Hinrich, dem ein »e« zum eleganteren Heinrich fehlt, erhält einen Brief mit schwarzem Rand - wer kann da gestorben sein? Er hat nur vage Vermutungen und scheut sich, den Brief zu öffnen; ihn bewegt schon genug seit dem Ausscheiden bei einer großen Zeitung, dort einmal zuständig für Regionalkultur. Die Tage und Nächte gehören jetzt ihm und der Frage, warum sich Irene, seine Frau, vor Jahren das Leben genommen hat. Und mit jedem neuen Warum kommen die Erinnerungen: an Irene, die Übersetzerin italienischer Literatur, etwa die Gedichte Pasolinis, an die Sommer in Italien, an Orte wie Rom oder Pompeji, und nicht zuletzt an Irene als Mutter seiner nun erwachsenen Tochter Naomi. Deren Sohn Malte hilft Hinrich gerade durchs Abitur, und sein Enkel überredet ihn zu einem Abenteuer: Sie lösen ein Konto in der Schweiz auf und schaffen das Schwarzgeld über die Grenze - Geld, das Hinrich auf keinen Fall behalten will und das ihn nach Polen reisen lässt, zu jemandem, der es gebrauchen kann. In Warschau aber holt ihn sowohl das Leben mit Irene als auch die Zeit mit einer früheren Geliebten auf eine Weise ein, die alles auf den Kopf stellt, woran er geglaubt hat.»Verlangen und Melancholie« ist eine Geschichte von Liebe und Verrat, in der mit wachsender Spannung unerbittlich die Frage nach dem Warum eines Freitods gestellt wird. Erst als mit der Antwort offenliegt, welches Leben sich der Mensch, den man am besten zu kennen glaubte, genommen hat, setzt das Verzeihen ein.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Aus einem Guss und stimmig bis ins kleinste Motiv scheint Bodo Kirchhoffs Roman dem Rezensenten Hubert Spiegel. Dass der Autor auf der Höhe seiner Kunst operiert, ist für Spiegel zweifellos. Und doch bleibt da für Spiegel die Frage, ob sich dem Thema Liebe mit derartiger Perfektion zu nähern sei. Mitnichten, meint er und freut sich, dass der Autor das offenbar ähnlich sieht. Unter der glatten Oberfläche des Textes nämlich entdeckt Spiegel scharfe Kontraste und harsche Brüche, einen "Riss in den Seelen" der Figuren, nicht zuletzt in derjenigen der Hauptfigur, die sich nach dem Selbstmord der Partnerin selbst nicht mehr erkennen kann und für die Liebe, wie sich für Spiegel zeigt, eine "einsame Sache" ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2014Der Mann, dem immer etwas fehlte
Blind mit fremden Augen: Bodos Kirchhoffs großer, meisterlicher Roman "Verlangen und Melancholie" führt in die Abgründe zwischen Mann und Frau.
Dieser Roman ist aus einem Guss, der sorgfältig komponierte Wurf eines großen Erzählers. Hier stimmt nahezu alles: kein Bogen, und sei er noch so groß, der sich am Ende nicht runden würde, kein Erzählfädchen, das auf der Strecke von 450 Seiten verlorenginge, kein Motiv, das sich nicht gehorsam an jener Stelle in die Kette einfügte, die der Erzähler dafür vorgesehen hatte. Bodo Kirchhoff ist auf der Höhe seiner Kunst angelangt, ein souveräner Meister in der Beherrschung seiner Mittel. Das ist es, was man gemeinhin als Virtuosität bezeichnet.
Aber fehlt da nicht etwas? Lässt es sich überhaupt virtuos und makellos über die Liebe und den Tod, über Verlangen und Sehnsucht, Eros und Erinnerung schreiben, ohne dass sich ein leises Unbehagen einschliche, weil Perfektion nur um den Preis der Leblosigkeit zu haben ist? "Verlangen und Melancholie" ist ein glänzend geschriebenes Buch, aber seine Kraft und seine Wirkung bezieht dieser Roman vor allem aus seinen scharfen Kontrasten und brutalen Brüchen. Die geschlossen wirkende Oberfläche täuscht. Hier regiert der Riss in den Seelen. Bodo Kirchhoff blickt liebevoll auf seine Figuren, auf die Liebe und die Liebenden. Verzückt schaut er ihnen zu, begeistert und gerührt, sentimental und mitleidig. Aber nie vergisst er, wie unbarmherzig und rücksichtslos es unter ihnen zugehen kann. Man könnte sagen, dass Kirchhoff der Liebe huldigt, wie man eine Göttin preist, deren unverhüllte Gegenwart den Tod bedeutet.
Irene hat sich umgebracht. Als der Roman einsetzt, liegt ihr Sprung in die Tiefe neun Jahre zurück. Wir sehen Kirchhoffs Ich-Erzähler, den ehemaligen Kulturredakteur einer großen Frankfurter Tageszeitung, als Pensionär und Witwer: einen Mann mit mehr Zeit, als er brauchen kann, und mehr Erinnerungen, als sich ertragen ließen. Alles, was im Folgenden geschieht, ist unauflöslich verknüpft mit Irenes Tod und den Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben. Hinrich lebt in zwei Zeitzonen zugleich: Nie findet er sich vollständig in der Gegenwart, immer ist ein Teil von ihm bei Irene und mit ihr beschäftigt. Er zermartert sich das Hirn bei der Suche nach den Gründen für ihren Todessprung und weiß dabei nicht einmal, wie sehr er des Rätsels Lösung fürchtet. Er rekonstruiert unablässig die zärtlichsten, wildesten, leidenschaftlichsten und bedeutungsvollsten Momente ihrer gemeinsamen Zeit und erschafft so das Bild seiner Frau und seiner Ehe, ohne dass wir wissen könnten, was wir ihm glauben dürfen und was nicht. Hinrich ist klug, aber er macht einen gewichtigen Fehler: Nicht jede Erinnerung darf schon allein deshalb als authentisch gelten, weil sie schmerzt.
Jede Ablenkung ist dem Trauernden willkommen: Das gilt für die nächtlichen Tierfilme im Fernsehen und die schöne Polin Zusan an der Kasse bei Woolworth, für den Nachhilfeunterricht, den Enkel Malte fürs Abitur in Sachen Ethik und Romantik dringend braucht, und für den Ausflug in die Schweiz, wo Großvater und Enkel ererbtes Schwarzgeld am Zoll vorbei nach Deutschland schmuggeln wollen.
Die Zürich-Episode ist eine witzige Räuberpistole mit gerollten Banknoten in Ketchupflaschen. Ein banaler Vorgang wie die Schließung der Woolworth-Filiale in Frankfurt-Sachsenhausen gerät Kirchhoff zur atmosphärisch dichten Großstadtstudie, die ihresgleichen suchen muss. Mit Zusan entwickelt sich eine Affäre, die schließlich zu einem wichtigen Abstecher nach Warschau führt, während die Zürich-Episode in die Wiederbegegnung mit einer Jugendliebe mündet: Almuth Bürkle ist die Frau, die den jungen Hinrich "zum Mann" gemacht hat, wie es ein ums andere Mal heißt.
Denn was den Mann zum Mann und die Frau zur Frau macht, davon haben Bodo Kirchhoff und sein Erzähler Vorstellungen, die auf eine nicht ganz zeitgemäße Weise klar und deutlich sind. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass hier ein Geschlechterbild gepflegt wird, das ein wenig statisch anmutet. Freundlicher formuliert: überzeitlich. Deshalb kann Irene sich mühelos sogar in den Liebenden in Pompeji wiedererkennen, die vom Vulkanausbruch überrascht wurden. In Hinrichs Worten: "Die Frauen lagen auf dem Rücken, noch im Sterben ergeben." Dass er selbst aber keineswegs dem klassischen Klischeebild des Mannes entspricht, scheint Hinrich nicht zu bemerken. Im Grunde hat er gar keine Vorstellung von sich. Der Mann, den einst seine zupackende Jugendliebe zum Mann gemacht hatte, hat sich zeitlebens nur mit den Augen seiner Frauen gesehen. Das ist der brutalste Bruch der Erzählperspektive, die dieses Buch bestimmt: Seit Irenes Tod, der alles in Frage gestellt hat, weiß Hinrich nicht mehr, was er von sich halten soll. Er ist mit fremden Augen blind.
Auch deshalb ist Kirchhoffs Ich-Erzähler ein vom Verlust Besessener. Er ist der Mann, dem immer etwas fehlt: zum viel würdevoller klingenden Namen Heinrich das e und zur erfüllten Berufskarriere der Sprung vom Umlandressort in den großen überregionalen Kulturteil, der ihm jedoch verwehrt blieb. Hinrich spürt den Stachel des Ungenügens an sich selbst, aber er leidet nicht darunter. Das unterscheidet ihn von seiner Frau. Hinrich ist einer, der erträgt, Irene ist eine, die verlangt. Aber weil ihr Verlangen namenlos bleibt, muss es in Verzweiflung münden. Ihr Name endet mit jenem Buchstaben, der Hinrich von einem Heinrich von Kleist unterscheidet. Ihr Leben endet, weil ihr auf Erden nicht zu helfen war.
Bodo Kirchhoff versagt sich diese berühmte Formel. Er deutet nur einmal beiläufig an, dass Irenes Leid einer bipolaren Störung geschuldet sein könnte, und charakterisiert sie lieber anhand ihrer Vorlieben und Lektüren: Im Kino wie im Leben bevorzugt sie das Schwere, lässt sich aber vom Leichten verführen. Kleist und Pasolini sind ihre Gewährsmänner, Camillo Boitos Novelle "Senso" ist der Text, an dem die perfektionistische Übersetzerin Irene scheiterte.
Hinrich studiert ihre Aufzeichnungen und Notizen, weil er hofft, dass die Stelle, an der Irene ihr Übersetzungsprojekt verzweifelt aufgab, einen Hinweis auf die Gründe für ihren Selbstmord enthält. Dabei muss man "Senso", von Luchino Visconti 1956 verfilmt, nicht übersetzen, um wissen zu können, dass die Geschichte von einer Frau handelt, die den Mann, den sie liebt, in den Tod schickt, weil sie sich von ihm verraten und gedemütigt fühlte. Kirchhoff schwelgt in kleinen Frankfurt-Beobachtungen und großen Italien-Panoramen. Es geht nicht nur nach Zürich, sondern auch nach Neapel und Pompeji, weil Tochter Naomi eine Ausstellung über "Eros in Pompeji" kuratiert und Hinrich sich als Museumsaufsicht beworben hat. Schauplatz der wichtigsten und heikelsten Szenen dieses Romans ist jedoch Warschau.
Hier findet das einzige ausführliche Zwiegespräch in diesem Roman über Männer und Frauen statt. Geführt wird es von zwei Männern, und es gilt einer toten Frau. Dass Jerzy Tannenbaum, mehr Kollege als Freund Hinrichs, ein polnischer Jude ist, dessen Eltern von den Nazis deportiert wurden, kann zunächst irritieren, denn was sollte der Holocaust mit Irenes Selbstmord zu tun haben? Doch auch Tannenbaum dient der indirekten Charakterisierung Irenes. Zu Anfang des Romans hatte Hinrich eine Traueranzeige erreicht, die er nicht zu öffnen wagte. Immer wieder hat Kirchhoff den Blick des Lesers auf den Umschlag mit dem schwarzen Rand gerichtet. Jetzt zeigt sich: Er enthält die Nachricht vom Verlust eines Menschen, nach dem Hinrich sich immer gesehnt hatte, ohne zu wissen, dass es ihn tatsächlich gab. Die Liebe bei Bodo Kirchhoff ist eine einsame Sache.
HUBERT SPIEGEL
Bodo Kirchhoff: "Verlangen und Melancholie". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014. 445 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Blind mit fremden Augen: Bodos Kirchhoffs großer, meisterlicher Roman "Verlangen und Melancholie" führt in die Abgründe zwischen Mann und Frau.
Dieser Roman ist aus einem Guss, der sorgfältig komponierte Wurf eines großen Erzählers. Hier stimmt nahezu alles: kein Bogen, und sei er noch so groß, der sich am Ende nicht runden würde, kein Erzählfädchen, das auf der Strecke von 450 Seiten verlorenginge, kein Motiv, das sich nicht gehorsam an jener Stelle in die Kette einfügte, die der Erzähler dafür vorgesehen hatte. Bodo Kirchhoff ist auf der Höhe seiner Kunst angelangt, ein souveräner Meister in der Beherrschung seiner Mittel. Das ist es, was man gemeinhin als Virtuosität bezeichnet.
Aber fehlt da nicht etwas? Lässt es sich überhaupt virtuos und makellos über die Liebe und den Tod, über Verlangen und Sehnsucht, Eros und Erinnerung schreiben, ohne dass sich ein leises Unbehagen einschliche, weil Perfektion nur um den Preis der Leblosigkeit zu haben ist? "Verlangen und Melancholie" ist ein glänzend geschriebenes Buch, aber seine Kraft und seine Wirkung bezieht dieser Roman vor allem aus seinen scharfen Kontrasten und brutalen Brüchen. Die geschlossen wirkende Oberfläche täuscht. Hier regiert der Riss in den Seelen. Bodo Kirchhoff blickt liebevoll auf seine Figuren, auf die Liebe und die Liebenden. Verzückt schaut er ihnen zu, begeistert und gerührt, sentimental und mitleidig. Aber nie vergisst er, wie unbarmherzig und rücksichtslos es unter ihnen zugehen kann. Man könnte sagen, dass Kirchhoff der Liebe huldigt, wie man eine Göttin preist, deren unverhüllte Gegenwart den Tod bedeutet.
Irene hat sich umgebracht. Als der Roman einsetzt, liegt ihr Sprung in die Tiefe neun Jahre zurück. Wir sehen Kirchhoffs Ich-Erzähler, den ehemaligen Kulturredakteur einer großen Frankfurter Tageszeitung, als Pensionär und Witwer: einen Mann mit mehr Zeit, als er brauchen kann, und mehr Erinnerungen, als sich ertragen ließen. Alles, was im Folgenden geschieht, ist unauflöslich verknüpft mit Irenes Tod und den Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben. Hinrich lebt in zwei Zeitzonen zugleich: Nie findet er sich vollständig in der Gegenwart, immer ist ein Teil von ihm bei Irene und mit ihr beschäftigt. Er zermartert sich das Hirn bei der Suche nach den Gründen für ihren Todessprung und weiß dabei nicht einmal, wie sehr er des Rätsels Lösung fürchtet. Er rekonstruiert unablässig die zärtlichsten, wildesten, leidenschaftlichsten und bedeutungsvollsten Momente ihrer gemeinsamen Zeit und erschafft so das Bild seiner Frau und seiner Ehe, ohne dass wir wissen könnten, was wir ihm glauben dürfen und was nicht. Hinrich ist klug, aber er macht einen gewichtigen Fehler: Nicht jede Erinnerung darf schon allein deshalb als authentisch gelten, weil sie schmerzt.
Jede Ablenkung ist dem Trauernden willkommen: Das gilt für die nächtlichen Tierfilme im Fernsehen und die schöne Polin Zusan an der Kasse bei Woolworth, für den Nachhilfeunterricht, den Enkel Malte fürs Abitur in Sachen Ethik und Romantik dringend braucht, und für den Ausflug in die Schweiz, wo Großvater und Enkel ererbtes Schwarzgeld am Zoll vorbei nach Deutschland schmuggeln wollen.
Die Zürich-Episode ist eine witzige Räuberpistole mit gerollten Banknoten in Ketchupflaschen. Ein banaler Vorgang wie die Schließung der Woolworth-Filiale in Frankfurt-Sachsenhausen gerät Kirchhoff zur atmosphärisch dichten Großstadtstudie, die ihresgleichen suchen muss. Mit Zusan entwickelt sich eine Affäre, die schließlich zu einem wichtigen Abstecher nach Warschau führt, während die Zürich-Episode in die Wiederbegegnung mit einer Jugendliebe mündet: Almuth Bürkle ist die Frau, die den jungen Hinrich "zum Mann" gemacht hat, wie es ein ums andere Mal heißt.
Denn was den Mann zum Mann und die Frau zur Frau macht, davon haben Bodo Kirchhoff und sein Erzähler Vorstellungen, die auf eine nicht ganz zeitgemäße Weise klar und deutlich sind. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass hier ein Geschlechterbild gepflegt wird, das ein wenig statisch anmutet. Freundlicher formuliert: überzeitlich. Deshalb kann Irene sich mühelos sogar in den Liebenden in Pompeji wiedererkennen, die vom Vulkanausbruch überrascht wurden. In Hinrichs Worten: "Die Frauen lagen auf dem Rücken, noch im Sterben ergeben." Dass er selbst aber keineswegs dem klassischen Klischeebild des Mannes entspricht, scheint Hinrich nicht zu bemerken. Im Grunde hat er gar keine Vorstellung von sich. Der Mann, den einst seine zupackende Jugendliebe zum Mann gemacht hatte, hat sich zeitlebens nur mit den Augen seiner Frauen gesehen. Das ist der brutalste Bruch der Erzählperspektive, die dieses Buch bestimmt: Seit Irenes Tod, der alles in Frage gestellt hat, weiß Hinrich nicht mehr, was er von sich halten soll. Er ist mit fremden Augen blind.
Auch deshalb ist Kirchhoffs Ich-Erzähler ein vom Verlust Besessener. Er ist der Mann, dem immer etwas fehlt: zum viel würdevoller klingenden Namen Heinrich das e und zur erfüllten Berufskarriere der Sprung vom Umlandressort in den großen überregionalen Kulturteil, der ihm jedoch verwehrt blieb. Hinrich spürt den Stachel des Ungenügens an sich selbst, aber er leidet nicht darunter. Das unterscheidet ihn von seiner Frau. Hinrich ist einer, der erträgt, Irene ist eine, die verlangt. Aber weil ihr Verlangen namenlos bleibt, muss es in Verzweiflung münden. Ihr Name endet mit jenem Buchstaben, der Hinrich von einem Heinrich von Kleist unterscheidet. Ihr Leben endet, weil ihr auf Erden nicht zu helfen war.
Bodo Kirchhoff versagt sich diese berühmte Formel. Er deutet nur einmal beiläufig an, dass Irenes Leid einer bipolaren Störung geschuldet sein könnte, und charakterisiert sie lieber anhand ihrer Vorlieben und Lektüren: Im Kino wie im Leben bevorzugt sie das Schwere, lässt sich aber vom Leichten verführen. Kleist und Pasolini sind ihre Gewährsmänner, Camillo Boitos Novelle "Senso" ist der Text, an dem die perfektionistische Übersetzerin Irene scheiterte.
Hinrich studiert ihre Aufzeichnungen und Notizen, weil er hofft, dass die Stelle, an der Irene ihr Übersetzungsprojekt verzweifelt aufgab, einen Hinweis auf die Gründe für ihren Selbstmord enthält. Dabei muss man "Senso", von Luchino Visconti 1956 verfilmt, nicht übersetzen, um wissen zu können, dass die Geschichte von einer Frau handelt, die den Mann, den sie liebt, in den Tod schickt, weil sie sich von ihm verraten und gedemütigt fühlte. Kirchhoff schwelgt in kleinen Frankfurt-Beobachtungen und großen Italien-Panoramen. Es geht nicht nur nach Zürich, sondern auch nach Neapel und Pompeji, weil Tochter Naomi eine Ausstellung über "Eros in Pompeji" kuratiert und Hinrich sich als Museumsaufsicht beworben hat. Schauplatz der wichtigsten und heikelsten Szenen dieses Romans ist jedoch Warschau.
Hier findet das einzige ausführliche Zwiegespräch in diesem Roman über Männer und Frauen statt. Geführt wird es von zwei Männern, und es gilt einer toten Frau. Dass Jerzy Tannenbaum, mehr Kollege als Freund Hinrichs, ein polnischer Jude ist, dessen Eltern von den Nazis deportiert wurden, kann zunächst irritieren, denn was sollte der Holocaust mit Irenes Selbstmord zu tun haben? Doch auch Tannenbaum dient der indirekten Charakterisierung Irenes. Zu Anfang des Romans hatte Hinrich eine Traueranzeige erreicht, die er nicht zu öffnen wagte. Immer wieder hat Kirchhoff den Blick des Lesers auf den Umschlag mit dem schwarzen Rand gerichtet. Jetzt zeigt sich: Er enthält die Nachricht vom Verlust eines Menschen, nach dem Hinrich sich immer gesehnt hatte, ohne zu wissen, dass es ihn tatsächlich gab. Die Liebe bei Bodo Kirchhoff ist eine einsame Sache.
HUBERT SPIEGEL
Bodo Kirchhoff: "Verlangen und Melancholie". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014. 445 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main