Wer das Hochglanzjapan aus den Medien kennt, die spiegelnden Wolkenkratzer, die neonglitzernden Innenstädte und die peinlich sauberen Schnellzüge, der kann sich kaum vorstellen, dass es auch die andere Seite gibt: Die Shutter-dori in den Randbezirken, wo die Geschäfte reihenweise schließen, die halb
verlassenen Dörfer im Bergland, deren Bevölkerung rapide überaltert, oder die einsamen…mehrWer das Hochglanzjapan aus den Medien kennt, die spiegelnden Wolkenkratzer, die neonglitzernden Innenstädte und die peinlich sauberen Schnellzüge, der kann sich kaum vorstellen, dass es auch die andere Seite gibt: Die Shutter-dori in den Randbezirken, wo die Geschäfte reihenweise schließen, die halb verlassenen Dörfer im Bergland, deren Bevölkerung rapide überaltert, oder die einsamen Industrieruinen, die sich die Natur langsam zurückholt. Auch das ist Japan und ich erinnere mich sehr gut an die seltsame Atmosphäre an diesen Orten. Melancholisch, verloren, dramatisch, schicksalsergeben und manchmal auch ein wenig gruselig. Auch in Japan gibt es eine verschworene Gemeinschaft, die um diese Lost Places einen Kult entwickelt hat. „Haikyo“ oder „verlassener Hügel“ heißen sie auf Japanisch und ihre Adressen werden gehütet wie ein kostbares Geheimnis; nur die Fotos werden ins Netz gestellt und es gilt die Regel, nichts als ein paar Fußspuren zu hinterlassen. Da die meisten Japaner solche Orte meiden, bleiben sie über Jahre und Jahrzehnte völlig unangetastet und bekommen eine Patina, die zum Beispiel in Deutschland undenkbar wäre.
Jordy Meow ist ein französischer Fotograf, der in Japan lebt und arbeitet und Haikyo sind seine Leidenschaft. Er fängt in seinen außergewöhnlichen Bildern die Stimmung aufgegebener und verfallener Häuser ein, mit einem sicheren Gespür für Details und einem untrüglichen Auge für Lichtführung und Farbe. Manche Räume wirken fast surreal, wie aus einer Filmkulisse geliehen. Die kurzen Texte, mit denen Jordy Meow die Kapitel begleitet, lassen ahnen, dass sich die Besucher immer am Rande der Legalität bewegen und vor allem die ungeschriebenen japanischen Verhaltensregeln brechen. Wie sonst könnten seit 30 Jahren leerstehende Privathäuser noch komplett eingerichtet, bis zum Inhalt der Kühlschränke erhalten sein? Die Bilder haben zweifellos etwas geheimnisvoll Voyeuristisches, wenn z. B. ein altes Gebiss zum gruseligen Accessoire wird oder in einer verlassenen Klinik die OP-Lampen wie vieläugige Aliens von der Decke starren. Manchmal nimmt Jordy Meow die vor Ort gefundenen Objekte zum Anlass, mehr über die ehemaligen Bewohner zu recherchieren, was sich beim sogenannten „Königshaus“ zu einer echten Detektivgeschichte entwickelt. So wird die Vergangenheit nicht nur in den Relikten lebendig, sondern die nachträglich ermittelte Information entreißt manchmal Orte und Personen der Vergessenheit. Lebende Menschen sind dagegen auf keinem einzigen Foto zu sehen.
Das Buch ist in Abschnitte mit unterschiedlichen Themen gegliedert: Städte (und Dörfer), Schulen, Kranken- (und Irren)häuser, Freizeitparks und Industrie. Es fehlen im Prinzip nur noch verlassene Tempel und Schreine, aufgegebene Bahngelände, Brücken und Straßen als Haikyo-Kategorien, aber das ist vielleicht eine gute Idee für Jordy Meows nächstes Buch.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)