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Alex könnte Nilis Vater sein - und doch verfallen die beiden einander auf den ersten Blick. Ihre leidenschaftliche Affäre ist nicht nur eine Liaison wider alle Vernunft, sondern zugleich auch eine zehrende Beziehung voller Abhängigkeiten, Verletzungen und Zerstörungskraft.

Produktbeschreibung
Alex könnte Nilis Vater sein - und doch verfallen die beiden einander auf den ersten Blick. Ihre leidenschaftliche Affäre ist nicht nur eine Liaison wider alle Vernunft, sondern zugleich auch eine zehrende Beziehung voller Abhängigkeiten, Verletzungen und Zerstörungskraft.
Autorenporträt
Yoram Kaniuk, 1930 in Tel Aviv geboren, gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller Israels und erhielt für seine Prosa bereits etliche Auszeichnungen, u. a. den Brenner Prize, den höchsten Literaturpreis Israels. Der Autor verstarb im Jahr 2013.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2001

Gesetz und Chaos
Hastig erzählt: Yoram Kaniuk eilt an den eigenen Pointen vorüber

Der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk hat sich nie gescheut, bis an die Grenze des Sagbaren zu gehen, und manchmal darüber hinaus. In manchen Werken, wie "Der letzte Jude" (1985; deutsch 1990) und "Post Mortem" (1992; deutsch 1996), ist es ihm überzeugend gelungen, in anderen weniger. In seinem neuen Roman, der 1996 im Original erschien und jetzt in Beate Esther von Schwarzes schöner Übersetzung vorliegt, ist das Ergebnis gemischt.

Der Roman fängt ausgezeichnet an. Dem Filmproduzenten Alex Tlalim, einem erfolgreichen Mann in den Jahren, die seine besten sein könnten, stirbt die Frau, und am Ende des Trauerjahres, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag, geht ein Riß durch sein Leben, der sich im Verlauf der Ereignisse als nahezu unheilbar erweisen wird. "Am nächsten Tag blieb Alex zu Hause. Er ahnte nicht, was ihn erwartete. Er wußte nicht, daß ihm der schwerste Kampf seines Lebens bevorstand. Daß er ihn verlieren würde und auch noch gern verlieren würde. Und daß alles zerbrechen würde, was er sein Leben lang aufgebaut hatte": So endet die Exposition des Romans, die den Leser über viele Seiten in Spannung hält und deren Hintergründigkeit den Meister verrät.

Auch der Fortsetzung liegt ein tiefer Gedanke zugrunde - eine zweite, halb verborgene Perspektive, die Kaniuk einen starken Schluß ermöglichen wird. In der Durchführung aber, den zahlreichen Episoden, die Alex Tlalims Lebenskampf beschreiben, geht er leider nicht mit der Sorgfalt zu Werke, die sein großes Thema verlangt.

Als sein Leben aus den Fugen gerät, macht sich Tlalim auf die Reise ins Unbekannte. Quer und scheinbar ziellos fährt er durch Europa, und im Restaurant des Berliner Literaturhauses begegnet er einer jungen Israelin. "Als er von seinem Teller aufsah, merkte er zu seiner Überraschung, daß am Nachbartisch noch ein Gast saß. Eigentlich war es kein Gast, sondern eine aufgeschlagene israelische Zeitung, die von zwei kleinen Händen gehalten wurde. Die Hände bewegten sich leicht, und Alex betrachtete sie aufmerksam. Die Finger waren leicht gekrümmt wie Adlerkrallen, doch auch zierlich, und es war schwer zu sagen, ob sie einem jungen Mann oder einem Mädchen gehörten." Auch diese Exposition ist gelungen, denn die hier noch verborgenen Augen bilden die zweite Perspektive des Romans. Im Rückblick werden sie sich als der Gegenpol in einem Magnetfeld erweisen, das Alex Tlalims weiteres Leben bestimmt und vielleicht auch sein Lebensende.

Das große Thema, das der Roman dann freilich nicht ganz bewältigt, ist die Frage nach Gesetz und Chaos. Mit dem Tod seiner Frau hat das Leben Alex Tlalims seine Ordnung verloren, und als der alternde Filmproduzent die junge Malerin Nili trifft, steht dieses Leben plötzlich noch einmal zur Disposition. Ihre Begegnung ist aber kein Neubeginn, sondern sie führt im Gegenteil tief in die Vergangenheit der beiden Menschen zurück. Indem sie Tlalims in langen Jahren geformten Charakter erschüttert und ihn ins Chaos stürzt, stellt sie auch diese Vergangenheit in Frage und damit alles Gesetz, das in ihr scheinbar geherrscht hat.

Überall schreitet der Roman die Grenzen zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem ab. Als kleines Mädchen hat Nili die Fotos des jungen Tlalim gesehen, der einst ein kurzes Verhältnis mit ihrer Mutter hatte, und immer hat sie sich ihn zum Vater gewünscht. Jetzt nimmt sie ihn als Liebhaber: In vielen Szenen schwingt das Inzesttabu mit und grundiert diese Geschichte von einer Unordnung und ihrem späten Leid.

Die Handlung spielt teils in Deutschland, teils in Israel, und sie führt auch in deutsch-jüdische Grenzsituationen. Einen Vorwand für seine erste Reise bieten Tlalim die Verhandlungen, die sein Büro mit dem deutschen Fernsehen führt. Es geht um eine Koproduktion, die den Titel "Die Hochzeit der toten Brüder" trägt, und Kaniuk faßt das Thema des Projektes zusammen: "Eine Geschichte über zwei Brüder, einen Juden und einen Deutschen, die beide gleichzeitig durch einen Terrorangriff getötet wurden, als sie von einem Kibbuz in der Nähe der jordanischen Grenze zu einer Bananenpflanzung hinausfuhren und bis zu ihrem Tod nicht ahnten, daß sie Halbbrüder waren."

Wie fast die gesamte literarische Elite Israels steht auch Yoram Kaniuk links, mit dem arabisch-israelischen Schriftsteller Emile Habibi etwa verband ihn ein sehr persönliches Verhältnis. Die Geschichte der beiden Brüder wird als Reißer vermarktet, der die deutsch-jüdische Tragödie auf dem Hintergrund der bösen Araber mythisiert, und sein Kitsch wird von Kaniuk bewußt als eine ironische Folie des Romans verwendet. Denn in ihrer Tiefe ist die deutsch-jüdische Doppelbödigkeit nicht nur für Kaniuks Werk, sondern auch für sein Leben bezeichnend. 1930 kam er in Tel Aviv zur Welt, seine Mutter stammte aus Palästina, sein Vater aus Deutschland. Im Roman "Post Mortem" rechnet er mit seiner persönlichen Vergangenheit ab und gibt dort der europäischen Kultur des Vaters deutlich den Vorzug vor der nahöstlichen Provinzialität, in der er aufgewachsen ist.

Auch der neue Roman ist auf seine Weise ein Post Mortem: Alex Tlalims Frau muß sterben, damit er auf die Reise gehen kann, und sein zweites Leben führt auch ihn über die Grenzen Israels hinaus, die Yoram Kaniuk nie genügt haben. Doch Kaniuk malt nichts schwarzweiß, und er weiß seine Präferenzen auch ironisch auf den Kopf zu stellen. Als Alex Nili kennenlernt, lebt sie in Berlin mit Jürgen zusammen, einem Deutschen, der ein Homosexueller ist - ein engelreiner Mensch, dessen unerschütterliche Güte dem ungleichen Liebespaar aus mancher schwierigen Situation hilft. Später kommt auch er nach Tel Aviv, er wohnt eine Weile bei Nilis Mutter und findet schließlich einen neuen Freund. Chaos und Gesetz: Was einst in Deutschland ausgegrenzt und ermordet wurde - Juden und Homosexuelle -, findet nun im israelischen Spiegelbild seine Gegenfigur.

Der Roman stellt einen Zusammenstoß der Welten und der Generationen dar. Die Fragen, die er aufwirft, verlangen nach einer gestaltenden Perspektive, die Kaniuk aber leider nicht immer bietet. Viele Szenen, wie schon die erste Begegnung mit Nili im Berliner Literaturhaus, wo sie eine hebräische Zeitung in den Händen hält, leben von ihrer Zweisprachigkeit. Wenn Alex und Nili allein miteinander sprechen, tun sie das offensichtlich auf hebräisch, dann aber kommt Jürgen hinzu, der kein Hebräisch kann, und das Gespräch wird unreflektiert weitergeschrieben - ein Beispiel für vieles, womit sich der etwas eilige Erzähler um die tieferen Pointen seiner eigenen Erfindung bringt.

Am Ende jedoch weiß Yoram Kaniuk die Enttäuschung seiner Leser wieder zu vermeiden. In der eindrucksvollen Schlußszene gelingt ihm noch einmal ein Höhepunkt: Er schweißt zusammen, was zuvor auseinandergeborsten war.

JAKOB HESSING

Yoram Kaniuk: "Verlangen". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Beate Esther von Schwarze. List Verlag, München 2001. 352 S., geb., 39,90 DM.

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