die Düsseldorfer Habilitationsschrift von Johannes Roskothen "mit manchem Gewinn, aber auch mit manchem Unbehagen" gelesen. So zählt zu dem Gewinn für Kiesel etwa, dass man "Joyce, Dos Passos, und Döblin nach der Lektüre" wieder "mit einem neuen oder wenigsten neu geschärften Blick" lese. Andererseits befürchtet der Rezensent, dass es "für diese Art Wissenschaft symptomatisch ist", wenn - wie er es an das dieser "ansonsten vielfach anregenden Studie" beobachtet hat - "Forschungsdefizite" und "Deutungsüberschüsse" zusammen wirken und "die Solidität" der Resultate untergraben werde. Mit "dieser Art Wissenschaft" bezieht der Rezensent sich auf das kulturwissenschaftliche und kulturanthropologische Erkenntnisinteresse von Roskothen. So gehöre zu den zentralen Thesen des Buches, dass die technisch bedingten Veränderungen des Verkehrs zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachdrücklicher zum Übergang zu einer "pragmatischen, funktional handelnden Gesellschaft" beigetragen haben als die Veränderungen in der politischen Sphäre. Man würde gerne einstimmen, wendet der Rezensent ein, wenn diese Veränderungen den 30. Januar 1933 überstanden hätten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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