"Die reinste Lebensfreude, die leichtfüßig über Leichen geht. Verkin ist unendlich unterhaltsam und tiefgründig." Nell Zink
Nach David Wagners beiden großen Büchern Leben und Der vergessliche Riese ist sein neuer Roman ein Abenteuer, das vom Bosporus durch die Türkei und über drei Kontinente führt, eine Spurensuche zwischen Orient und Okzident, tief hinein ins bewegte 20. Jahrhundert. Es ist die Geschichte einer besonderen Freundschaft und einer außergewöhnlichen Frau.
Eine Katze vom anatolischen Vansee, das eine Auge blau, das andere braun, wird nach Berlin gebracht. Auf einem für sie organisierten Willkommensfest lernt der Erzähler dieses Romans die Überbringerin kennen und fragt sich: Wer ist diese türkisch-armenische Frau namens Verkin, die in ihrem metallisch glitzernden Kleid wie eine Raumfahrerin wirkt?
Wenig später reist er nach Istanbul, um an einem neuen Buch zu schreiben, im Gepäck deutsche Wurstwaren, die er Verkin als Dank für die Katze mitbringen soll. Kaum angekommen, wird er schon verführt: von den Geschichten aus ihrem geradezu märchenhaften Leben.
Gemeinsam fahren die beiden durch die Stadt und über den Bosporus, sie reisen an die lykische Küste, besuchen verfallene Thermalbäder, rollen im Speisewagen durch Anatolien und kommen bis an den Vansee nahe der Grenze zum Iran.
Verkin erzählt von ihrer Kindheit in Istanbul, von ihrer uralten armenischen Familie, den Großmüttern, die 1915 Mord und Vertreibung überlebten. Von ihrem Vater, der den größten Elektrokonzern der Türkei aufbaute. Von Schweizer Internaten, Paris 1968, lukrativen Geschäften in Ost-Berlin, Künstlerkreisen im New York der siebziger Jahre, von ihren Männern, darunter zwei Deutsche. Von einem fast tödlichen Unfall, der sie auf eine jahrelange Irrfahrt schickte, ihrem Einsatz für das armenische Erbe, dem Kampf gegen das Patriarchat und ihrer politischen Arbeit. Von einem Land, von einem Leben voller Widersprüche.
Nach David Wagners beiden großen Büchern Leben und Der vergessliche Riese ist sein neuer Roman ein Abenteuer, das vom Bosporus durch die Türkei und über drei Kontinente führt, eine Spurensuche zwischen Orient und Okzident, tief hinein ins bewegte 20. Jahrhundert. Es ist die Geschichte einer besonderen Freundschaft und einer außergewöhnlichen Frau.
Eine Katze vom anatolischen Vansee, das eine Auge blau, das andere braun, wird nach Berlin gebracht. Auf einem für sie organisierten Willkommensfest lernt der Erzähler dieses Romans die Überbringerin kennen und fragt sich: Wer ist diese türkisch-armenische Frau namens Verkin, die in ihrem metallisch glitzernden Kleid wie eine Raumfahrerin wirkt?
Wenig später reist er nach Istanbul, um an einem neuen Buch zu schreiben, im Gepäck deutsche Wurstwaren, die er Verkin als Dank für die Katze mitbringen soll. Kaum angekommen, wird er schon verführt: von den Geschichten aus ihrem geradezu märchenhaften Leben.
Gemeinsam fahren die beiden durch die Stadt und über den Bosporus, sie reisen an die lykische Küste, besuchen verfallene Thermalbäder, rollen im Speisewagen durch Anatolien und kommen bis an den Vansee nahe der Grenze zum Iran.
Verkin erzählt von ihrer Kindheit in Istanbul, von ihrer uralten armenischen Familie, den Großmüttern, die 1915 Mord und Vertreibung überlebten. Von ihrem Vater, der den größten Elektrokonzern der Türkei aufbaute. Von Schweizer Internaten, Paris 1968, lukrativen Geschäften in Ost-Berlin, Künstlerkreisen im New York der siebziger Jahre, von ihren Männern, darunter zwei Deutsche. Von einem fast tödlichen Unfall, der sie auf eine jahrelange Irrfahrt schickte, ihrem Einsatz für das armenische Erbe, dem Kampf gegen das Patriarchat und ihrer politischen Arbeit. Von einem Land, von einem Leben voller Widersprüche.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Als Portrait einer "starken Frau" hat Wolfgang Schneider David Wagners neues Buch gerne gelesen, als Roman ist nicht ganz davon überzeugt. Der Ich-Erzähler Wagner bricht darin nach Istanbul auf, um über türkische Shoppingmalls zu schreiben; der Text gerät allerdings zu einer biographischen Darstellung von Verkin, einer türkischen Ameniern, die er bei einem Berliner Sommerfest kennengelernt hat. Erzählt wird von der selbstbewussten, in verschiedenen Karrieren - als Industrielle, Behindertenbeauftrage und Betreiberin eines Bio-Hofs - reüssiert habenden Verkin, einer beeindruckenden, selbständigen Feministin und ihrer auch von der armenischen Vergangenheit und türkischer Repression geprägten Familiengeschichte. Angetan ist Schneider besonders von Wagners Beschreibungen Istanbuls; als Roman fehle dem Text, der eher einer Sammlung spannender Interviews gleiche, ein überzeugender Plot. Den an Eindrücken und Überlegungen reichen, die Protagonistin komplex darstellenden Text kann er dennoch empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.08.2024Privilegiert und
diskriminiert
Ein Leben, so glamourös und ambivalent wie das
der türkisch-armenischen Politikerin „Verkin“, muss
geradezu zum Roman werden. Dass sich der deutsche
Schriftsteller David Wagner von diesem Stoff
nicht überwältigen lässt, ist ein Kunststück.
VON MEIKE FESSMANN
In seiner Haut möchte man nicht stecken, obwohl er seinen Stoff geradezu auf dem Silbertablett serviert bekommt. Da steht er am Bosporus, Báron, der Dobermann der Hausherrin, hat ihn stürmisch begrüßt, er wurde durch die Marmorhalle des modernistischen Baus geführt und gerät in eine Runde illustrer Gäste. Einzeln werden sie ihm vorgestellt, darunter Tarek, einer der drei Ex-Männer der Gastgeberin. Es ist Badetag im privaten Hammam, eine Freundin kommt gerade frisch vom Schönheitschirurgen und erholt sich hier. Auch ihm, dem Erzähler, der den gleichen Namen wie der Autor trägt, wird der Kontakt angeboten. Für Botox sei es zu spät, aber ein Lifting könnte sich lohnen.
Eine feine Spur von Unbehagen sitzt im Gewebe dieses raffinierten Romans und macht ihn umso interessanter. Dabei ist „Verkin“ opulent. Wir werden verwöhnt mit Istanbul-Tableaus, mit der Beschreibung von üppigen Mahlzeiten, glitzerndem Wasser, kreisenden Möwen, mit Fahrten durch die Stadt, mal mit dem Auto, mal mit der Fähre, mit Reisen ins Sommerhaus der Gastgeberin an die lykische Küste und sogar mit einem Ausflug ganz in den Osten der Türkei, zum nahe der iranischen Grenze liegenden Vansee. Und während wir mit dem Erzähler und der titelgebenden Hauptfigur, oft von ihrer Entourage begleitet, durch die Türkei reisen, bekommen wir Verkins Lebensgeschichte präsentiert.
Eine Geschichte voller schillernder Namen und Ereignisse, von der nicht immer klar ist, wie viel daran erfunden ist, wie sehr sie stilisiert wurde, um den Zuhörer zu beeindrucken. Verkin ist eine grandiose Figur. In David Wagners Roman darf eine Frau endlich so selbstbewusst prahlen, wie man das sonst von Männern gewohnt ist. Dass sie das kann, hat mit ihrem Vermögen und ihren Verbindungen zu tun, mit einem sicheren Gespür für Macht, mit dem Widerstandsgeist einer armenischen Türkin, aber auch mit ihrem Talent, ihr Leben auszuschmücken, sich ins rechte Licht zu rücken und im richtigen Moment eine noch überraschendere Geschichte aus dem Hut zu zaubern. „Ich bin im Erzählparadies, ich muss nur zuhören“, sagt sich der Erzähler, während er in Verkins Yacht auf den sanften Wogen des Mittelmeers schaukelt. Das ist sicherlich auch ein Versuch, sich selbst zu beschwichtigen. Denn wer wüsste besser als ein Schriftsteller, dass zwischen einem guten Stoff und einem großartigen Roman die quälende Arbeit des Schreibens, Streichens, Komponierens steht?
Über Jahre hinweg reist er nach Istanbul und trifft jedes Mal auch Verkin. Die letzte Reise, die sie gemeinsam unternehmen, an die türkisch-iranische Grenze, endet mit dem Ausbruch von Covid-19 in Wuhan. Eigentlich plant er ein Buch über den Großen Basar und den Boom der Shopping-Malls. Doch das könnte auch „Tarnung“ sein, womöglich, um vor sich selbst zu verbergen, worauf er sich da einlässt. Denn Verkin gibt es wirklich, auch der Name stimmt, sogar ihr Nachname lässt sich im Buch finden, sowohl in der armenischen Form ihrer Vorfahren als auch in der turkisierten Variante ihres Vaters. Als Selfmade-Mann hat der den größten Elektrokonzern der Türkei aufgebaut und mit einer Lizenz für Elektroteile ein Vermögen verdient. Die meisten Mitglieder seiner armenischen Familie kamen beim Genozid des Osmanischen Reiches ums Leben, die anderen flüchteten von Ankara nach Istanbul.
Verkin ist eine selbstbewusste Geschäftsfrau, die sich für die Bewahrung armenischer Kulturgüter einsetzt. Sie ist Mitglied der AKP und Lokalpolitikerin. Als sie zur „Muchtar“ in Beyoğlu gewählt wird, reist der Erzähler eigens an. Wenn man sich auf Youtube ein Interview mit der realen Politikerin ansieht, ahnt man, wie viel Arbeit es gewesen sein muss, damit aus diesem Buch keine unter sanftem Druck entstandene Festschrift wird, sondern fabelhafte, die eigene Freiheit feiernde Literatur. Einmal erzählt Verkin, die Romanfigur, triumphierend vom „Blitzkrieg-Bakschisch“, das sie bereits als Schülerin in Schweizer Nobelinternaten beherrscht habe, um sich Freiheiten zu erkaufen. Bestechungen müsse man so hoch ansetzen, dass es für die meisten Menschen, selbst wenn sie moralische Skrupel haben, unmöglich sei, sie auszuschlagen.
David Wagner lässt seiner Heldin ihre ganze Ambivalenz. So gelingt ihm ein dichtes Porträt der türkischen Gesellschaft und ihrer Oberschicht mit ihren ganzen Widersprüchen: „Türkischer Surrealismus“, nennt das Verkin einmal. Gelegentlich wird das ergänzt um Aspekte der bundesdeutschen Geschichte, etwa der Entstehung der EU aus EWG und Montanunion. Verkins erster Mann, Detlev, stammt aus einer Düsseldorfer Unternehmerfamilie, die es ihm ermöglicht, sein Leben mit Reisen und Partys zu verbringen. Wie schon in früheren Büchern bedient sich David Wagner einer speziellen Kunst des Dialogs, der Zwiesprache des Erzählers mit seiner Hauptfigur, wie sie etwa in „Der vergessliche Riese“ mit dem dementen Vater geführt werden. Als Autor behält er die Zügel in der Hand, während sein Alter Ego wie eine Art Erzählbutler agiert, der lediglich zu sammeln scheint, was aus seiner Hauptfigur hervorsprudelt.
Vom Tarabya ihrer Kindheit im Norden Istanbuls, damals noch ein Fischerdorf, wo sie jeden Morgen in den Bosporus sprang, über Partyjahre in Paris, selbstverständlich inklusive Mai 1968, und dann in Los Angeles und New York reichen Verkins Geschichten. Faye Dunaway beneidete sie um ihre Klamotten von Yves Saint-Laurent, Betty und Miles Davis gingen bei ihr und ihrem zweiten Mann ein und aus. Sie lernte Angela Davis kennen, verpasste Jimi Hendrix und James Baldwin. Dem Erzähler wird das Namedropping manchmal zu viel, doch brav notiert er alles in seinem Notizbuch.
Eine Zeit lang führt Verkin das Unternehmen ihres Vaters und hat Vergnügen daran, nach Ost-Berlin zu reisen und „Glamour in den grauen Warschauer Pakt“ zu bringen. Als männlicher Begleitschutz steht ihr ein Freund zur Seite, weil sie als Frau allein nicht ernst genommen werden würde. Sogar über eine Geschlechtsumwandlung hat sie nachgedacht, um schließlich doch festzustellen, dass ihr die Widerstände, auf die sie als Frau und Armenierin trifft, willkommene Reibungsenergie liefern. „Power Stations“, „Kraftwerke des Glaubens und der Macht“ nennt sie Moscheen und Malls. Sie huldigt Erdoğan als „Ermöglicher von Konsum und Religion“.
Glücklicherweise ist der Erzähler nicht alleine mit ihr. Ein alter Freund und Atatürk-Fan liest ihr auf einer Reise die Leviten. Sie sei von der verfolgten Armenierin zur Nationalistin geworden. Auch ihre beiden Söhne lassen ihr nicht alles durchgehen. Sie weiß, dass sie „privilegiert und diskriminiert zugleich“ ist. Das „anstrengende Immer-Anderssein“ habe sie erst in den USA begriffen. Wie viele unterdrückte Minderheiten hebt auch sie ständig armenische Kulturleistungen hervor. Vom Seidenhandel im Osmanischen Reich bis zu gelungener Architektur geht in ihren Augen alles auf Armenien zurück. Das bekommt durchaus einen ironischen Dreh. Etwa, wenn sie erklärt, warum sie nie mit einem Armenier verheiratet war: „weil armenische Männer meiner Erfahrung nach alle Nachteile der christlichen Erziehung mit den schlechten Eigenschaften der Türken kombinieren, ohne deren großen Respekt für die Frauen der eigenen Familie mitzubringen, weshalb ich lieber gleich Türken geheiratet habe.“
Neben den großen Istanbul-Werken von Emine Sevgi Özdamar und Orhan Pamuk, neben Katerina Poladjans fein gezeichnetem Armenien-Roman „Hier sind Löwen“ setzt Wagners „Verkin“ einen eigenen Ton. Sein Istanbul-Roman kommt ganz ohne Melancholie aus, geradezu übersprudelnd vor Lebensenergie und doch gebändigt durch seine originelle Zweistimmigkeit. Dabei spielt das Internet eine Rolle. „Look him up“, sagt Verkin oft. Er solle im Internet nachsehen. Sie selbst hält sich damit die Verifikation ihrer Behauptungen vom Leib und degradiert ihn zu einer Art Diener. Er aber kann erkennen, dass ihn dieses Instrument auf Augenhöhe bringt. Das eigentliche Kunststück aber ist dies: David Wagner gelingt es, seinen Roman so authentisch wirken zu lassen wie ein natürlich fließendes Gespräch. Dabei erzählt er auf Deutsch von einer Istanbuler Armenierin. „Verkin“ ist ein schillerndes Glanzstück literarischer Mimikry, im Gestus demütig, doch in seinen Mitteln ganz und gar souverän.
„Look him up“, rät die
Hauptfigur: Schau im Netz
nach, alles schon da
David Wagner:
Verkin. Roman.
Rowohlt, Hamburg 2024. 400 Seiten, 28 Euro.
Glitzerndes Wasser, kreisende Möwen, im Sommer in Istanbul beginnt der opulente Roman „Verkin“.
Foto: Emrah Gurel / AP
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diskriminiert
Ein Leben, so glamourös und ambivalent wie das
der türkisch-armenischen Politikerin „Verkin“, muss
geradezu zum Roman werden. Dass sich der deutsche
Schriftsteller David Wagner von diesem Stoff
nicht überwältigen lässt, ist ein Kunststück.
VON MEIKE FESSMANN
In seiner Haut möchte man nicht stecken, obwohl er seinen Stoff geradezu auf dem Silbertablett serviert bekommt. Da steht er am Bosporus, Báron, der Dobermann der Hausherrin, hat ihn stürmisch begrüßt, er wurde durch die Marmorhalle des modernistischen Baus geführt und gerät in eine Runde illustrer Gäste. Einzeln werden sie ihm vorgestellt, darunter Tarek, einer der drei Ex-Männer der Gastgeberin. Es ist Badetag im privaten Hammam, eine Freundin kommt gerade frisch vom Schönheitschirurgen und erholt sich hier. Auch ihm, dem Erzähler, der den gleichen Namen wie der Autor trägt, wird der Kontakt angeboten. Für Botox sei es zu spät, aber ein Lifting könnte sich lohnen.
Eine feine Spur von Unbehagen sitzt im Gewebe dieses raffinierten Romans und macht ihn umso interessanter. Dabei ist „Verkin“ opulent. Wir werden verwöhnt mit Istanbul-Tableaus, mit der Beschreibung von üppigen Mahlzeiten, glitzerndem Wasser, kreisenden Möwen, mit Fahrten durch die Stadt, mal mit dem Auto, mal mit der Fähre, mit Reisen ins Sommerhaus der Gastgeberin an die lykische Küste und sogar mit einem Ausflug ganz in den Osten der Türkei, zum nahe der iranischen Grenze liegenden Vansee. Und während wir mit dem Erzähler und der titelgebenden Hauptfigur, oft von ihrer Entourage begleitet, durch die Türkei reisen, bekommen wir Verkins Lebensgeschichte präsentiert.
Eine Geschichte voller schillernder Namen und Ereignisse, von der nicht immer klar ist, wie viel daran erfunden ist, wie sehr sie stilisiert wurde, um den Zuhörer zu beeindrucken. Verkin ist eine grandiose Figur. In David Wagners Roman darf eine Frau endlich so selbstbewusst prahlen, wie man das sonst von Männern gewohnt ist. Dass sie das kann, hat mit ihrem Vermögen und ihren Verbindungen zu tun, mit einem sicheren Gespür für Macht, mit dem Widerstandsgeist einer armenischen Türkin, aber auch mit ihrem Talent, ihr Leben auszuschmücken, sich ins rechte Licht zu rücken und im richtigen Moment eine noch überraschendere Geschichte aus dem Hut zu zaubern. „Ich bin im Erzählparadies, ich muss nur zuhören“, sagt sich der Erzähler, während er in Verkins Yacht auf den sanften Wogen des Mittelmeers schaukelt. Das ist sicherlich auch ein Versuch, sich selbst zu beschwichtigen. Denn wer wüsste besser als ein Schriftsteller, dass zwischen einem guten Stoff und einem großartigen Roman die quälende Arbeit des Schreibens, Streichens, Komponierens steht?
Über Jahre hinweg reist er nach Istanbul und trifft jedes Mal auch Verkin. Die letzte Reise, die sie gemeinsam unternehmen, an die türkisch-iranische Grenze, endet mit dem Ausbruch von Covid-19 in Wuhan. Eigentlich plant er ein Buch über den Großen Basar und den Boom der Shopping-Malls. Doch das könnte auch „Tarnung“ sein, womöglich, um vor sich selbst zu verbergen, worauf er sich da einlässt. Denn Verkin gibt es wirklich, auch der Name stimmt, sogar ihr Nachname lässt sich im Buch finden, sowohl in der armenischen Form ihrer Vorfahren als auch in der turkisierten Variante ihres Vaters. Als Selfmade-Mann hat der den größten Elektrokonzern der Türkei aufgebaut und mit einer Lizenz für Elektroteile ein Vermögen verdient. Die meisten Mitglieder seiner armenischen Familie kamen beim Genozid des Osmanischen Reiches ums Leben, die anderen flüchteten von Ankara nach Istanbul.
Verkin ist eine selbstbewusste Geschäftsfrau, die sich für die Bewahrung armenischer Kulturgüter einsetzt. Sie ist Mitglied der AKP und Lokalpolitikerin. Als sie zur „Muchtar“ in Beyoğlu gewählt wird, reist der Erzähler eigens an. Wenn man sich auf Youtube ein Interview mit der realen Politikerin ansieht, ahnt man, wie viel Arbeit es gewesen sein muss, damit aus diesem Buch keine unter sanftem Druck entstandene Festschrift wird, sondern fabelhafte, die eigene Freiheit feiernde Literatur. Einmal erzählt Verkin, die Romanfigur, triumphierend vom „Blitzkrieg-Bakschisch“, das sie bereits als Schülerin in Schweizer Nobelinternaten beherrscht habe, um sich Freiheiten zu erkaufen. Bestechungen müsse man so hoch ansetzen, dass es für die meisten Menschen, selbst wenn sie moralische Skrupel haben, unmöglich sei, sie auszuschlagen.
David Wagner lässt seiner Heldin ihre ganze Ambivalenz. So gelingt ihm ein dichtes Porträt der türkischen Gesellschaft und ihrer Oberschicht mit ihren ganzen Widersprüchen: „Türkischer Surrealismus“, nennt das Verkin einmal. Gelegentlich wird das ergänzt um Aspekte der bundesdeutschen Geschichte, etwa der Entstehung der EU aus EWG und Montanunion. Verkins erster Mann, Detlev, stammt aus einer Düsseldorfer Unternehmerfamilie, die es ihm ermöglicht, sein Leben mit Reisen und Partys zu verbringen. Wie schon in früheren Büchern bedient sich David Wagner einer speziellen Kunst des Dialogs, der Zwiesprache des Erzählers mit seiner Hauptfigur, wie sie etwa in „Der vergessliche Riese“ mit dem dementen Vater geführt werden. Als Autor behält er die Zügel in der Hand, während sein Alter Ego wie eine Art Erzählbutler agiert, der lediglich zu sammeln scheint, was aus seiner Hauptfigur hervorsprudelt.
Vom Tarabya ihrer Kindheit im Norden Istanbuls, damals noch ein Fischerdorf, wo sie jeden Morgen in den Bosporus sprang, über Partyjahre in Paris, selbstverständlich inklusive Mai 1968, und dann in Los Angeles und New York reichen Verkins Geschichten. Faye Dunaway beneidete sie um ihre Klamotten von Yves Saint-Laurent, Betty und Miles Davis gingen bei ihr und ihrem zweiten Mann ein und aus. Sie lernte Angela Davis kennen, verpasste Jimi Hendrix und James Baldwin. Dem Erzähler wird das Namedropping manchmal zu viel, doch brav notiert er alles in seinem Notizbuch.
Eine Zeit lang führt Verkin das Unternehmen ihres Vaters und hat Vergnügen daran, nach Ost-Berlin zu reisen und „Glamour in den grauen Warschauer Pakt“ zu bringen. Als männlicher Begleitschutz steht ihr ein Freund zur Seite, weil sie als Frau allein nicht ernst genommen werden würde. Sogar über eine Geschlechtsumwandlung hat sie nachgedacht, um schließlich doch festzustellen, dass ihr die Widerstände, auf die sie als Frau und Armenierin trifft, willkommene Reibungsenergie liefern. „Power Stations“, „Kraftwerke des Glaubens und der Macht“ nennt sie Moscheen und Malls. Sie huldigt Erdoğan als „Ermöglicher von Konsum und Religion“.
Glücklicherweise ist der Erzähler nicht alleine mit ihr. Ein alter Freund und Atatürk-Fan liest ihr auf einer Reise die Leviten. Sie sei von der verfolgten Armenierin zur Nationalistin geworden. Auch ihre beiden Söhne lassen ihr nicht alles durchgehen. Sie weiß, dass sie „privilegiert und diskriminiert zugleich“ ist. Das „anstrengende Immer-Anderssein“ habe sie erst in den USA begriffen. Wie viele unterdrückte Minderheiten hebt auch sie ständig armenische Kulturleistungen hervor. Vom Seidenhandel im Osmanischen Reich bis zu gelungener Architektur geht in ihren Augen alles auf Armenien zurück. Das bekommt durchaus einen ironischen Dreh. Etwa, wenn sie erklärt, warum sie nie mit einem Armenier verheiratet war: „weil armenische Männer meiner Erfahrung nach alle Nachteile der christlichen Erziehung mit den schlechten Eigenschaften der Türken kombinieren, ohne deren großen Respekt für die Frauen der eigenen Familie mitzubringen, weshalb ich lieber gleich Türken geheiratet habe.“
Neben den großen Istanbul-Werken von Emine Sevgi Özdamar und Orhan Pamuk, neben Katerina Poladjans fein gezeichnetem Armenien-Roman „Hier sind Löwen“ setzt Wagners „Verkin“ einen eigenen Ton. Sein Istanbul-Roman kommt ganz ohne Melancholie aus, geradezu übersprudelnd vor Lebensenergie und doch gebändigt durch seine originelle Zweistimmigkeit. Dabei spielt das Internet eine Rolle. „Look him up“, sagt Verkin oft. Er solle im Internet nachsehen. Sie selbst hält sich damit die Verifikation ihrer Behauptungen vom Leib und degradiert ihn zu einer Art Diener. Er aber kann erkennen, dass ihn dieses Instrument auf Augenhöhe bringt. Das eigentliche Kunststück aber ist dies: David Wagner gelingt es, seinen Roman so authentisch wirken zu lassen wie ein natürlich fließendes Gespräch. Dabei erzählt er auf Deutsch von einer Istanbuler Armenierin. „Verkin“ ist ein schillerndes Glanzstück literarischer Mimikry, im Gestus demütig, doch in seinen Mitteln ganz und gar souverän.
„Look him up“, rät die
Hauptfigur: Schau im Netz
nach, alles schon da
David Wagner:
Verkin. Roman.
Rowohlt, Hamburg 2024. 400 Seiten, 28 Euro.
Glitzerndes Wasser, kreisende Möwen, im Sommer in Istanbul beginnt der opulente Roman „Verkin“.
Foto: Emrah Gurel / AP
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"David Wagner schreibt von einem Leben, das man selbst gern geführt hätte, das man sich jedoch in den kühnsten Träumen nie hätte vorstellen können. Eine Frau und ein Roman zum Niederknien." Lucy Fricke Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20241117