»Ein hochartistischer, ganz und gar europäischer Künstlerroman auf der (Gebirgs-)Höhe der Zeit.« Ina Hartwig in der 'Frankfurter Rundschau'
Sommer 2002. Die Erzählerin - Frau Fesch heißt sie, und sie sagt kein einziges Mal »ich« - kommt als Touristin, für ein Wochenende und eine Verabredung nur, und sie quartiert sich ein im »Malibu« nahe der Seepromenade von Oostende. Schnell hat sich ein kleiner Kreis gebildet, und man ist gewillt, die Zeit zu nutzen: de Rouckl, dauergekränkter Künstlertyp; Willaert, Antwerpener Parfümerist und undurchschaubarer Führer durch die belgische Stadt; und Roy, der unglücklich Verliebte, der mit seiner Großmutter da ist. Im Zentrum: die von ihrem Lover begleitete Italienerin Sonia, die »Schneeantilope«. Bald sind wir mittendrin in Kabale und Liebe ... Von der Sehnsucht in allen und in allem handelt dieser große Roman.
Sommer 2002. Die Erzählerin - Frau Fesch heißt sie, und sie sagt kein einziges Mal »ich« - kommt als Touristin, für ein Wochenende und eine Verabredung nur, und sie quartiert sich ein im »Malibu« nahe der Seepromenade von Oostende. Schnell hat sich ein kleiner Kreis gebildet, und man ist gewillt, die Zeit zu nutzen: de Rouckl, dauergekränkter Künstlertyp; Willaert, Antwerpener Parfümerist und undurchschaubarer Führer durch die belgische Stadt; und Roy, der unglücklich Verliebte, der mit seiner Großmutter da ist. Im Zentrum: die von ihrem Lover begleitete Italienerin Sonia, die »Schneeantilope«. Bald sind wir mittendrin in Kabale und Liebe ... Von der Sehnsucht in allen und in allem handelt dieser große Roman.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2020Nicht mehr ohne Bart
Kronauers Ostende
"Liest die denn nicht mal Feuilleton?" Diese Frage richtet in Brigitte Kronauers Roman "Verlangen nach Musik und Gebirge" der Parfümhändler Willaert an Frau Fesch, aus deren Perspektive der Roman anscheinend erzählt wird. Die dritte Person, die in der rhetorischen Frage abgekanzelt wird, ist eine junge Italienerin, von Beruf Friseuse. Man ist sich in Ostende begegnet, und Willaert, der seine Geschäfte von Antwerpen aus betreibt, macht sich als Badestadtführer nützlich. Die Erzählerstimme unterrichtet uns darüber, dass der polyglotte Cicerone die Frage nach dem Feuilleton auf Deutsch formuliert, nur für die Ohren von Frau Fesch, wodurch sich dem Leser die Anschlussfrage aufdrängt, ob es in italienischen Zeitungen überhaupt ein Feuilleton gibt. Die Erzählerin (oder der Erzähler) schaltet sich denn auch korrigierend ein und fällt dem Herrn der Wohlgerüche und wohlklingenden Gerüchte ins Wort: "Darum geht es nicht, Willaert, nicht um die Sache. Sie wissen das."
Willaert ist eifersüchtig, der Fremdenführer ist ein verhinderter Verführer und nimmt der Haarkünstlerin von unbewiesener Kunstfertigkeit ihr Desinteresse an seinem Vortrag über König Leopold II. nur deshalb übel, weil sie das Interesse ihres Reisebegleiters Maurizio monopolisiert. Feuilleton ist, was man noch liest, wenn man sonst nichts mehr zur Kenntnis nimmt, weder Politik noch Wirtschaft oder Sport. Der Kulturteil ist sozusagen der letzte Rest der Kultur in einem Meer barbarischer Lesefaulheit. So steht es bei Brigitte Kronauer in einem einfachen, unmissverständlichen und gleichwohl dubiosen Satz, denn der Kulturstolz Willaerts ist nur die reichlich heruntergekommene Schauseite eines verstopften Trieblebens.
Auf etliche Bücher Brigitte Kronauers, die heute vor einem Jahr verstorben ist, kann man den altmodischen Gattungsbegriff "roman feuilleton" anwenden. Sie sind episodisch, finden ihren Stoff in vermischten Nachrichten. Im Roman von 2004 sind es die "kleinen Psychodramen" einer Zufallsgesellschaft von Urlaubsbekannten, wie Ludwig Fischer in einem Aufsatzband schreibt, der auf eine Tagung in Hannover zurückgeht. Der Untertitel das Bandes (Tanja van Hoorn [Hrsg.]: "Brigitte Kronauer". Narrationen von Nebensächlichkeiten und Naturdingen. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2018. 270 S., br., 39,95 [Euro]) spricht den feuilletonistischen Zug von Kronauers Manier an.
Fischer stellt, journalistisch gesprochen, die Frage nach der Ortsmarke: Warum Ostende? Von einem Roman, der im Titel die Sehnsucht des Alpinisten beschwört, erwartet man nicht, dass er am Meer spielt. Fischers Hauptinteresse gilt einer namenlosen Erzählinstanz, deren Spuren er zwischen den Zeilen ausmacht und die nicht mit Frau Fesch identisch sein soll, ohne dass man ihre Perspektive mit der Würdeformel des Olympischen verklären sollte. Dieser Kulissenschieber hat sich in Willaert sozusagen einen Doppelgänger erschaffen: die Verkörperung des unzuverlässigen, vom kleinsten erotischen Reiz abgelenkten Erzählers. Der Duftstoffspezialist kostümiert sich wie der Lokalheilige von Ostende, der Maskenmaler James Ensor, und verwirrt sein Publikum mit der Offenbarung, "alle diese Attribute vom Bart bis hin zum schwarzen Radmantel" sollten gerade davon ablenken, dass er und Ensor in Wahrheit "ein und derselbe seien".
In den Augen von Frau Fesch gehören in Willaerts Aufzug "Bart und Biedersinn" zusammen, Dekor und Dekorum, Zeichen und Bezeichnetes einer bürgerlichen Ästhetik der "Weitwirkung und Tarnung". Aber kann der Vorwurf der Tarnung Willaert überhaupt gemacht werden, wenn der Manteltaschenspieler seine leeren Hände vorzeigt? Frau Fesch spricht nach, was sie gerade erst von Willaert gehört hat. Dieser holte Leopold II. von dem Sockel auf der Strandpromenade, von dem aus der deutschstämmige Biedermann weitwirkend aufs Meer glotzt: Lange habe er die Welt irregeführt "mit seinem Philanthropen- und Sklavereiabschaffungsbart".
Nur in einer durch und durch künstlichen Welt kann ein falscher Bart einen echten Wiedergänger markieren. Fischer beschreibt die Faszination einer Romankunst, die in fingierter Unzuverlässigkeit die eigenen poetologischen Tricks ausplaudert, als unwiderstehlich - um dann doch ein Unbehagen zu artikulieren, weil alles Thematische "zu einem bloßen ,Stoff' des intellektuellen Kunst-Vergnügens zu werden" drohe. Aber wenn Willaert darüber berichtet, dass das Leopold-Denkmal in Ostende 1931 errichtet wurde, als die Welt über die Untaten des vermeintlichen Befreiers "schon dezidiert informiert gewesen sei", nachdem sie "sich allzu gern habe täuschen lassen", dann zeigt sich, dass höchstes ästhetisches Vergnügen und schlimmstes moralisches Versagen auf demselben Prinzip beruhen: dem willentlichen Getäuschtwerden. Um die Sache geht es nicht? Nur um die Form? Das ist auch nur eine Finte Brigitte Kronauers.
PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kronauers Ostende
"Liest die denn nicht mal Feuilleton?" Diese Frage richtet in Brigitte Kronauers Roman "Verlangen nach Musik und Gebirge" der Parfümhändler Willaert an Frau Fesch, aus deren Perspektive der Roman anscheinend erzählt wird. Die dritte Person, die in der rhetorischen Frage abgekanzelt wird, ist eine junge Italienerin, von Beruf Friseuse. Man ist sich in Ostende begegnet, und Willaert, der seine Geschäfte von Antwerpen aus betreibt, macht sich als Badestadtführer nützlich. Die Erzählerstimme unterrichtet uns darüber, dass der polyglotte Cicerone die Frage nach dem Feuilleton auf Deutsch formuliert, nur für die Ohren von Frau Fesch, wodurch sich dem Leser die Anschlussfrage aufdrängt, ob es in italienischen Zeitungen überhaupt ein Feuilleton gibt. Die Erzählerin (oder der Erzähler) schaltet sich denn auch korrigierend ein und fällt dem Herrn der Wohlgerüche und wohlklingenden Gerüchte ins Wort: "Darum geht es nicht, Willaert, nicht um die Sache. Sie wissen das."
Willaert ist eifersüchtig, der Fremdenführer ist ein verhinderter Verführer und nimmt der Haarkünstlerin von unbewiesener Kunstfertigkeit ihr Desinteresse an seinem Vortrag über König Leopold II. nur deshalb übel, weil sie das Interesse ihres Reisebegleiters Maurizio monopolisiert. Feuilleton ist, was man noch liest, wenn man sonst nichts mehr zur Kenntnis nimmt, weder Politik noch Wirtschaft oder Sport. Der Kulturteil ist sozusagen der letzte Rest der Kultur in einem Meer barbarischer Lesefaulheit. So steht es bei Brigitte Kronauer in einem einfachen, unmissverständlichen und gleichwohl dubiosen Satz, denn der Kulturstolz Willaerts ist nur die reichlich heruntergekommene Schauseite eines verstopften Trieblebens.
Auf etliche Bücher Brigitte Kronauers, die heute vor einem Jahr verstorben ist, kann man den altmodischen Gattungsbegriff "roman feuilleton" anwenden. Sie sind episodisch, finden ihren Stoff in vermischten Nachrichten. Im Roman von 2004 sind es die "kleinen Psychodramen" einer Zufallsgesellschaft von Urlaubsbekannten, wie Ludwig Fischer in einem Aufsatzband schreibt, der auf eine Tagung in Hannover zurückgeht. Der Untertitel das Bandes (Tanja van Hoorn [Hrsg.]: "Brigitte Kronauer". Narrationen von Nebensächlichkeiten und Naturdingen. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2018. 270 S., br., 39,95 [Euro]) spricht den feuilletonistischen Zug von Kronauers Manier an.
Fischer stellt, journalistisch gesprochen, die Frage nach der Ortsmarke: Warum Ostende? Von einem Roman, der im Titel die Sehnsucht des Alpinisten beschwört, erwartet man nicht, dass er am Meer spielt. Fischers Hauptinteresse gilt einer namenlosen Erzählinstanz, deren Spuren er zwischen den Zeilen ausmacht und die nicht mit Frau Fesch identisch sein soll, ohne dass man ihre Perspektive mit der Würdeformel des Olympischen verklären sollte. Dieser Kulissenschieber hat sich in Willaert sozusagen einen Doppelgänger erschaffen: die Verkörperung des unzuverlässigen, vom kleinsten erotischen Reiz abgelenkten Erzählers. Der Duftstoffspezialist kostümiert sich wie der Lokalheilige von Ostende, der Maskenmaler James Ensor, und verwirrt sein Publikum mit der Offenbarung, "alle diese Attribute vom Bart bis hin zum schwarzen Radmantel" sollten gerade davon ablenken, dass er und Ensor in Wahrheit "ein und derselbe seien".
In den Augen von Frau Fesch gehören in Willaerts Aufzug "Bart und Biedersinn" zusammen, Dekor und Dekorum, Zeichen und Bezeichnetes einer bürgerlichen Ästhetik der "Weitwirkung und Tarnung". Aber kann der Vorwurf der Tarnung Willaert überhaupt gemacht werden, wenn der Manteltaschenspieler seine leeren Hände vorzeigt? Frau Fesch spricht nach, was sie gerade erst von Willaert gehört hat. Dieser holte Leopold II. von dem Sockel auf der Strandpromenade, von dem aus der deutschstämmige Biedermann weitwirkend aufs Meer glotzt: Lange habe er die Welt irregeführt "mit seinem Philanthropen- und Sklavereiabschaffungsbart".
Nur in einer durch und durch künstlichen Welt kann ein falscher Bart einen echten Wiedergänger markieren. Fischer beschreibt die Faszination einer Romankunst, die in fingierter Unzuverlässigkeit die eigenen poetologischen Tricks ausplaudert, als unwiderstehlich - um dann doch ein Unbehagen zu artikulieren, weil alles Thematische "zu einem bloßen ,Stoff' des intellektuellen Kunst-Vergnügens zu werden" drohe. Aber wenn Willaert darüber berichtet, dass das Leopold-Denkmal in Ostende 1931 errichtet wurde, als die Welt über die Untaten des vermeintlichen Befreiers "schon dezidiert informiert gewesen sei", nachdem sie "sich allzu gern habe täuschen lassen", dann zeigt sich, dass höchstes ästhetisches Vergnügen und schlimmstes moralisches Versagen auf demselben Prinzip beruhen: dem willentlichen Getäuschtwerden. Um die Sache geht es nicht? Nur um die Form? Das ist auch nur eine Finte Brigitte Kronauers.
PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Patrick Bahners feiert diesen Roman als "Protokoll eines sinnespsychologischen Experiments in moralischer Tradition". DerTitel stammt seinen Informationen zufolge aus dem Abschnitt 119 des zweiten Buchs von Friedrich Nietzsches "Morgenröte", in dem es um das Erdichten von Erleben geht. Wie in ihren früheren Büchern begeistert Brigitte Kronauer den Rezensenten auch mit ihrer Form- und Konstruktionskunst. Schauplatz ist ein unwirtlicher Badeort. Hier sieht Bahners die Autorin einen "Geistesblitzkrieg" führen und "Seelenbunker" mit "unsichtbaren Kritzeleien" bedecken, hinter denen sich andere Ichs verschanzen, wie unser Rezensent in edler Euphorie vor sich hin spintisiert. Bei den Protagonisten handelt es sich seinen Informationen zufolge um den mit seiner Großmutter reisenden Roy und eine schöne Italienerin namens Sonia, in die sich Roy natürlich verliebt. Was genau sich im Roman ereignet, ist den Ausführungen des Rezensenten leider nicht wirklich zu entnehmen. Aber er ist auch ein Denkmal für den Maler James Ensor, meint Bahners.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2004Frau Hochzart und Herr Langzahn
An diesem und am anderen Ufer: Brigitte Kronauer hat einen Liebes-, Meeres- und Belgien-Roman geschrieben, der vom platten Land und vom Verlangen nach Musik und Gebirge handelt
Der Wind, von dem sich der Schlager sein Lied erzählen lässt, weht nicht irgendwo. Er weht am Meer und ist mit der Sehnsucht im Bunde. Aber nicht nur mit der Sehnsucht, sondern auch mit dem spöttischen Lachen der Möwen, dem Zerzausen pathetischer Hoffnungen. Küsten und Strände, zumal in der Urlaubssaison, sind Risikozonen zwischen Slapstick und Selbstverlust. Der bewegliche Grenzstreifen, an dem das flüssige Element ans Festland schlägt, ist das horizontale Gegenstück zum vertikalen Abgrund, der Drohung des Gebirges. Nicht nur, weil das Meer gelegentlich einen Liebhaber in sich hineinzieht. Sondern vor allem, weil Ebbe und Flut, Leere und Horizont darauf lauern, ins Innere ihrer Betrachter einzuwandern, die Küstenlinien ihres Lebens aufzuweichen, ihre gesamte Existenz zu verflüssigen. Oder, wenn ihnen dies nicht gelingt, sie dazu zu zwingen, ihre vollendete Banalität zu offenbaren.
In ihrem neuen Roman hat Brigitte Kronauer eine zufällig zusammengewürfelte Urlaubsgesellschaft im belgischen Seebad Oostende versammelt. Von Beginn an lässt sie keinen Zweifel daran, dass sie weiß, was sie tut: „Hier versuchen die Spielzeugläden unten in den Hochhäusern mit Gummidämonen einem anbrandenden, gesuchten und gefürchteten Nichtsda! Zu trotzen.” Im Zug lässt sie einige Figuren anreisen, an Brügge vorbei, über flaches Land, der Meerluft entgegen. Aber das Oostende, in dem sie ankommen, spielt die Rolle des Seebads durchaus nicht ohne Widerstreben. Es ist eine graue Stadt am Meer, voller Baukräne, die ihre Appartmentanlagen wie Schutzwälle, die Fen-ster wie Schießscharten gegen den leeren Horizont kehrt, den Urlaubsgästen nicht nur den Meerblick bietet, sondern zugleich allerlei küstenabgewandte Vergnügungen, die den „Einebnungsattacken von Himmel, Sand, See” begegnen.
Es kommt vor, dass Oostende im Abendlicht aufleuchtet, aber Farbe, glühend aufreizende Farbe bekommt es in diesem Roman erst durch die Bilder seines großen Sohnes, des Malers James Ensor (1860-1949). Zu ihm steht die Stadt, in der er im Abseits lebte, wie zum Meer: Halb ist sie stolz auf ihn, halb fürchtet sie das Glühen, in das er sie hineinreißt. Brigitte Kronauer leiht sich von Ensor seine Masken aus und setzt sie ihren Figuren auf, während sie Zug um Zug in den Mummenschanz ihrer Urlaubsabenteuer hineingleiten. Der Zeremonienmeister ist ein halbseidener Parfümeriehändler aus Antwerpen, der als Ensor-Wiedergänger und belgischer Cicerone den Parcours der Strandspaziergänge und Ausflüge absteckt.
Herman Melville und Joseph Conrad, denen Brigitte Kronauer in ihren Essays immer wieder Reverenz erwiesen hat, lassen ihre Figuren vom Festland ablegen, durchnässen sie auf hoher See. Das „Stranden”, das „Anlanden” und „Auflaufen” hat zumal Conrad aus der Perspektive maritimer Existenz als bedrohliche Grenzerfahrung, als das nicht minder prekäre Gegenstück des Sinkens beschrieben. Der Moment, in dem das Land hart nach dem Kiel des Schiffes greift, erscheint als schockhafte Vernichtung des seemännischen Lebenszweckes: den Kiel frei von Grund zu halten. Brigitte Kronauer fasst in diesem Buch das Stranden aus der Sicht der Landratten ins Auge. Ihre Figuren sind im Hotel „Malibu” an der Wapenplein versammelt, um den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Nixe, deren Lockungen sie folgen, und zugleich das Meeresungeheuer, dessen sie sich zu erwehren haben, ist die Elementarkraft, von der Wind und Schlager erzählen, die Liebe.
Mit Präliminarien hält sich Brigitte Kronauer bei ihrem maliziösen Anrichten der Liebesunordnung nicht auf. Schon am Bahnhof lässt sie den jungen Mann Roy, der in Begleitung seiner koboldartigen, hexenhaften Großmutter anreist, einer Schönen aus Italien verfallen, die mit ihrem muskulösen Maurizio ein Paar nur deshalb bildet, damit der Seewind etwas hat, was er auseinandertreiben kann. Der elegante Parfümeriehändler, das Ensor-Double, ist dieser Wind. Er will den italienischen Lover seiner Schönen entführen und ans andere, an sein Ufer zu ziehen, indem er den unterbeschäftigten Geist des Muskelmanns weckt und in seinen Bann schlägt. Der Freund und Widerpart des Elegants, ein heruntergekommener Künstler, in Pullover gehüllt, die nicht eben ätherisch duften, exekutiert derweil die niedere Liebeskomödie mit der Hotelangestellten Betty, die dabei eine Ensorsche Teufelsmaske trägt.
Die schöne Italienerin, langhalsig und träge-vegetativ, ähnelt mal einer Taglilie, mal einer afrikanischen Antilopenart. Aber so wenig wie die Kosenamen, mit denen der Roman sie spöttisch umschmeichelt, bleibt die Jugendstil-Maske an ihr haften. Sie verfällt am Ende nicht dem Schmachten des jungen Roy, der sein Hinken tapfer überspielt, sondern der anonymen Lustofferte einer der männlichen Hyänen, die in Seebädern auf Beute ausgehen.
Und dann ist da noch Frau Fesch, begabt mit bösem Blick und scharfer Zunge. Sie erzählt diesen durchtriebenen Roman und hat dafür eine Tarnkappe aufgesetzt: das kleine, unpersönliche Pronomen „man”. Dergestalt entzieht sie sich der Pflicht zu treuherzigem Augenaufschlag und beflissener Beglaubigung, die dem allgegenwärtigen Ich in der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur auferlegt ist. Allenfalls zum Spott setzt sie die Maske der Authentizitätsgarantin auf. Bei der inneren Aushöhlung, die schon in Eduard Keyserlings „Wellen” (1911) die Prosa des 19. Jahrhunderts im Blick auf das Meer ergriff, belässt sie es nicht. Ihre Sprache ist von der Gischt der Formexperimente des 20. Jahrhunderts durchtränkt. Wie Schaumkronen tanzen die Fragen über ihrer Prosa, in Klammern gesetzte Alternativen, Parenthesen und Interjektionen wirbeln die Sätze auf wie Sand. Das nervöse, überwache Parlando nimmt wie die Sottisen und Seufzer der gemischtsprachigen Gesellschaft die Gräuel der belgischen Kolonialgeschichte und die der Deutschen in Belgien als Strandgut der Konversation in sich auf.
Doch ist der Roman zwar Mummenschanz, aber nicht Farce. Er trägt seinen Nietzsche entlehnten Titel zu recht: sein „Verlangen nach Musik und Gebirge” ist unstillbar, sein letztes Wort „Flut”, das Gebirge des Meeres. Frau Fesch ist in Erwartung eines Geliebten an die Küste gereist. Nicht von ungefähr wohnt in ihrem Nebenzimmer eine ehemalige Sängerin, ist das Liebeszentrum italienisch, in der Sprache der Oper besetzt. Frau Fesch hat ein Libretto nach einer Erzählung von Joseph Conrad im Gepäck. Es wird vom Ensor-Double verlesen, ist in gut romantischer Tradition Teil des Romans. Das Sujet? Ein Liebestod auf einer Insel im Indischen Ozean. Wie Frau Fesch wartet das Libretto auf den Geliebten. Er soll es in Musik setzen. Denn dieser gefühlskluge Roman hat eine große Sehnsucht nach der Oper.
Brigitte Kronauer
Verlangen nach Musik und Gebirge. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004. 390 Seiten, 22 Euro.
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An diesem und am anderen Ufer: Brigitte Kronauer hat einen Liebes-, Meeres- und Belgien-Roman geschrieben, der vom platten Land und vom Verlangen nach Musik und Gebirge handelt
Der Wind, von dem sich der Schlager sein Lied erzählen lässt, weht nicht irgendwo. Er weht am Meer und ist mit der Sehnsucht im Bunde. Aber nicht nur mit der Sehnsucht, sondern auch mit dem spöttischen Lachen der Möwen, dem Zerzausen pathetischer Hoffnungen. Küsten und Strände, zumal in der Urlaubssaison, sind Risikozonen zwischen Slapstick und Selbstverlust. Der bewegliche Grenzstreifen, an dem das flüssige Element ans Festland schlägt, ist das horizontale Gegenstück zum vertikalen Abgrund, der Drohung des Gebirges. Nicht nur, weil das Meer gelegentlich einen Liebhaber in sich hineinzieht. Sondern vor allem, weil Ebbe und Flut, Leere und Horizont darauf lauern, ins Innere ihrer Betrachter einzuwandern, die Küstenlinien ihres Lebens aufzuweichen, ihre gesamte Existenz zu verflüssigen. Oder, wenn ihnen dies nicht gelingt, sie dazu zu zwingen, ihre vollendete Banalität zu offenbaren.
In ihrem neuen Roman hat Brigitte Kronauer eine zufällig zusammengewürfelte Urlaubsgesellschaft im belgischen Seebad Oostende versammelt. Von Beginn an lässt sie keinen Zweifel daran, dass sie weiß, was sie tut: „Hier versuchen die Spielzeugläden unten in den Hochhäusern mit Gummidämonen einem anbrandenden, gesuchten und gefürchteten Nichtsda! Zu trotzen.” Im Zug lässt sie einige Figuren anreisen, an Brügge vorbei, über flaches Land, der Meerluft entgegen. Aber das Oostende, in dem sie ankommen, spielt die Rolle des Seebads durchaus nicht ohne Widerstreben. Es ist eine graue Stadt am Meer, voller Baukräne, die ihre Appartmentanlagen wie Schutzwälle, die Fen-ster wie Schießscharten gegen den leeren Horizont kehrt, den Urlaubsgästen nicht nur den Meerblick bietet, sondern zugleich allerlei küstenabgewandte Vergnügungen, die den „Einebnungsattacken von Himmel, Sand, See” begegnen.
Es kommt vor, dass Oostende im Abendlicht aufleuchtet, aber Farbe, glühend aufreizende Farbe bekommt es in diesem Roman erst durch die Bilder seines großen Sohnes, des Malers James Ensor (1860-1949). Zu ihm steht die Stadt, in der er im Abseits lebte, wie zum Meer: Halb ist sie stolz auf ihn, halb fürchtet sie das Glühen, in das er sie hineinreißt. Brigitte Kronauer leiht sich von Ensor seine Masken aus und setzt sie ihren Figuren auf, während sie Zug um Zug in den Mummenschanz ihrer Urlaubsabenteuer hineingleiten. Der Zeremonienmeister ist ein halbseidener Parfümeriehändler aus Antwerpen, der als Ensor-Wiedergänger und belgischer Cicerone den Parcours der Strandspaziergänge und Ausflüge absteckt.
Herman Melville und Joseph Conrad, denen Brigitte Kronauer in ihren Essays immer wieder Reverenz erwiesen hat, lassen ihre Figuren vom Festland ablegen, durchnässen sie auf hoher See. Das „Stranden”, das „Anlanden” und „Auflaufen” hat zumal Conrad aus der Perspektive maritimer Existenz als bedrohliche Grenzerfahrung, als das nicht minder prekäre Gegenstück des Sinkens beschrieben. Der Moment, in dem das Land hart nach dem Kiel des Schiffes greift, erscheint als schockhafte Vernichtung des seemännischen Lebenszweckes: den Kiel frei von Grund zu halten. Brigitte Kronauer fasst in diesem Buch das Stranden aus der Sicht der Landratten ins Auge. Ihre Figuren sind im Hotel „Malibu” an der Wapenplein versammelt, um den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Nixe, deren Lockungen sie folgen, und zugleich das Meeresungeheuer, dessen sie sich zu erwehren haben, ist die Elementarkraft, von der Wind und Schlager erzählen, die Liebe.
Mit Präliminarien hält sich Brigitte Kronauer bei ihrem maliziösen Anrichten der Liebesunordnung nicht auf. Schon am Bahnhof lässt sie den jungen Mann Roy, der in Begleitung seiner koboldartigen, hexenhaften Großmutter anreist, einer Schönen aus Italien verfallen, die mit ihrem muskulösen Maurizio ein Paar nur deshalb bildet, damit der Seewind etwas hat, was er auseinandertreiben kann. Der elegante Parfümeriehändler, das Ensor-Double, ist dieser Wind. Er will den italienischen Lover seiner Schönen entführen und ans andere, an sein Ufer zu ziehen, indem er den unterbeschäftigten Geist des Muskelmanns weckt und in seinen Bann schlägt. Der Freund und Widerpart des Elegants, ein heruntergekommener Künstler, in Pullover gehüllt, die nicht eben ätherisch duften, exekutiert derweil die niedere Liebeskomödie mit der Hotelangestellten Betty, die dabei eine Ensorsche Teufelsmaske trägt.
Die schöne Italienerin, langhalsig und träge-vegetativ, ähnelt mal einer Taglilie, mal einer afrikanischen Antilopenart. Aber so wenig wie die Kosenamen, mit denen der Roman sie spöttisch umschmeichelt, bleibt die Jugendstil-Maske an ihr haften. Sie verfällt am Ende nicht dem Schmachten des jungen Roy, der sein Hinken tapfer überspielt, sondern der anonymen Lustofferte einer der männlichen Hyänen, die in Seebädern auf Beute ausgehen.
Und dann ist da noch Frau Fesch, begabt mit bösem Blick und scharfer Zunge. Sie erzählt diesen durchtriebenen Roman und hat dafür eine Tarnkappe aufgesetzt: das kleine, unpersönliche Pronomen „man”. Dergestalt entzieht sie sich der Pflicht zu treuherzigem Augenaufschlag und beflissener Beglaubigung, die dem allgegenwärtigen Ich in der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur auferlegt ist. Allenfalls zum Spott setzt sie die Maske der Authentizitätsgarantin auf. Bei der inneren Aushöhlung, die schon in Eduard Keyserlings „Wellen” (1911) die Prosa des 19. Jahrhunderts im Blick auf das Meer ergriff, belässt sie es nicht. Ihre Sprache ist von der Gischt der Formexperimente des 20. Jahrhunderts durchtränkt. Wie Schaumkronen tanzen die Fragen über ihrer Prosa, in Klammern gesetzte Alternativen, Parenthesen und Interjektionen wirbeln die Sätze auf wie Sand. Das nervöse, überwache Parlando nimmt wie die Sottisen und Seufzer der gemischtsprachigen Gesellschaft die Gräuel der belgischen Kolonialgeschichte und die der Deutschen in Belgien als Strandgut der Konversation in sich auf.
Doch ist der Roman zwar Mummenschanz, aber nicht Farce. Er trägt seinen Nietzsche entlehnten Titel zu recht: sein „Verlangen nach Musik und Gebirge” ist unstillbar, sein letztes Wort „Flut”, das Gebirge des Meeres. Frau Fesch ist in Erwartung eines Geliebten an die Küste gereist. Nicht von ungefähr wohnt in ihrem Nebenzimmer eine ehemalige Sängerin, ist das Liebeszentrum italienisch, in der Sprache der Oper besetzt. Frau Fesch hat ein Libretto nach einer Erzählung von Joseph Conrad im Gepäck. Es wird vom Ensor-Double verlesen, ist in gut romantischer Tradition Teil des Romans. Das Sujet? Ein Liebestod auf einer Insel im Indischen Ozean. Wie Frau Fesch wartet das Libretto auf den Geliebten. Er soll es in Musik setzen. Denn dieser gefühlskluge Roman hat eine große Sehnsucht nach der Oper.
Brigitte Kronauer
Verlangen nach Musik und Gebirge. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004. 390 Seiten, 22 Euro.
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