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Du sollst Vater und Mutter ehren! Jedes Kind kennt das biblische Gebot, aber nicht jedes hält sich daran. Familienkonflikte gibt es seit Menschengedenken, sie liefern ein unerschöpfliches Thema für die Literatur. Anhand eines Spektrums von Texten vom Alten Testament bis zu den Stücken Heiner Müllers entwirft Peter von Matt eine Typologie der Beteiligten an diesen dramatischen, häufig blutigen Auseinandersetzungen.

Produktbeschreibung
Du sollst Vater und Mutter ehren! Jedes Kind kennt das biblische Gebot, aber nicht jedes hält sich daran. Familienkonflikte gibt es seit Menschengedenken, sie liefern ein unerschöpfliches Thema für die Literatur. Anhand eines Spektrums von Texten vom Alten Testament bis zu den Stücken Heiner Müllers entwirft Peter von Matt eine Typologie der Beteiligten an diesen dramatischen, häufig blutigen Auseinandersetzungen.
Autorenporträt
Matt, Peter von
Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern, ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Zahlreiche Veröffentlichungen insbesondere zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.1995

Ich bin eine Irre, leider
Freisinnig: Peter von Matt besucht die Familie / Von Friedmar Apel

Das weiß jede und jeder: Wenn du Vater und Mutter nicht ehrst, so bist du ein schändliches und verfluchtes Kind, und ein schlimmes Ende wird es mit dir nehmen. Das steht schon in der Bibel. Das deutsche Bürgertum war schon immer fromm, und wie es im Namen biblischer Gesetze seine Kinder richtete, das kann einen entsetzen (manch einer freilich mißriet, weil er so wurde wie seine Eltern). Zwar kommt es nicht mehr so arg wie bei Absalom, der, einem Schweizer Kindervers zufolge, am Bäumli hängt, weil er Vater und Mutter nicht gefolgt hat. Und daß einem eigensinnigen Mädchen, wie in Grimms Märchen, die Hand zum Grabe herauswächst, so daß die Mutter kommen muß, um draufzuschlagen, ist neuerdings auch seltener beobachtet worden. Schrecklich genug für die Alten wie für die Jungen ist das Familiendesaster aber offenbar noch heute: Selbst im aufgeklärtesten Menschen spukt das schwarze Tier Gewissen, und mißratene Kinder bleiben letztendlich auch jene, die moralgeschwollen Gericht über ihre Eltern halten.

In Wahrheit, so erfährt man in Peter von Matts neuester literaturkriminalistischer Untersuchung, ist diese Konstellation mit ihren mehr oder weniger vertrauten Bildern schon immer noch viel komplizierter und schmerzlicher, voller Geheimnis, Subversion und Faszination gewesen. Die Literatur, jene "älteste Urkunde des Menschengeschlechts" daruntergezählt, ist der genuine Ort, an dem sich das Desaster in seiner ganzen Sinnfülle und Sinnlosigkeit vollzieht, das Familientribunal ist ihr universalstes Motiv, ja geradezu ihr Ursprung; die größten Werke der abendländischen Literatur tun nichts anderes, als es immer wieder zu inszenieren.

Für jene frommen Eltern, die meinen, früher sei das alles ganz anders und viel einfacher gewesen, und für alle, die von einer Geborgenheit in der Ordnung träumen, dürfte die Geschichte, die von Matt erzählt, allerdings eine Enttäuschung sein. Je weiter man zurückgeht, desto schwieriger verhält es sich, zumal mit der eindeutigen Schuldverteilung. Die kleine Moralität vom Königssohn, der am Baume hängt, weil er den Eltern nicht gefolgt ist, wird um so tiefgründiger, je weiter man sie zu ihren biblischen Ursprüngen, zum David-Roman zurückverfolgt. Der verkommene Sohn war nämlich möglicherweise nur die mythisch zwangsläufige Strafe für die schlimmen Handlungen Davids, die dem Herrn gar übel gefielen. Innerhalb der "desaströsen Konfliktlogik", die fortan in der Literatur wiederkehren wird, kann man ebenso Absalom recht geben wie David, und wo nach Franz Moors höhnischer Frage das Heilige steckt und wer am Ende der Bestrafte ist, läßt sich zuletzt nur interessenbestimmt entscheiden.

Die göttliche Ordnung war also von jeher enorm komplex, und die Bibel lehrte in der bürgerlichen Familie nur, was man wollte, daß sie lehrt. Mag es auch "von tausend Kanzeln eingehämmert" worden sein, das Weltgesetz, die Eltern ehren und ihnen folgen zu müssen, hat es in unbezweifelbarer Eindeutigkeit nie gegeben. Aber es rührt, wenn es schön formuliert ist, und das macht sich von Matt zufolge die Literatur zunutze, indem sie in schillernder Verwicklung Ganzheiten restauriert, die so nie existiert haben. Mit dem Leser schließt sie einen "moralischen Pakt", sie erzeugt die Moral und das Gesetz, an deren Vollzug das berührte Subjekt sich erfreuen muß, wenn es sich die Sätze in den Mund legen läßt.

Jedoch gibt es auch ein Lesen gegen den Textwillen, schließlich ein ironisch-parodistisches Lesen. Wenn man das beherrscht, so "erfährt man alles" über das Verhältnis von Norm und Bild, Regel und Vision, Gesetz und Traum. Mit Peter von Matt jedoch schließt man bereits nach wenigen Seiten der Lektüre einen Pakt und folgt ihm gern bis zu den höchsten Stufen dessen, was er "riskantes Interpretieren" nennt. Die philologischen Zweifel benennt er selbst, aber das erscheint dem Leser manchmal nur als Suspense in einer spannenden Geschichte.

Nur in der Literatur ist das Ganze und Öffentliche ersichtlich und untrennbar ans Private gebunden, und so erscheinen die Familienkonflikte immer als Abbilder der Ordnungskonflikte. An Epochenwenden spitzt sich das Konfliktgeschehen besonders dramatisch zu. Das erste Glanzstück in Matts Buch ist hier die Untersuchung der Geschichte vom Bauerntölpel "Helmbrecht" aus dem späten dreizehnten Jahrhundert, der als Absalom-Nachfahre mit langem Haar und buntem Hut gegen alle Regel und väterlichen Rat ("Deine Ordnung ist der Pflug") den eigenen Glücksweg als Raubritter sucht und mit dem es natürlich ein schlimmes Ende nimmt. Dennoch oder gerade deshalb kann man in ihm auch den Vertreter einer neuen Zeit sehen. In dem mittelalterlichen Text gibt es wider die romantische Nostalgie keine unbefragte Ordnung, die Differenz der Zeit und die latente Subversion jeden Textes bricht an ihm auf bis hinein in die namentliche Identität von Vater und Sohn. Nicht zufällig hat die ältere Forschung den Text als Drama des Vaters ("Meier Helmbrecht") gelesen, während nach 1968 eher der Sohn als Titelfigur erschien.

Hier schon wird deutlich, daß Verkommen und Mißraten in der Literatur immer auch als Autonomiegewinn und existentielle Ablösung verstanden werden kann. Emblematisch wurde das im neunzehnten Jahrhundert in Heinrich Hoffmanns Standbild vom Struwwelpeter - auch ein Absalom-Nachfahre -, der von Kindern ebensowohl als schwarze Pädagogik wie als Darstellung lustvoll erlebter Ungeschorenheit aufgefaßt werden kann. Aber warum muß dann immer wieder der "eiserne Vater" im Namen der Ordnung verurteilen, mag ihm auch "das Herz krachen", und warum gibt es immer wieder den Drang und Zwang zur Identifikation mit dem Vaterprinzip? Warum noch im zwanzigsten Jahrhundert "Opferdramen mit rituellem Einschlag" wie Brechts "Maßnahme", wo der Textwillen auf "die schluchzend-lüsterne Selbstaufgabe der Menschen im Recht des Großinquisitors" hinausläuft? Oder Heiner Müllers "Mauser", das bei allem zynischen Zweifel an der Gleichsetzung von Chor, Partei und Gesetz den mißratenen Sohn der Revolution unverdrossen auf die bevorstehende Weltenwende hoffen läßt?

Von Matts vorläufige Antwort: weil der Paternalismus die aus uralter Ansteckung rührende Krankheit der kommunistischen Parteien ist, weil sie in "römischer Linie" die im neunzehnten Jahrhundert noch einmal befestigte Identifikation von Vater, Staatsmann und vollkommenem Staat nie abgestreift haben. So muß der Mißratene domestiziert, niedergemacht oder ausgestoßen werden, mag dem eisernen Vater auch das Herz krachen. Aber natürlich ist alles noch viel schwieriger, denn auch der "verflüssigte", der heulende Vater, wie man ihn bei Lessing und Kleist antrifft, hat wenig an der desaströsen Grundkonstellation geändert. Daß die Lösung im "Homburg" keine ist, daß die Identifikation mit dem preußischen Vaterstaat gründlich und wieder einmal mißriet, wußten die Hofschranzen so gut wie Kleist selbst.

Obwohl Peter von Matt zufolge schon die "Antigone" die Fiktion der Gültigkeit des Gesetzes mit der des Vaterrechts in Frage stellt, obwohl die Frage im "Lear" in unvergleichlicher Destruktionskraft gestellt wird, obwohl Schillers "Don Carlos" den tiefsten Ordnungszweifel in die neuzeitliche Geschichte senkt, findet sich im neunzehnten Jahrhundert, exemplarisch vorgeführt an Theodor Mommsens "Römische Geschichte", die von aller Aufklärung ungerührte römisch-naturrechtliche Rechtfertigung des Unmenschlichen in der hierarchischen Gliederung der bürgerlichen Familie wieder ein. Als Literatur gelesen, entfaltet sich auch bei Mommsen die ganze fragwürdige Mythologie des vierten Gebots und der Vaterpracht, und die bange Frage, was bleibt, wenn der starke, heilige und reiche Vater oder Staat zerbröseln, lauert im Hintergrund wie eh und je. Das Gesetz aber bleibt Nebel. Gerade in der ganz unempörten und distanzierten Darstellung des Zürcher Gelehrten werden die Rückschläge der Humanität im neunzehnten Jahrhundert evident. In der Dialektik von Mythos und Aufklärung, Theokratie und Demokratie tradiert sich solcher Verschleierungszusammenhang. Dagegen treten die literarischen Gestaltungen mißratener Söhne und verkommener Töchter von Matt zufolge als gesteigerte Aufklärer an, die es wagen, die Karten auf den Tisch zu legen, Spielregeln aufzukündigen, um die sie nicht gefragt worden sind. Mißraten kann heißen: mündig zu werden und selbst zu denken, verkommen: sich den eigenen Glücksweg zu suchen, freilich oft um den Preis des tiefsten Schmerzes der Erkenntnis und der Desillusionierung des Legitimitätsstrebens.

In einer faszinierenden Lektüre der Texte der Annette von Droste-Hülshoff zeigt Peter von Matt, wie die Literatur zum Medium des lustvollen Erlebens einer Verkommenheit werden kann, die im äußeren Leben versagt bleibt. "Die Schwestern" deutet er dabei als "seelisches Trauerspiel eines einzigen Subjekts". "Ich bin eine Irre leider!": nur im Wahn kann die Frau den Gehorsam aufkündigen. Im Sturz in den Spiegel, in der Identifikation mit der verkommenen Schwester fällt das befohlene Leben mit dem verbotenen zusammen: Verkommenheit leuchtet auf als erfüllte Existenz, als Entkommen aus "peinlicher Sittsamkeit". Als Ismene und Antigone zugleich zelebriert die Droste den "luziferischen Akt" im patriarchalischen Gefüge, ohne freilich im äußeren Leben aus dem Hin und Her zwischen Bravheit und Erhebung herauszukommen. Ob "die süße Fäulnis des Verkommens", die zum Beispiel Joseph Roth genoß, jenseits wunderbarer Sätze erstrebenswert ist, ist freilich die Frage, die jedes Kind erneut auf eigenes Risiko erforschen muß.

Schon in den Droste-Kapiteln zeigt sich, daß die Rolle der Mütter im Prozeß des Verkommens oder Geratens von Kindern möglicherweise noch desaströser ist als die der Väter. In von Matts detektivischer Lektüre erweist sich Fontane als ein zutiefst bitterer Kommentator des deutschen Ehe-Diskurses und der Barbarei konventionalisierter und berechnender Mutterliebe. Louise Briest ist eiserne Mutter, weil sie die erotische in sich verbirgt, und in Effis Verkommenheit zeigt sich die andere von Eltern, die von "In-Zucht-nehmen" reden, weil sie selbst voll Unzucht sind. So wird der angeblich versöhnliche Romanschluß unterschwellig zum Gericht über das Elternpaar. Hinsichtlich des moralischen Pakts steht daher Fontane auf der Schwelle vom neunzehnten Jahrhundert, das die Perspektive der Eltern favorisiert, zur Moderne, die sich von der Sicht der Kinder herschreibt. Die Milde der Frau Poggenpuhl erklärt von Matt bereits daraus, daß eine Ordnung, die es zu erhalten gilt, nicht mehr ersichtlich ist, und in den "Buddenbrooks" wird dann schon die bürgerliche Moral als ganze zur Disposition stehen.

Als Modelltext der Moderne hinsichtlich des familialen Gerichts, des Kindes im Prüfstand, fungiert bei von Matt, es kann kaum anders sein, Kafkas "Urteil". Der Akt des Urteilens und sein Vollzug werden hier zum freien Spiel und zur großen List. Georg Bendemann ist nicht ertrunken, vielmehr entkommen, und für Kafka ist das Niederschreiben der Geschichte ein Vorgang der Selbstwerdung, des höchsten orgiastischen Erkenntnisgewinns gewesen. Der stammelnde Sohn ist fortan ein Autor von Rang, dessen literarischer Ordnung sich der Vater fortan beugen muß: "Sag, was du willst, es stammt ohnehin von mir!" Das Rätsel, warum Kafka bei den Eltern wohnen bleibt, löst von Matt nun leicht. Der Dichter braucht das perpetuierte Befreiungserlebnis als so köstliche wie schmerzhafte Inspirationsquelle, gleichsam als Laborbedingung für das Glück des Schreibens. In dieser Konstellation wird Kafkas Werk zur "Bibel des zwanzigsten Jahrhunderts", in der man das älteste Wissen um den Familienkonflikt wie zum ersten Mal erfahren kann.

Noch in der "plumpen Ungestalt des Geschehens" in Elfriede Jelineks "Lust" findet von Matt die Grundgestalt der Konfliktlogik wieder. Vor dem von stupider Libido in Gang gehaltenen Maschinenwerk moderner Wirklichkeit erscheint der Mord der Mutter am Sohn als Einbruch des Archaischen und Gericht über die Ordnung, das freilich nur zu einer Pause im mechanischen Unheilsgeschehen führt. Und auch hier eine (von Matt breitet das nicht aus) Parallele in der durchgehaltenen Schwellensituation der modernen Autorin. Folgt man dem legendären Interview von André Müller, so sitzt oben im Haus die böse, dumme Mutter, unten aber gibt sich bei zugezogenen Vorhängen die verkommene Tochter der Schmerzlust des Schreibens hin.

Peter von Matts blendend erzählte Literaturgeschichte des Familiendesasters in seiner unauflöslichen Verknüpfung mit politischer Geschichte ist ein so vergnügliches wie entsetzliches Lehrstück, ein rasantes Plädoyer gegen das Ja und Amen sagen, eine Verteidigung der angeblich grauen Demokratie gegen die Machträusche von Vätern wie von Söhnen, die alles gutheißen, solange es nur Glanz und Größe hat, aber auch ein großes Trostbuch für mißratene oder verkommene Mütter, Väter, Töchter und Söhne. Und das sind nach den Thesen Matts eigentlich alle, die Texte lesen oder schreiben müssen.

Ganz am Ende des Buches dieses freisinnigen Autors, der der Vätergermanistik längst den Rücken gekehrt hat, scheint im Rückverweis auf den Anfang etwas nicht ganz identifizierbar Biblisches hervorzulugen: ein Zipfel der Utopie einer brüderlichen Welt. Die bräuchte dann keine Literatur mehr. Aber das dauert sicher noch. Angesichts des tausendfältigen Lesevergnügens, das einem Peter von Matt beschert, ist man geneigt zu sagen: Gott, dem Vater, sei Dank!

Peter von Matt: "Verkommene Söhne, mißratene Töchter". Familiendesaster in der Literatur. Carl Hanser Verlag, München 1995. 392 S., geb., 58,- DM.

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