Zu einem Kernproblem der Sozialwissenschaften
Zeit als forschungsleitende Denkstrategie in Soziologie und Geschichtswissenschaft - Ein Bezugsrahmen für die sozialwissenschaftliche Analyse von Verlaufsmustern - Erfassung von Verlaufsmustern in der bisherigen Empirischen Sozialforschung - Stärken, Schwächen und offene Fragen zeitbezogenen Denkens
Zeit ist neben Raum eine zentrale Kategorie der Soziologie. Die Kernfrage lautet deshalb: welche Forschungsmethoden benötigt die Soziologie, um Verlaufsmuster (also Regelmäßigkeiten sozialen Handelns und deren Wandel) empirisch adäquat zu erfassen?
Rezension:
Schwietring, Thomas: Kontinuität und Geschichtlichkeit. Über die Voraussetzungen und Grenzen von Geschichte. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz - UVK 2005. ISBN 3-89669-715-3; 596 S.; EUR 59,00.
Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2005. ISBN 3-518-29360-5; 537 S.; EUR 17,00.
Baur, Nina: Verlaufsmusteranalyse. Methodologische Konsequenzen der Zeitlichkeit sozialen Handelns. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005. ISBN 3-531-14727-7; 366 S.; EUR 39,90.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Uwe Barrelmeyer, Widukind Gymnasium Enger
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Zeit und Geschichte sind zentrale Kategorien geschichts- und sozialwissenschaftlicher Forschung. Dieser Einsicht folgend setzen sich die Autor/innen der vorliegenden soziologischen Dissertations- bzw.
Habilitationsschriften in theoretisch-systematischer (Schwietring, Rosa) sowie in primär methodischer Erkenntnisabsicht (Baur) mit dem Aspekt der Zeitlichkeit geschichtlicher und sozialer Phänomene auseinander. Die Autor/innen distanzieren sich von der Geschichts- und „Zeitvergessenheit der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung im 20. Jahrhundert“ (Rosa S.
461) und betonen die methodologische Komplementarität historischer und sozialwissenschaftlicher Forschung (Baur S. 23). Ungeachtet der unterschiedlichen Erkenntnisabsichten und thematischen Schwerpunkte besteht, um eine Formulierung Schwietrings (S. 33) aufzunehmen, ein gemeinsames konzeptionelles Anliegen darin, „die Dimension des Historischen aus dem Rahmen der Geschichtsschreibung im engeren Sinne herauszuholen und sie als eine notwendige Blickrichtung der sozial- bzw.
kulturwissenschaftlichen Forschung insgesamt zu entwerfen“.
Historische Erkenntnis, so stellt Thomas Schwietring (S. 17) im Anschluss an eigene forschungspraktische Erfahrungen als den Ausgangspunkt seiner explorativen theoretischen Studie heraus, ist ohne eine „Idee von Kontinuität unter den Bedingungen von Geschichtlichkeit nicht denkbar“. Während Wandel, Veränderung und Neuerung unmittelbar ins menschliche Bewusstsein rückten, sei Kontinuität nicht unmittelbar erfahrbar. Gleichwohl läge vielen historischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten ein implizites „Konzept von Kontinuität zugrunde, das nicht problematisiert“ (S. 59) werde.
Dementsprechend sieht Schwietring (S. 60) mit dem Begriff der Kontinuität die Frage verbunden, wie „überhaupt von abgrenzbaren Phänomenen und Einteilungen, relativer Ordnung und relativ festen Anhaltspunkten unter den Bedingungen einer umfassend gedachten Geschichtlichkeit die Rede sein“ könne.
Im ersten, historisch ausgerichteten Teil der Studie (Kap. II-V) untersucht Schwietring (S. 69), von der vorsokratischen Naturphilosophie ausgehend und bei der erkenntniskritischen Kontinuitätsauffassung Kants endend, die Begriffs- und Ideengeschichte von Kontinuität (Kap. III), die mit den „Durchbrüchen der Achsenzeit“ (S. 173) einsetzende Geschichte des Denkens über Geschichte (Geschichtsbewusstsein) (Kap. IV) sowie die Frage nach der Kontinuität in der Geschichte (Kap. V). Diesem historischen Darstellungsteil stellt Schwietring (Kap. II) Überlegungen voran, die sich mit dem „generellen Problem einer Begriffs-, Ideen- oder Denkgeschichte“ (S. 68) befassen. Seine Ausführungen zeigen, dass die Frage nach der Kontinuität erst im 18. Jahrhundert als Problem der Geschichte erörtert worden sei. Vor dieser Zeit habe es an einer „Vorstellung von Geschichte im Sinne von Geschichtlichkeit, d.h. der essentiellen Gewordenheit des Menschen“ gefehlt und keinen Anlass gegeben, „die Geschichtlichkeit einerseits zu einem Gegenstand des Erkenntnisbemühens, andererseits zu einer Form oder Methode der Erkenntnis“ (S. 251f.) zu entwickeln.
In einem zweiten, systematischen Teil (Kap. VI-IX) liefert Schwietring (Kap. VI) zunächst einen Überblick über den Stand der geschichtstheoretischen Diskussion des Begriffs der Kontinuität. Dabei zeige sich, dass sich die „Suche nach einer Kontinuität im Sinne einer tragenden Kraft oder Substanz in der Geschichte“ als erfolglos erwiesen habe. Geschichte beruhe zwar auf der Vorstellung von Kontinuität, doch sei dies stets die Kontinuität der durch „intellektuelle Anstrengungen erfahrbar gemachten Geschichte“ (S. 357).
In einem weiteren Schritt entwickelt Schwietring Überlegungen zur wechselseitigen Abhängigkeit von „Geschichte“ und „Geschichtlichkeit“ (Kap. VII) sowie von „Geschichtlichkeit“ und „Zeitlichkeit“ (Kap. VIII), die er anschließend bilanzierend zusammenführt (Kap. IX). Die Geschichte als vergangenes Geschehen finde als ein überindividuelles Phänomen durch die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens einen Zugang zum individuellen Leben. Zeitlichkeit und Geschichte bedingten gemeinsam die Geschichtlichkeit des Menschen (S. 456). Die Geschichtlichkeit stehe wiederum in einem existentiellen Sinne für die innerweltliche Gewordenheit des Mensche, entzöge sich „seinen Entscheidungsmöglichkeiten und möglicherweise sogar seinen Erkenntnismöglichkeiten“ (S. 63), und verweise auf ein alternatives historisch-kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm, das den Menschen „rein immanent aus den Bedingungen der Geschichtlichkeit seiner Existenz heraus zu verstehen“ (S. 498) suche. Insofern stelle sich die Frage, welche Konsequenzen der existentielle Begriff von Geschichtlichkeit für die Sozial- und Kulturwissenschaften habe und welche Rolle dabei dem Begriff der Kontinuität zukomme.
In einem dritten Teil (Kap. X-XIII) entfaltet Schwietring (S. 491) programmatisch akzentuierte Überlegungen zur Anwendung seiner „grundlagentheoretischen Einsichten zu Kontinuität und Geschichtlichkeit“ in der kulturwissenschaftlichen Forschung. Er verweist beispielsweise darauf, dass der Begriff der Kontinuität – dem Funktionsbegriff vergleichbar – der sozialwissenschaftlichen Forschung als ein „allgemeines heuristisches Prinzip“ dienen könne. Er zeichne sich als kategorialer und formaler „Begriff in der soziologischen Modellbildung“ (S. 499) insbesondere gegenüber dem Strukturbegriff aus, da er einen Zusammenhang in der Zeit zu thematisieren erlaube, „ohne dabei, wie der Strukturbegriff es tut, eine gleich bleibende, stabile Ordnung zu unterstellen“ (S. 497). Weitere Anwendungsmöglichkeiten erkennt Schwietring etwa im Hinblick auf die „konstruktivistische Auffassung sozialer Wirklichkeit“ (S. 506), die Konzeptualisierung sozialwissenschaftlicher Erklärung (Modell der relativen Dauer und der komplexen Kausalverkettung) (S. 513f., 524, 571f.) oder die Ergänzung soziologischer Modelle des sozialen Wandels um „genuin historische Arbeitsweisen und Theorieelemente“ (S. 542, 575). Für Schwietring (S.
568) fungiert die geschichtstheoretische Erörterung der Frage nach der Kontinuität als methodologische Einstimmung auf die „genuin soziologische Frageweise nach den Möglichkeiten einer innerweltlichen Erklärung von Wirklichkeit rein aus den geschichtlich gewordenen Bestandteilen des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur heraus“. Insofern sensibilisiere sie auch für eine kulturwissenschaftliche Erkenntnishaltung, die von einem nachdenklichen „Staunen über die Geschichte des Menschen und über die Unwahrscheinlichkeit der menschlichen Entwicklung“ (S. 577) geprägt sei.
Der Hinweis auf die `existentielle Geworfenheit´ des Menschen leitet auch die Studie Hartmut Rosas. Die Art und Weise unseres menschlichen „In-der-Welt-Seins“, so Rosa, hänge in hohem Maße von den Zeitstrukturen der Gesellschaft ab, in der wir lebten. Die soziale Realität moderner westlicher Gesellschaften ließe sich aus der Erlebensperspektive der Einzelnen als „verschärfter Zeitnotstand“ bezeichnen, der paradoxerweise begleitet sei von dem Gefühl einer „fundamentalen Erstarrung der Geschichte, in der sich nichts Wesentliches mehr ändere, wie schnell auch immer sich die Oberflächen wandelten“ (S. 16) („Rasender Stillstand“).
Diese Beobachtungen führen Rosa (S. 15) zu der gesellschaftstheoretischen Grundüberzeugung, dass „die Beschleunigung von Prozessen und Ereignissen [...] ein Grundprinzip der modernen Gesellschaft“ (S. 15) sei. Eine adäquate sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose müsste daher der „Zeit“ als soziologischer Schlüsselkategorie Rechnung tragen und „Zeitdiagnose(n) im Wortsinne sein“ (S. 38), indem sie eine „konsequent kultur- und sozialhistorisch orientierte Perspektive“ einnehme (S. 429). Zwar läge eine reichhaltige zeitphilosophische und -soziologische Forschungsliteratur vor, gleichwohl stelle die „systematische Anbindung der Zeitsoziologie an eine empirisch gehaltvolle sozialwissenschaftliche Theoriebildung“ (S.
22) unverändert ein Forschungsdesiderat dar. Diese Lücke sucht Rosas Versuch einer „sozialtheoretischen Neubestimmung der Moderne“ (S. 56) zu füllen.
Es ist das bemerkenswert ambitionierte Ziel des Autors, der „verwirrenden Proliferation an aktuellen Bestimmungen der Gesellschaft“ (S. 38) entgegenzuwirken und mittels einer temporalanalytischen Zugangsweise eine „Rekonzeptualisierung der aktuellen Gesellschaftstheorie“ (S. 24) zu leisten sowie die politischen und ethischen Konsequenzen der sozialen Beschleunigung systematisch herauszuarbeiten. Den entscheidenden Vorteil der temporalanalytischen Zugangsweise sieht er in gesellschaftstheoretischer Hinsicht insbesondere darin begründet, dass „Zeitstrukturen und -horizonte [...] den systematischen Verknüpfungspunkt für Akteurs- und Systemperspektive“ (S. 24f.) darstellten. Rosa (S. 56) will keine empirische Untersuchung vorlegen, sondern bestimmt als heuristischen Zweck seiner Studie, „zukünftiger empirischer Forschung neue Fragehorizonte zu eröffnen und neue Leitfragen an die Hand zu geben, indem sie die ebenso diffuse wie pervasive These einer `allgemeinen Beschleunigung´ des sozialen Lebens in ein Feld empirisch präzisierbarer Forschungsfragen zu übersetzen vermag“ (S. 58). Die heuristisch leitende Hypothese seiner Arbeit ist dabei die „Vermutung, dass die in der Moderne konstitutiv angelegte soziale Beschleunigung in der `Spätmoderne´ einen kritischen Punkt“ (S.
49) übersteige, jenseits dessen sich der Anspruch auf gesellschaftliche Synchronisation und soziale Integration nicht mehr aufrechterhalten lasse.
Im ersten Teil seiner Arbeit (Kap. II-III) entwickelt Rosa den begrifflich-kategorialen Rahmen seiner Studie. Dabei trägt er (Kap. II) zunächst Beobachtungen über Dynamisierungserfahrungen in der Moderne zusammen, die „zwei signifikante Beschleunigungswellen“ (S. 82) erkennen ließen. So hätten die Jahrzehnte vor und nach 1900 infolge der industriellen Revolution eine Geschwindigkeitsrevolution in nahezu allen Lebensbereichen mit sich gebracht. Ebenso gebe es auch „starke Hinweise auf einen neuerlichen großen Beschleunigungsschub am Übergang vom 20.
zum 21. Jahrhundert“ (S. 83). Individuen und Gesellschaften seien somit „von der Frühmoderne über die `klassische Moderne´ zur Spätmoderne einer weitreichenden, doppelten Transformation ausgesetzt“ (S. 444) gewesen.
In den Deutungen der soziologischen Klassiker habe die „Veränderung der Temporalstrukturen“ keinen systematischen Stellenwert erlangt.
Beschleunigung würde nicht als „definierendes Merkmal von Modernisierung“ (S. 59) betrachtet werden, vielmehr stünden die Kategorien der Individualisierung, Rationalisierung, Differenzierung und der wachsenden Naturbeherrschung im Vordergrund. Dies erkläre auch das nahezu vollständige Fehlen einer Beschleunigungstheorie innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaftheorie. Hieraus ergebe sich die Notwendigkeit einer „Reinterpretation des Modernisierungsprozesses unter dem Aspekt der sozialen Beschleunigung“ (S. 111). Wenn man Beschleunigung als konstitutive Eigenschaft begreift, so folgt daraus, dass man Moderne nicht mit inhaltlichen Eigenschaften beschreiben kann und dass die Rede von einer Postmoderne fehlgeht.
Daher sucht Rosa in einem nächsten Schritt (Kap. III) Kategorien zu entwickeln, um die modernen Beschleunigungsphänomene in den Blick zu rücken. Er unterscheidet dabei drei grundlegende Dimensionen sozialer Beschleunigung. Als erste Dimension bestimmt er die „technologische (d.h. maschinelle) Beschleunigung zielgerichteter Vorgänge“ (S. 124).
Die zweite Dimension der Beschleunigung des sozialen Wandels definiert er als „Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierenden Erfahrungen und Erwartungen und als Verkürzung der für die jeweiligen Funktions-, Wert- und Handlungssphären als Gegenwart zu bestimmenden Zeiträume“ (S. 133). Vergangenheit und Zukunft müssten in immer kürzeren Abständen umgeschrieben werden („Gegenwartsschrumpfung“). Die dritte Dimension, die Beschleunigung des Lebenstempos, beinhalte die aus einer Verknappung von Zeitressourcen resultierende „Steigerung der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“ (S. 135).
Die moderne Gesellschaft sei als „Beschleunigungsgesellschaft“ in dem Sinne zu verstehen, dass in ihr eine folgenreiche Verknüpfung von technischer Beschleunigung (Wachstum) und der Steigerung des Lebenstempos (Beschleunigung) vorliege. Dies bedeute, „dass die durchschnittliche Wachstumsrate (definiert als Steigerung der Gesamtmenge des Produzierten, des Kommunizierten und der Kommunikationen, der zurückgelegten Wegstrecken etc.) über der durchschnittlichen Beschleunigungsrate“ liege (S. 120). Gleichwohl dürfe nicht übersehen werden, dass sich bestimmte Bereiche des sozialen Lebens der Dynamisierung entzögen (z.B. natürliche Geschwindigkeitsgrenzen, kulturelle Entschleunigungsnischen). Allerdings ständen diese Phänomene dem Beschleunigungsprinzip nicht als gleichrangige Kräfte gegenüber.
Im zweiten Teil der Untersuchung (Kap. IV-VI) nimmt Rosa die einzelnen Erscheinungsformen und Wirkungen der technischen Beschleunigung (Kap.
IV), der Beschleunigung des sozialen Wandels (Kap. V) sowie der Beschleunigung des Lebenstempos (Kap. VI) genauer in den Blick. Die technische Beschleunigung habe zu einer Veränderung der menschlichen Beziehungen zum Raum, zu anderen Menschen sowie zur materialen Umwelt geführt. Die fortschreitende Beschleunigung des sozialen Wandels habe wiederum bewirkt, dass sich das Tempo dieses Wandels „von einer intergenerationalen Veränderungsgeschwindigkeit in der Frühmoderne über eine Phase annähernder Synchronisation mit der Generationenfolge in der `klassischen Moderne´ zu einem in der Spätmoderne tendenziell intragenerational gewordenen Tempo gesteigert“ (S. 178) habe. Die zu beobachtende „Erhöhung des objektiven Lebenstempos“ schließlich habe allem Anschein nach zu einer „qualitativen Veränderung der subjektiven Zeiterfahrung“ (S. 213) geführt: In allen Industriestaaten klagten die Bürger/innen über Verpassensangst und Anpassungszwang. Das für die medial geprägte, spätmoderne Gesellschaft typische „Kurz-Kurz-Muster der Zeitwahrnehmung (d.h. rasch vergehende Erlebniszeit und rasch verlöschende Erinnerungsspuren)“ (S. 470) interpretiert Rosa (S. 235) als Symptom einer mittlerweile „erlebnisreiche[n], aber erfahrungslose[n] Gesellschaft“.
Im dritten Teil der Untersuchung (Kap. VII-IX) geht Rosa der Frage nach den Triebkräften der sozialen Beschleunigung nach. Dabei legt er zunächst dar (Kap. VII), wie sich die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos in einem „reflexiven Zirkel gegenseitig vorantreiben“ (S.
175). In diesem Punkt erinnert Rosa an den späten Hans Freyer [1], der Moderne als „Katarakt“ von sich gegenseitig antreibenden Subprozessen charakterisierte. Technische Innovationen (z.B. Automobil, Internet) stellten eine entscheidende Triebfeder des sozialen Wandels dar, dieser zöge wiederum eine Erhöhung des Lebenstempos nach sich. Individuen und Organisationen reagierten auf die Verknappung ihrer Zeitressourcen mit dem Ruf nach weiterer technischer Beschleunigung. Dies führe zu einem wechselseitigen Steigerungsverhältnis, „das sich auf dem Weg politischer und sozialer Intervention kaum mehr durchbrechen“ (S. 472) lasse. Die neuzeitlichen Wurzeln dieses Akzelerationszirkels liegen für Rosa (Kap.
VIII) jenseits einseitiger „kausale[r] Attribution“ (S. 280) im System der kapitalistischen Wirtschaft (technische Beschleunigung), im Sozialstrukturprinzip der funktionalen Differenzierung (Beschleunigung des sozialen Wandels durch subsystemspezifische Leistungssteigerungen) sowie im „kulturellen Motor eines Ethos der Moderne“ (effiziente Verwirklichung individueller Lebensoptionen). Darüber hinaus ist für Rosa (Kap. IX) die historische Bedeutung des neuzeitlichen Territorialstaats und des Militärwesens als „institutionelle[r] Schlüssel-Akzeleratoren“ (S. 311) herauszustellen, da diese „die systematische Entfaltung der wissenschaftlich-technischen und ökonomisch-industriellen Beschleunigung erst ermöglichten“ (S. 312).
Diese institutionelle Schlüsselstellung von Staat (Bürokratie) und Militär in der Phase der klassischen Moderne sei jedoch mittlerweile nicht mehr gegeben: Wie etwa die Kritik an der Langsamkeit staatlich-bürokratischer Entscheidungsprozesse zeige, seien aus „klassisch-modernen Akzeleratoren [...] spätmoderne Beschleunigungshindernisse oder Bremser geworden“ (S. 328). Dieser Wandlungsprozess beträfe auch weitere gesellschaftliche Institutionen der klassischen Moderne (z.B. die Prinzipien demokratischer Gestaltung und politischer Regulierung, das industrialistische Arbeitszeit- und Lebenslaufregime). Diese spätmodernen Wandlungsprozesse dokumentierten, dass das stabile gesellschaftliche Gefüge der Moderne semantisch und institutionell in Bewegung geraten sei (vgl. S. 328). Die spätmoderne Gesellschaft habe durch das Erreichen kritischer Geschwindigkeitsgrenzen eine neue Qualität gewonnen, „ohne dass sich im Ensemble der Modernisierungsprinzipien (Beschleunigung, Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung, Domestizierung) etwas Grundlegendes geändert hätte“ (S. 476).
Im vierten und letzten Teil der Arbeit (Kap. X-XIV) konzentriert sich Rosa auf die Aufgabe, die „gemeinsame Logik“ (S. 333) der spätmodernen
„Verflüssigungs- und Vergleichzeitigungsvorgänge“ (S. 349) zu rekonstruieren und „in ihren ethischen und politischen Folgen angemessen zu bestimmen“ (S. 329). Der spätmoderne Beschleunigungsschub habe seine ökonomischen, informationstechnologischen und kulturellen Triebkräfte seit den 1970er-Jahren entwickelt. Dessen „raumgreifende Durchschlagskraft“ resultiere allerdings aus dem „Zusammentreffen von drei historischen Entwicklungen“ (S. 335f.) am Beginn der 1990er-Jahre.
Die politische Revolutionierung der sozialistischen Staatenwelt, die digitale Revolution (Internet, Satellitenfernsehen) sowie die ökonomische Revolution („postfordistischer Kapitalismus“) interpretiert Rosa (S. 338) als zusammenwirkende „Formen der Globalisierung“. Dies habe einen „transformativen Bruch in der sozialen Struktur, der Kultur und den Identitätsformen der modernen Gesellschaft“ bewirkt, der „zu Fragmentierung, Steuerungsverlust, Versteh- und Gestaltbarkeitseinbußen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlich-politischer Ebene“ (S. 349) führe. Auf der individuellen Ebene (Kap. XI) diagnostiziert Rosa (S. 373) eine „Tendenz zu einer spätmodernen Form situativer Identität“. Auf der gesellschaftlich-politischen Ebene identifiziert er eine mit der mangelnden Beschleunigungsfähigkeit des politischen Systems zusammenhängende „Zeitkrise des Politischen“ (S.
403), die aus der „Desynchronisation zwischen der ‚Eigenzeit’ der Politik“ und den Eigenzeiten der übrigen ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsysteme (Wirtschaft, Technik) resultiere. An die Stelle langfristiger politischer Strategien, so Rosa (S. 418), sei ein situatives Operieren getreten. Die Form situativer Politik sei daher das „kollektive[s] Korrelat zur spätmodernen Form situativer Identität“.
Was ist der wahrscheinliche Fortgang der dargelegten Beschleunigungsgeschichte? Dieser Frage wendet sich Rosa (S. 479) abschließend in der Form eines knappen Ausblicks (Kap. XIV) zu. Seine Antwort fällt pessimistisch aus: Die moderne Gesellschaft werde den „Verlust der Fähigkeit, Bewegung und Beharrung zu balancieren“ (S. 489), mit der Erzeugung nuklearer oder klimatischer Katastrophen, der Ausbreitung neuer Krankheiten oder unkontrollierter Gewalt bezahlen.
Angesichts dieser pessimistischen Prognose ist es überraschend, dass Rosa (S. 486) die von ihm vorgelegten Untersuchungen als „Umrisse einer kritischen Gesellschaftstheorie“ qualifiziert, die auf eine kritische Diagnose der Temporalstrukturen abhebe. Im Gegensatz zur Systemtheorie Luhmannscher Provenienz, so insistiert Rosa (S. 427), orientiere sich die eigene „Kritische Theorie der Beschleunigung“ unverändert am
„Autonomie- und Gestaltungsversprechen der Moderne und ihrem Charakter als politisches Projekt“. Die Frage ist allerdings, ob dieser Anspruch mit dem Befund zunehmender Beschleunigung vereinbar ist.
Eine mögliche Ausflucht aus dem „rasenden Stillstand“ der Gesellschaftstheorie bietet die Konzentration auf die sozialwissenschaftlichen Methoden. Für Nina Baur (S. 23) liegt das zentrale Erkenntnisinteresse der Soziologie in der Analyse von „Regelmäßigkeiten sozialen Handelns bzw. von Interaktionen in Gruppen und deren Wandel“. Mit dem Begriff „Verlaufs- und Handlungsmuster“ bezeichnet sie typische Formen sozialer Regelmäßigkeiten. Baur (S. 16) konzentriert sich in der vorliegenden Studie auf die Beantwortung der Kernfrage, welche Forschungsmethoden die Soziologie benötige, um Verlaufsmuster adäquat zu erfassen? Deren Analyse ließe sich empirisch nur dann zufrieden stellend bewerkstelligen, sofern man längere Zeiträume beobachte. „Typisches können wir nur ausmachen“, so Baur, „indem wir eine Mehrzahl von Fällen vergleichen, da der Begriff des ‚Typischen’ Wiederholung impliziert. Wiederholen können sich Ereignisse wiederum nur, wenn man räumliche und zeitliche Vergleiche zieht“ (S.
16). Die verbreitete Auffassung, dass sich die Soziologie nur auf die Gegenwart zu konzentrieren habe, erweise sich daher als wenig hilfreich.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildeten ein Kontinuum und seien gleichzeitig über Erfahrungsraum und Erwartungshorizont miteinander verschränkt. Insofern erweise sich die „Zeit“ als Kernkategorie der Soziologie. Daher könne es sich die „Soziologie aus methodologischen Gründen gar nicht leisten, die Vergangenheit oder die Kategorie ‚Zeit’
Historikern zu überlassen“ (S. 21). Gleichwohl habe sich die moderne Soziologie „erstaunlich wenig um theoretische Konzepte und Methoden zur Erfassung von Verlaufsmustern bemüht“ (S. 17).
Im ersten Teil der Studie (Kap. 1-3) beschäftigt sich Baur mit den Gründen für diese „Enthaltsamkeit“. Zunächst (Kap. 1) geht sie den Ursachen für die Auseinanderentwicklung der beiden Disziplinen nach. An den Arbeiten einiger soziologischer Klassiker (z.B. Weber, Simmel,
Durkheim) arbeitet Baur (S. 24) zunächst heraus, dass diese Autoren „Zeit“ als forschungsleitende Kernkategorie betrachteten. Ihre „zeitbezogenen Denkmuster“ und ihr „zeitbezogenes methodisches Vorgehen“ (S. 30) seien unverändert beispielhaft. Aufgrund der nationalsozialistischen Herrschaft (Emigration bzw. politische Diskreditierung historischer Soziologen) und wissenschaftspolitischer Entscheidungen (Siegeszug der quantitativen Sozialforschung, Vernachlässigung des Zeitaspekts sozialer Phänomene in der soziologischen Theoriebildung, Zersplitterung der Soziologie in Methodenlehre, Theorie und spezielle Soziologien) sei es zu einer Trennung der Disziplinen und zu einer „Enthistorisierung der Nachkriegssoziologie“ (S. 38) gekommen. Erst seit dem Ende der 1970er-Jahre rückten Soziologen wieder verstärkt die Kernkategorie „Zeit“ in den Blick. Methoden und theoretische Konzepte zur empirischen Erfassung von Verlaufsmustern seien dagegen kaum oder allenfalls unsystematisch entwickelt worden. Zu diesen Leistungen zählt Baur (Kap.
2) die Identifikation verschiedener Handlungsbereiche, Ausführungen zum Mikro-Makro-Problem sowie die Erfassung der Räumlichkeit sozialen Handelns. Im Gegensatz dazu befasste sich die Geschichtswissenschaft (Kap. 3) intensiv mit den Aspekten der Zeitlichkeit sozialen Handelns und rückte die unterschiedliche Wandlungsgeschwindigkeit und -formen sozialer Phänomene („Gleichzeitigkeiten der Ungleichzeitigkeiten“) als neues Forschungsproblem in den Vordergrund. Mit Blick auf diese unterschiedlichen disziplinären Aufmerksamkeiten sieht es Baur (S. 109) als geboten an, die soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Debatten wieder zusammenzuführen: Die Erkenntnisse von Geschichtswissenschaftlern, wie Verlaufsmuster adäquat untersucht werden können, müssten um die soziologischen Forschungskategorien „Handlungsbereich“, „Handlungsebene“ und „Raum“ erweitert werden.
Hierfür entwickelt Baur im zweiten Teil der Studie (Kap. 4-7) einen methodologischen Bezugsrahmen, „mit dem man – ausgehend vom Primat des methodologischen Individualismus – auf kollektive Handlungsmuster zugreifen“ (S. 18) könne. Sie arbeitet zunächst heraus (Kap. 4), dass die empirische Erforschung von Verlaufsmustern damit beginnt, Ereignisse und Ereignisketten lückenlos zu identifizieren und mit Hilfe eines Vergleichsmaßstabs (z.B. Kalendersysteme, die das unendliche Kontinuum der Naturzeit zu messen erlauben) in eine anhand einer spezifischen Forschungsfrage thematisch fokussierbare „Ereignismatrix“ (z.B.
Tabellenblatt, komplexe Datenbank oder vernetzte Textsammlung) einzuordnen. Der Forscher müsse dabei vorab geklärt haben, welche Zeitebenen, Handlungsbereiche, -ebenen und -räume er mit seiner Forschungsfrage ansprechen wolle. Hinsichtlich möglicher Interpretationen der Ereignismatrix unterscheidet Baur (S. 123) zwischen einer spaltenweise vorgehenden Betrachtungsweise (variablenbezogene
(quantitative) Querschnittsanalyse, Längsschnittanalyse durch vergleichende Spaltenbetrachtung), einer zeilenweise vorgehenden Betrachtungsweise (qualitative Verfahren der Fallgeschichte bzw. der typischen Fallgeschichte (Zeilenvergleiche)) und einer multivariaten Betrachtungsweise (Vergleich verschiedener Tabellenblätter der Ereignismatrix in zeilen- bzw. spaltenbezogener Betrachtungsweise).
Durch solche Analysen könnten soziale Prozesse identifiziert und durch Einordnung in eine weitere Ereignismatrix als Material für abstrahierende bzw. typisierende Analysen genutzt werden. Dabei sei zu beachten, dass Verlaufsmuster unterschiedliche Formen wie Zyklen, geordnete Transformationen und Brüche (Kap. 5) annehmen, unterschiedliche Dauer (kurze Zeitschicht, Zeit der Generationen und die lange Dauer) haben (Kap. 6) sowie über verschiedene Handlungsbereiche, -ebenen und -räume hinweg miteinander verschränkt sein könnten (Kap.
7).
In einem abschließenden dritten Teil (Kap. 8-9) untersucht Baur wichtige in Soziologie und Geschichtswissenschaft entwickelte quantitative und qualitative Verfahren daraufhin, „inwieweit sie geeignet sind, Verlaufsmuster zu erfassen“ (S. 109). Dabei verdeutlicht Baur (S. 23) anhand einer Reihe von Beispielen, „dass die so genannten ‚historischen Verfahren’ sowohl aus qualitativen als auch quantitativen Verfahren bestehen, die nicht grundlegend anders sind als die soziologischen qualitativen und quantitativen Verfahren“. Als wichtige quantitative Methoden zur Erfassung von Verlaufsmustern, die jeweils anhand ausgewählter Forschungsbeispiele veranschaulicht werden, stellt Baur (Kap. 8) die Kohortenanalyse (Ronald Inglehart), die Zeitreihenanalyse (Fernand Braudel, Postfordismus-Theorie), die Ereignisanalyse (Hans-Peter Blossfeld u.a.) und die Sequenzanalyse (David Stark, Balazs
Vedres) vor (Kap. 8). Die Stärken quantitativer Längsschnittanalysen sieht Baur (S. 234) in der Untersuchung des Wandels von Mischungsverhältnissen, der Modellökonomie, der exakten Modellierung von Verlaufsformen sowie im Testen von Hypothesen. Demgegenüber dürfe nicht übersehen werden, dass quantitative Verfahren zur Verlaufsmusteranalyse nach wie vor selten angewandt würden, eine ausgeprägte Gegenwartsnähe aufwiesen, sich häufig auf die Analyse individueller Handlungsmuster beschränkten sowie sehr begrenzte Analysemöglichkeiten für miteinander verschränkte Verlaufsmuster unterschiedlicher Dauer böten. Während quantitative Verfahren sich häufig nur auf eine Dimension der Ereignismatrix konzentrierten, nähmen qualitative Forschungen die Ereignismatrix häufig als Ganzes in den Blick (S. 233). Angesichts der damit einhergehenden Fülle qualitativer Verfahren zur Erfassung von Verlaufsmustern sieht sich Baur dazu gezwungen, die Darstellung bewusst selektiv auf die qualitativen Verfahren der Grounded Theory (Barney Glaser, Anselm Strauss), der Biografischen Methode (Nina Zahner), der Fallstudienanalyse (Nathalie Behnke) sowie der qualitativen historischen Methode (Georges Duby, Philippe Ariès) zu konzentrieren (Kap. 9).
Stärken und Schwächen dieser Verfahren hängen aus Sicht Baurs (S. 237) damit zusammen, dass der qualitativen Sozialforschung bereits aus erhebungstechnischen Gründen das „Phänomen ‚Zeit’ inhärent“ sei:
Qualitative Verfahren könnten mit sehr unterschiedlichen Daten und sehr heterogenem Material umgehen. Indem sie eine multidimensionale Nutzung der Ereignismatrix verfolgten, seien alle qualitativen Verfahren Verfahren der Verlaufsmusteranalyse. Dadurch sei es je nach Verfahren möglich, „die Interaktion verschiedener Verlaufsformen, Zeitschichten, Handlungsebenen und Handlungsräume zu untersuchen“ sowie die jeweiligen Raumkonstitutionen zu erforschen (S. 315). Im Gegensatz zu den quantitativen ließen sich qualitative Verfahren allerdings nicht so gut systematisieren wie quantitative, die Modellbildung sei meistens sehr komplex und weniger exakt als in der quantitativen Forschung.
In einer abschließenden Betrachtung stellt Baur heraus, dass sich die qualitative und quantitative Sozialforschung in ihrem Potential für die Verlaufsmusteranalyse (Verlaufsmusteridentifizierung und -charakterisierung, Kausalanalyse) ergänzten. Da sich jedoch beide Ansätze in der soziologischen Forschungspraxis häufig auf die „Individualebene sowie mittlere Zeitschichten der jüngsten Vergangenheit“ (S. 315) beschränkten, bleibe die tatsächliche Forschungspraxis weit hinter dem Erkenntnispotential zurück. Insofern müsse sich die soziologische Verlaufsmusteranalyse künftig verstärkt der
Meso- und Makroebene zuwenden. Im Sinne eines methodologischen Lernens von der Geschichtswissenschaft sollte die Analyse von Verlaufsmustern extrem langer Dauer in den Vordergrund gerückt und der Klassifikation von Kausalbeziehungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden (Methodenflexibilität). Dazu müssten die Soziolog/innen zukünftig dem Vorbild der Historiker/innen folgend verstärkt auf prozessgenerierte Daten zurückgreifen.
Ist es den Autor/innen in konzeptioneller Hinsicht gelungen, um auf eine eingangs angeführte programmatische Formulierung Schwietrings zurückzugreifen, die Dimension des Historischen aus dem Rahmen der Geschichtsschreibung im engeren Sinne herauszuholen und als eine notwendige Blickrichtung der sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Forschung insgesamt zu entwerfen? Diese Frage darf mit Blick auf alle drei Arbeiten positiv beantwortet werden. Eine Stärke der Studie Baurs liegt insbesondere darin, dass sich ihre analytischen Ausführungen zur methodischen Handhabung der Ereignismatrix unmittelbar auf das konkrete soziologische und historische Forschungshandeln beziehen lassen. Der von Baur entfaltete weite forschungstechnische Horizont darf als überzeugendes Sachargument für die Konzeptualisierung der Soziologie als historische Sozialwissenschaft gelesen werden.
Rosas Studie, der eine „konsequent kultur- und sozialhistorisch orientierte Perspektive“ (S. 429) zugrunde liegt, wird dem selbst gesetzten Zweck, zukünftiger empirischer Forschung neue Fragehorizonte zu eröffnen, in instruktiver Weise gerecht. Diese Bewertung lässt sich auch mit Blick auf die beeindruckende Darstellungsdichte sozialer Beschleunigungsphänomene bestätigen, die in der vorliegenden, systematisch angelegten Besprechung keine eingehendere Berücksichtigung finden konnten. Der Vergleich mit Baur rückt allerdings auch den normativen Überschuss der Studie in den Blick. Dies betrifft insbesondere Rosas Anspruch, mit seiner kritischen Beschleunigungstheorie einen Beitrag zu einer noch zu schreibenden „Soziologie des guten Lebens“ (S. 66) vorzulegen.
Schwietring schließlich entwirft grundlagentheoretische Perspektiven für eine am Problem der Geschichtlichkeit orientierte Historische Kulturwissenschaft. Insofern stellt er keinen unmittelbaren Bezug zum konkreten soziologischen Forschungshandeln her. Schwietring (S. 578) liefert „keine positive Theorie oder ein applizierbares Modell der Kontinuität“, sondern entwickelt vielmehr eine partiell sehr weit ausholende, systematische Argumentation gegen die offensichtliche „Verdrängung des geschichtlichen Denkens und der Idee der Geschichtlichkeit aus der Soziologie“ (S. 501). Seine Studie darf insgesamt im positiven Sinn als explorativer Beitrag zu einer weiterführenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der von Reinhart Koselleck [2] begriffsgeschichtlich erschlossenen „Frage nach den Zeitstrukturen“ qualifiziert werden. Alle drei Bände beeindrucken durch ihr innovatives Potential und eröffnen der soziologischen und historischen Forschung dank ihres interdisziplinären Horizonts Wege zu mehr reflektierter und methodisch geleiteter Historizität.
Anmerkungen:
[1] Freyer, Hans, Schwelle der Zeiten, Stuttgart 1965.
[2] Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 131.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Vera Ziegeldorf
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Zeit ist neben Raum eine zentrale Kategorie der Soziologie. Die Kernfrage lautet deshalb: welche Forschungsmethoden benötigt die Soziologie, um Verlaufsmuster (also Regelmäßigkeiten sozialen Handelns und deren Wandel) empirisch adäquat zu erfassen?
Rezension:
Schwietring, Thomas: Kontinuität und Geschichtlichkeit. Über die Voraussetzungen und Grenzen von Geschichte. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz - UVK 2005. ISBN 3-89669-715-3; 596 S.; EUR 59,00.
Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2005. ISBN 3-518-29360-5; 537 S.; EUR 17,00.
Baur, Nina: Verlaufsmusteranalyse. Methodologische Konsequenzen der Zeitlichkeit sozialen Handelns. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005. ISBN 3-531-14727-7; 366 S.; EUR 39,90.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Uwe Barrelmeyer, Widukind Gymnasium Enger
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Zeit und Geschichte sind zentrale Kategorien geschichts- und sozialwissenschaftlicher Forschung. Dieser Einsicht folgend setzen sich die Autor/innen der vorliegenden soziologischen Dissertations- bzw.
Habilitationsschriften in theoretisch-systematischer (Schwietring, Rosa) sowie in primär methodischer Erkenntnisabsicht (Baur) mit dem Aspekt der Zeitlichkeit geschichtlicher und sozialer Phänomene auseinander. Die Autor/innen distanzieren sich von der Geschichts- und „Zeitvergessenheit der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung im 20. Jahrhundert“ (Rosa S.
461) und betonen die methodologische Komplementarität historischer und sozialwissenschaftlicher Forschung (Baur S. 23). Ungeachtet der unterschiedlichen Erkenntnisabsichten und thematischen Schwerpunkte besteht, um eine Formulierung Schwietrings (S. 33) aufzunehmen, ein gemeinsames konzeptionelles Anliegen darin, „die Dimension des Historischen aus dem Rahmen der Geschichtsschreibung im engeren Sinne herauszuholen und sie als eine notwendige Blickrichtung der sozial- bzw.
kulturwissenschaftlichen Forschung insgesamt zu entwerfen“.
Historische Erkenntnis, so stellt Thomas Schwietring (S. 17) im Anschluss an eigene forschungspraktische Erfahrungen als den Ausgangspunkt seiner explorativen theoretischen Studie heraus, ist ohne eine „Idee von Kontinuität unter den Bedingungen von Geschichtlichkeit nicht denkbar“. Während Wandel, Veränderung und Neuerung unmittelbar ins menschliche Bewusstsein rückten, sei Kontinuität nicht unmittelbar erfahrbar. Gleichwohl läge vielen historischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten ein implizites „Konzept von Kontinuität zugrunde, das nicht problematisiert“ (S. 59) werde.
Dementsprechend sieht Schwietring (S. 60) mit dem Begriff der Kontinuität die Frage verbunden, wie „überhaupt von abgrenzbaren Phänomenen und Einteilungen, relativer Ordnung und relativ festen Anhaltspunkten unter den Bedingungen einer umfassend gedachten Geschichtlichkeit die Rede sein“ könne.
Im ersten, historisch ausgerichteten Teil der Studie (Kap. II-V) untersucht Schwietring (S. 69), von der vorsokratischen Naturphilosophie ausgehend und bei der erkenntniskritischen Kontinuitätsauffassung Kants endend, die Begriffs- und Ideengeschichte von Kontinuität (Kap. III), die mit den „Durchbrüchen der Achsenzeit“ (S. 173) einsetzende Geschichte des Denkens über Geschichte (Geschichtsbewusstsein) (Kap. IV) sowie die Frage nach der Kontinuität in der Geschichte (Kap. V). Diesem historischen Darstellungsteil stellt Schwietring (Kap. II) Überlegungen voran, die sich mit dem „generellen Problem einer Begriffs-, Ideen- oder Denkgeschichte“ (S. 68) befassen. Seine Ausführungen zeigen, dass die Frage nach der Kontinuität erst im 18. Jahrhundert als Problem der Geschichte erörtert worden sei. Vor dieser Zeit habe es an einer „Vorstellung von Geschichte im Sinne von Geschichtlichkeit, d.h. der essentiellen Gewordenheit des Menschen“ gefehlt und keinen Anlass gegeben, „die Geschichtlichkeit einerseits zu einem Gegenstand des Erkenntnisbemühens, andererseits zu einer Form oder Methode der Erkenntnis“ (S. 251f.) zu entwickeln.
In einem zweiten, systematischen Teil (Kap. VI-IX) liefert Schwietring (Kap. VI) zunächst einen Überblick über den Stand der geschichtstheoretischen Diskussion des Begriffs der Kontinuität. Dabei zeige sich, dass sich die „Suche nach einer Kontinuität im Sinne einer tragenden Kraft oder Substanz in der Geschichte“ als erfolglos erwiesen habe. Geschichte beruhe zwar auf der Vorstellung von Kontinuität, doch sei dies stets die Kontinuität der durch „intellektuelle Anstrengungen erfahrbar gemachten Geschichte“ (S. 357).
In einem weiteren Schritt entwickelt Schwietring Überlegungen zur wechselseitigen Abhängigkeit von „Geschichte“ und „Geschichtlichkeit“ (Kap. VII) sowie von „Geschichtlichkeit“ und „Zeitlichkeit“ (Kap. VIII), die er anschließend bilanzierend zusammenführt (Kap. IX). Die Geschichte als vergangenes Geschehen finde als ein überindividuelles Phänomen durch die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens einen Zugang zum individuellen Leben. Zeitlichkeit und Geschichte bedingten gemeinsam die Geschichtlichkeit des Menschen (S. 456). Die Geschichtlichkeit stehe wiederum in einem existentiellen Sinne für die innerweltliche Gewordenheit des Mensche, entzöge sich „seinen Entscheidungsmöglichkeiten und möglicherweise sogar seinen Erkenntnismöglichkeiten“ (S. 63), und verweise auf ein alternatives historisch-kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm, das den Menschen „rein immanent aus den Bedingungen der Geschichtlichkeit seiner Existenz heraus zu verstehen“ (S. 498) suche. Insofern stelle sich die Frage, welche Konsequenzen der existentielle Begriff von Geschichtlichkeit für die Sozial- und Kulturwissenschaften habe und welche Rolle dabei dem Begriff der Kontinuität zukomme.
In einem dritten Teil (Kap. X-XIII) entfaltet Schwietring (S. 491) programmatisch akzentuierte Überlegungen zur Anwendung seiner „grundlagentheoretischen Einsichten zu Kontinuität und Geschichtlichkeit“ in der kulturwissenschaftlichen Forschung. Er verweist beispielsweise darauf, dass der Begriff der Kontinuität – dem Funktionsbegriff vergleichbar – der sozialwissenschaftlichen Forschung als ein „allgemeines heuristisches Prinzip“ dienen könne. Er zeichne sich als kategorialer und formaler „Begriff in der soziologischen Modellbildung“ (S. 499) insbesondere gegenüber dem Strukturbegriff aus, da er einen Zusammenhang in der Zeit zu thematisieren erlaube, „ohne dabei, wie der Strukturbegriff es tut, eine gleich bleibende, stabile Ordnung zu unterstellen“ (S. 497). Weitere Anwendungsmöglichkeiten erkennt Schwietring etwa im Hinblick auf die „konstruktivistische Auffassung sozialer Wirklichkeit“ (S. 506), die Konzeptualisierung sozialwissenschaftlicher Erklärung (Modell der relativen Dauer und der komplexen Kausalverkettung) (S. 513f., 524, 571f.) oder die Ergänzung soziologischer Modelle des sozialen Wandels um „genuin historische Arbeitsweisen und Theorieelemente“ (S. 542, 575). Für Schwietring (S.
568) fungiert die geschichtstheoretische Erörterung der Frage nach der Kontinuität als methodologische Einstimmung auf die „genuin soziologische Frageweise nach den Möglichkeiten einer innerweltlichen Erklärung von Wirklichkeit rein aus den geschichtlich gewordenen Bestandteilen des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur heraus“. Insofern sensibilisiere sie auch für eine kulturwissenschaftliche Erkenntnishaltung, die von einem nachdenklichen „Staunen über die Geschichte des Menschen und über die Unwahrscheinlichkeit der menschlichen Entwicklung“ (S. 577) geprägt sei.
Der Hinweis auf die `existentielle Geworfenheit´ des Menschen leitet auch die Studie Hartmut Rosas. Die Art und Weise unseres menschlichen „In-der-Welt-Seins“, so Rosa, hänge in hohem Maße von den Zeitstrukturen der Gesellschaft ab, in der wir lebten. Die soziale Realität moderner westlicher Gesellschaften ließe sich aus der Erlebensperspektive der Einzelnen als „verschärfter Zeitnotstand“ bezeichnen, der paradoxerweise begleitet sei von dem Gefühl einer „fundamentalen Erstarrung der Geschichte, in der sich nichts Wesentliches mehr ändere, wie schnell auch immer sich die Oberflächen wandelten“ (S. 16) („Rasender Stillstand“).
Diese Beobachtungen führen Rosa (S. 15) zu der gesellschaftstheoretischen Grundüberzeugung, dass „die Beschleunigung von Prozessen und Ereignissen [...] ein Grundprinzip der modernen Gesellschaft“ (S. 15) sei. Eine adäquate sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose müsste daher der „Zeit“ als soziologischer Schlüsselkategorie Rechnung tragen und „Zeitdiagnose(n) im Wortsinne sein“ (S. 38), indem sie eine „konsequent kultur- und sozialhistorisch orientierte Perspektive“ einnehme (S. 429). Zwar läge eine reichhaltige zeitphilosophische und -soziologische Forschungsliteratur vor, gleichwohl stelle die „systematische Anbindung der Zeitsoziologie an eine empirisch gehaltvolle sozialwissenschaftliche Theoriebildung“ (S.
22) unverändert ein Forschungsdesiderat dar. Diese Lücke sucht Rosas Versuch einer „sozialtheoretischen Neubestimmung der Moderne“ (S. 56) zu füllen.
Es ist das bemerkenswert ambitionierte Ziel des Autors, der „verwirrenden Proliferation an aktuellen Bestimmungen der Gesellschaft“ (S. 38) entgegenzuwirken und mittels einer temporalanalytischen Zugangsweise eine „Rekonzeptualisierung der aktuellen Gesellschaftstheorie“ (S. 24) zu leisten sowie die politischen und ethischen Konsequenzen der sozialen Beschleunigung systematisch herauszuarbeiten. Den entscheidenden Vorteil der temporalanalytischen Zugangsweise sieht er in gesellschaftstheoretischer Hinsicht insbesondere darin begründet, dass „Zeitstrukturen und -horizonte [...] den systematischen Verknüpfungspunkt für Akteurs- und Systemperspektive“ (S. 24f.) darstellten. Rosa (S. 56) will keine empirische Untersuchung vorlegen, sondern bestimmt als heuristischen Zweck seiner Studie, „zukünftiger empirischer Forschung neue Fragehorizonte zu eröffnen und neue Leitfragen an die Hand zu geben, indem sie die ebenso diffuse wie pervasive These einer `allgemeinen Beschleunigung´ des sozialen Lebens in ein Feld empirisch präzisierbarer Forschungsfragen zu übersetzen vermag“ (S. 58). Die heuristisch leitende Hypothese seiner Arbeit ist dabei die „Vermutung, dass die in der Moderne konstitutiv angelegte soziale Beschleunigung in der `Spätmoderne´ einen kritischen Punkt“ (S.
49) übersteige, jenseits dessen sich der Anspruch auf gesellschaftliche Synchronisation und soziale Integration nicht mehr aufrechterhalten lasse.
Im ersten Teil seiner Arbeit (Kap. II-III) entwickelt Rosa den begrifflich-kategorialen Rahmen seiner Studie. Dabei trägt er (Kap. II) zunächst Beobachtungen über Dynamisierungserfahrungen in der Moderne zusammen, die „zwei signifikante Beschleunigungswellen“ (S. 82) erkennen ließen. So hätten die Jahrzehnte vor und nach 1900 infolge der industriellen Revolution eine Geschwindigkeitsrevolution in nahezu allen Lebensbereichen mit sich gebracht. Ebenso gebe es auch „starke Hinweise auf einen neuerlichen großen Beschleunigungsschub am Übergang vom 20.
zum 21. Jahrhundert“ (S. 83). Individuen und Gesellschaften seien somit „von der Frühmoderne über die `klassische Moderne´ zur Spätmoderne einer weitreichenden, doppelten Transformation ausgesetzt“ (S. 444) gewesen.
In den Deutungen der soziologischen Klassiker habe die „Veränderung der Temporalstrukturen“ keinen systematischen Stellenwert erlangt.
Beschleunigung würde nicht als „definierendes Merkmal von Modernisierung“ (S. 59) betrachtet werden, vielmehr stünden die Kategorien der Individualisierung, Rationalisierung, Differenzierung und der wachsenden Naturbeherrschung im Vordergrund. Dies erkläre auch das nahezu vollständige Fehlen einer Beschleunigungstheorie innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaftheorie. Hieraus ergebe sich die Notwendigkeit einer „Reinterpretation des Modernisierungsprozesses unter dem Aspekt der sozialen Beschleunigung“ (S. 111). Wenn man Beschleunigung als konstitutive Eigenschaft begreift, so folgt daraus, dass man Moderne nicht mit inhaltlichen Eigenschaften beschreiben kann und dass die Rede von einer Postmoderne fehlgeht.
Daher sucht Rosa in einem nächsten Schritt (Kap. III) Kategorien zu entwickeln, um die modernen Beschleunigungsphänomene in den Blick zu rücken. Er unterscheidet dabei drei grundlegende Dimensionen sozialer Beschleunigung. Als erste Dimension bestimmt er die „technologische (d.h. maschinelle) Beschleunigung zielgerichteter Vorgänge“ (S. 124).
Die zweite Dimension der Beschleunigung des sozialen Wandels definiert er als „Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierenden Erfahrungen und Erwartungen und als Verkürzung der für die jeweiligen Funktions-, Wert- und Handlungssphären als Gegenwart zu bestimmenden Zeiträume“ (S. 133). Vergangenheit und Zukunft müssten in immer kürzeren Abständen umgeschrieben werden („Gegenwartsschrumpfung“). Die dritte Dimension, die Beschleunigung des Lebenstempos, beinhalte die aus einer Verknappung von Zeitressourcen resultierende „Steigerung der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“ (S. 135).
Die moderne Gesellschaft sei als „Beschleunigungsgesellschaft“ in dem Sinne zu verstehen, dass in ihr eine folgenreiche Verknüpfung von technischer Beschleunigung (Wachstum) und der Steigerung des Lebenstempos (Beschleunigung) vorliege. Dies bedeute, „dass die durchschnittliche Wachstumsrate (definiert als Steigerung der Gesamtmenge des Produzierten, des Kommunizierten und der Kommunikationen, der zurückgelegten Wegstrecken etc.) über der durchschnittlichen Beschleunigungsrate“ liege (S. 120). Gleichwohl dürfe nicht übersehen werden, dass sich bestimmte Bereiche des sozialen Lebens der Dynamisierung entzögen (z.B. natürliche Geschwindigkeitsgrenzen, kulturelle Entschleunigungsnischen). Allerdings ständen diese Phänomene dem Beschleunigungsprinzip nicht als gleichrangige Kräfte gegenüber.
Im zweiten Teil der Untersuchung (Kap. IV-VI) nimmt Rosa die einzelnen Erscheinungsformen und Wirkungen der technischen Beschleunigung (Kap.
IV), der Beschleunigung des sozialen Wandels (Kap. V) sowie der Beschleunigung des Lebenstempos (Kap. VI) genauer in den Blick. Die technische Beschleunigung habe zu einer Veränderung der menschlichen Beziehungen zum Raum, zu anderen Menschen sowie zur materialen Umwelt geführt. Die fortschreitende Beschleunigung des sozialen Wandels habe wiederum bewirkt, dass sich das Tempo dieses Wandels „von einer intergenerationalen Veränderungsgeschwindigkeit in der Frühmoderne über eine Phase annähernder Synchronisation mit der Generationenfolge in der `klassischen Moderne´ zu einem in der Spätmoderne tendenziell intragenerational gewordenen Tempo gesteigert“ (S. 178) habe. Die zu beobachtende „Erhöhung des objektiven Lebenstempos“ schließlich habe allem Anschein nach zu einer „qualitativen Veränderung der subjektiven Zeiterfahrung“ (S. 213) geführt: In allen Industriestaaten klagten die Bürger/innen über Verpassensangst und Anpassungszwang. Das für die medial geprägte, spätmoderne Gesellschaft typische „Kurz-Kurz-Muster der Zeitwahrnehmung (d.h. rasch vergehende Erlebniszeit und rasch verlöschende Erinnerungsspuren)“ (S. 470) interpretiert Rosa (S. 235) als Symptom einer mittlerweile „erlebnisreiche[n], aber erfahrungslose[n] Gesellschaft“.
Im dritten Teil der Untersuchung (Kap. VII-IX) geht Rosa der Frage nach den Triebkräften der sozialen Beschleunigung nach. Dabei legt er zunächst dar (Kap. VII), wie sich die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos in einem „reflexiven Zirkel gegenseitig vorantreiben“ (S.
175). In diesem Punkt erinnert Rosa an den späten Hans Freyer [1], der Moderne als „Katarakt“ von sich gegenseitig antreibenden Subprozessen charakterisierte. Technische Innovationen (z.B. Automobil, Internet) stellten eine entscheidende Triebfeder des sozialen Wandels dar, dieser zöge wiederum eine Erhöhung des Lebenstempos nach sich. Individuen und Organisationen reagierten auf die Verknappung ihrer Zeitressourcen mit dem Ruf nach weiterer technischer Beschleunigung. Dies führe zu einem wechselseitigen Steigerungsverhältnis, „das sich auf dem Weg politischer und sozialer Intervention kaum mehr durchbrechen“ (S. 472) lasse. Die neuzeitlichen Wurzeln dieses Akzelerationszirkels liegen für Rosa (Kap.
VIII) jenseits einseitiger „kausale[r] Attribution“ (S. 280) im System der kapitalistischen Wirtschaft (technische Beschleunigung), im Sozialstrukturprinzip der funktionalen Differenzierung (Beschleunigung des sozialen Wandels durch subsystemspezifische Leistungssteigerungen) sowie im „kulturellen Motor eines Ethos der Moderne“ (effiziente Verwirklichung individueller Lebensoptionen). Darüber hinaus ist für Rosa (Kap. IX) die historische Bedeutung des neuzeitlichen Territorialstaats und des Militärwesens als „institutionelle[r] Schlüssel-Akzeleratoren“ (S. 311) herauszustellen, da diese „die systematische Entfaltung der wissenschaftlich-technischen und ökonomisch-industriellen Beschleunigung erst ermöglichten“ (S. 312).
Diese institutionelle Schlüsselstellung von Staat (Bürokratie) und Militär in der Phase der klassischen Moderne sei jedoch mittlerweile nicht mehr gegeben: Wie etwa die Kritik an der Langsamkeit staatlich-bürokratischer Entscheidungsprozesse zeige, seien aus „klassisch-modernen Akzeleratoren [...] spätmoderne Beschleunigungshindernisse oder Bremser geworden“ (S. 328). Dieser Wandlungsprozess beträfe auch weitere gesellschaftliche Institutionen der klassischen Moderne (z.B. die Prinzipien demokratischer Gestaltung und politischer Regulierung, das industrialistische Arbeitszeit- und Lebenslaufregime). Diese spätmodernen Wandlungsprozesse dokumentierten, dass das stabile gesellschaftliche Gefüge der Moderne semantisch und institutionell in Bewegung geraten sei (vgl. S. 328). Die spätmoderne Gesellschaft habe durch das Erreichen kritischer Geschwindigkeitsgrenzen eine neue Qualität gewonnen, „ohne dass sich im Ensemble der Modernisierungsprinzipien (Beschleunigung, Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung, Domestizierung) etwas Grundlegendes geändert hätte“ (S. 476).
Im vierten und letzten Teil der Arbeit (Kap. X-XIV) konzentriert sich Rosa auf die Aufgabe, die „gemeinsame Logik“ (S. 333) der spätmodernen
„Verflüssigungs- und Vergleichzeitigungsvorgänge“ (S. 349) zu rekonstruieren und „in ihren ethischen und politischen Folgen angemessen zu bestimmen“ (S. 329). Der spätmoderne Beschleunigungsschub habe seine ökonomischen, informationstechnologischen und kulturellen Triebkräfte seit den 1970er-Jahren entwickelt. Dessen „raumgreifende Durchschlagskraft“ resultiere allerdings aus dem „Zusammentreffen von drei historischen Entwicklungen“ (S. 335f.) am Beginn der 1990er-Jahre.
Die politische Revolutionierung der sozialistischen Staatenwelt, die digitale Revolution (Internet, Satellitenfernsehen) sowie die ökonomische Revolution („postfordistischer Kapitalismus“) interpretiert Rosa (S. 338) als zusammenwirkende „Formen der Globalisierung“. Dies habe einen „transformativen Bruch in der sozialen Struktur, der Kultur und den Identitätsformen der modernen Gesellschaft“ bewirkt, der „zu Fragmentierung, Steuerungsverlust, Versteh- und Gestaltbarkeitseinbußen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlich-politischer Ebene“ (S. 349) führe. Auf der individuellen Ebene (Kap. XI) diagnostiziert Rosa (S. 373) eine „Tendenz zu einer spätmodernen Form situativer Identität“. Auf der gesellschaftlich-politischen Ebene identifiziert er eine mit der mangelnden Beschleunigungsfähigkeit des politischen Systems zusammenhängende „Zeitkrise des Politischen“ (S.
403), die aus der „Desynchronisation zwischen der ‚Eigenzeit’ der Politik“ und den Eigenzeiten der übrigen ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsysteme (Wirtschaft, Technik) resultiere. An die Stelle langfristiger politischer Strategien, so Rosa (S. 418), sei ein situatives Operieren getreten. Die Form situativer Politik sei daher das „kollektive[s] Korrelat zur spätmodernen Form situativer Identität“.
Was ist der wahrscheinliche Fortgang der dargelegten Beschleunigungsgeschichte? Dieser Frage wendet sich Rosa (S. 479) abschließend in der Form eines knappen Ausblicks (Kap. XIV) zu. Seine Antwort fällt pessimistisch aus: Die moderne Gesellschaft werde den „Verlust der Fähigkeit, Bewegung und Beharrung zu balancieren“ (S. 489), mit der Erzeugung nuklearer oder klimatischer Katastrophen, der Ausbreitung neuer Krankheiten oder unkontrollierter Gewalt bezahlen.
Angesichts dieser pessimistischen Prognose ist es überraschend, dass Rosa (S. 486) die von ihm vorgelegten Untersuchungen als „Umrisse einer kritischen Gesellschaftstheorie“ qualifiziert, die auf eine kritische Diagnose der Temporalstrukturen abhebe. Im Gegensatz zur Systemtheorie Luhmannscher Provenienz, so insistiert Rosa (S. 427), orientiere sich die eigene „Kritische Theorie der Beschleunigung“ unverändert am
„Autonomie- und Gestaltungsversprechen der Moderne und ihrem Charakter als politisches Projekt“. Die Frage ist allerdings, ob dieser Anspruch mit dem Befund zunehmender Beschleunigung vereinbar ist.
Eine mögliche Ausflucht aus dem „rasenden Stillstand“ der Gesellschaftstheorie bietet die Konzentration auf die sozialwissenschaftlichen Methoden. Für Nina Baur (S. 23) liegt das zentrale Erkenntnisinteresse der Soziologie in der Analyse von „Regelmäßigkeiten sozialen Handelns bzw. von Interaktionen in Gruppen und deren Wandel“. Mit dem Begriff „Verlaufs- und Handlungsmuster“ bezeichnet sie typische Formen sozialer Regelmäßigkeiten. Baur (S. 16) konzentriert sich in der vorliegenden Studie auf die Beantwortung der Kernfrage, welche Forschungsmethoden die Soziologie benötige, um Verlaufsmuster adäquat zu erfassen? Deren Analyse ließe sich empirisch nur dann zufrieden stellend bewerkstelligen, sofern man längere Zeiträume beobachte. „Typisches können wir nur ausmachen“, so Baur, „indem wir eine Mehrzahl von Fällen vergleichen, da der Begriff des ‚Typischen’ Wiederholung impliziert. Wiederholen können sich Ereignisse wiederum nur, wenn man räumliche und zeitliche Vergleiche zieht“ (S.
16). Die verbreitete Auffassung, dass sich die Soziologie nur auf die Gegenwart zu konzentrieren habe, erweise sich daher als wenig hilfreich.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildeten ein Kontinuum und seien gleichzeitig über Erfahrungsraum und Erwartungshorizont miteinander verschränkt. Insofern erweise sich die „Zeit“ als Kernkategorie der Soziologie. Daher könne es sich die „Soziologie aus methodologischen Gründen gar nicht leisten, die Vergangenheit oder die Kategorie ‚Zeit’
Historikern zu überlassen“ (S. 21). Gleichwohl habe sich die moderne Soziologie „erstaunlich wenig um theoretische Konzepte und Methoden zur Erfassung von Verlaufsmustern bemüht“ (S. 17).
Im ersten Teil der Studie (Kap. 1-3) beschäftigt sich Baur mit den Gründen für diese „Enthaltsamkeit“. Zunächst (Kap. 1) geht sie den Ursachen für die Auseinanderentwicklung der beiden Disziplinen nach. An den Arbeiten einiger soziologischer Klassiker (z.B. Weber, Simmel,
Durkheim) arbeitet Baur (S. 24) zunächst heraus, dass diese Autoren „Zeit“ als forschungsleitende Kernkategorie betrachteten. Ihre „zeitbezogenen Denkmuster“ und ihr „zeitbezogenes methodisches Vorgehen“ (S. 30) seien unverändert beispielhaft. Aufgrund der nationalsozialistischen Herrschaft (Emigration bzw. politische Diskreditierung historischer Soziologen) und wissenschaftspolitischer Entscheidungen (Siegeszug der quantitativen Sozialforschung, Vernachlässigung des Zeitaspekts sozialer Phänomene in der soziologischen Theoriebildung, Zersplitterung der Soziologie in Methodenlehre, Theorie und spezielle Soziologien) sei es zu einer Trennung der Disziplinen und zu einer „Enthistorisierung der Nachkriegssoziologie“ (S. 38) gekommen. Erst seit dem Ende der 1970er-Jahre rückten Soziologen wieder verstärkt die Kernkategorie „Zeit“ in den Blick. Methoden und theoretische Konzepte zur empirischen Erfassung von Verlaufsmustern seien dagegen kaum oder allenfalls unsystematisch entwickelt worden. Zu diesen Leistungen zählt Baur (Kap.
2) die Identifikation verschiedener Handlungsbereiche, Ausführungen zum Mikro-Makro-Problem sowie die Erfassung der Räumlichkeit sozialen Handelns. Im Gegensatz dazu befasste sich die Geschichtswissenschaft (Kap. 3) intensiv mit den Aspekten der Zeitlichkeit sozialen Handelns und rückte die unterschiedliche Wandlungsgeschwindigkeit und -formen sozialer Phänomene („Gleichzeitigkeiten der Ungleichzeitigkeiten“) als neues Forschungsproblem in den Vordergrund. Mit Blick auf diese unterschiedlichen disziplinären Aufmerksamkeiten sieht es Baur (S. 109) als geboten an, die soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Debatten wieder zusammenzuführen: Die Erkenntnisse von Geschichtswissenschaftlern, wie Verlaufsmuster adäquat untersucht werden können, müssten um die soziologischen Forschungskategorien „Handlungsbereich“, „Handlungsebene“ und „Raum“ erweitert werden.
Hierfür entwickelt Baur im zweiten Teil der Studie (Kap. 4-7) einen methodologischen Bezugsrahmen, „mit dem man – ausgehend vom Primat des methodologischen Individualismus – auf kollektive Handlungsmuster zugreifen“ (S. 18) könne. Sie arbeitet zunächst heraus (Kap. 4), dass die empirische Erforschung von Verlaufsmustern damit beginnt, Ereignisse und Ereignisketten lückenlos zu identifizieren und mit Hilfe eines Vergleichsmaßstabs (z.B. Kalendersysteme, die das unendliche Kontinuum der Naturzeit zu messen erlauben) in eine anhand einer spezifischen Forschungsfrage thematisch fokussierbare „Ereignismatrix“ (z.B.
Tabellenblatt, komplexe Datenbank oder vernetzte Textsammlung) einzuordnen. Der Forscher müsse dabei vorab geklärt haben, welche Zeitebenen, Handlungsbereiche, -ebenen und -räume er mit seiner Forschungsfrage ansprechen wolle. Hinsichtlich möglicher Interpretationen der Ereignismatrix unterscheidet Baur (S. 123) zwischen einer spaltenweise vorgehenden Betrachtungsweise (variablenbezogene
(quantitative) Querschnittsanalyse, Längsschnittanalyse durch vergleichende Spaltenbetrachtung), einer zeilenweise vorgehenden Betrachtungsweise (qualitative Verfahren der Fallgeschichte bzw. der typischen Fallgeschichte (Zeilenvergleiche)) und einer multivariaten Betrachtungsweise (Vergleich verschiedener Tabellenblätter der Ereignismatrix in zeilen- bzw. spaltenbezogener Betrachtungsweise).
Durch solche Analysen könnten soziale Prozesse identifiziert und durch Einordnung in eine weitere Ereignismatrix als Material für abstrahierende bzw. typisierende Analysen genutzt werden. Dabei sei zu beachten, dass Verlaufsmuster unterschiedliche Formen wie Zyklen, geordnete Transformationen und Brüche (Kap. 5) annehmen, unterschiedliche Dauer (kurze Zeitschicht, Zeit der Generationen und die lange Dauer) haben (Kap. 6) sowie über verschiedene Handlungsbereiche, -ebenen und -räume hinweg miteinander verschränkt sein könnten (Kap.
7).
In einem abschließenden dritten Teil (Kap. 8-9) untersucht Baur wichtige in Soziologie und Geschichtswissenschaft entwickelte quantitative und qualitative Verfahren daraufhin, „inwieweit sie geeignet sind, Verlaufsmuster zu erfassen“ (S. 109). Dabei verdeutlicht Baur (S. 23) anhand einer Reihe von Beispielen, „dass die so genannten ‚historischen Verfahren’ sowohl aus qualitativen als auch quantitativen Verfahren bestehen, die nicht grundlegend anders sind als die soziologischen qualitativen und quantitativen Verfahren“. Als wichtige quantitative Methoden zur Erfassung von Verlaufsmustern, die jeweils anhand ausgewählter Forschungsbeispiele veranschaulicht werden, stellt Baur (Kap. 8) die Kohortenanalyse (Ronald Inglehart), die Zeitreihenanalyse (Fernand Braudel, Postfordismus-Theorie), die Ereignisanalyse (Hans-Peter Blossfeld u.a.) und die Sequenzanalyse (David Stark, Balazs
Vedres) vor (Kap. 8). Die Stärken quantitativer Längsschnittanalysen sieht Baur (S. 234) in der Untersuchung des Wandels von Mischungsverhältnissen, der Modellökonomie, der exakten Modellierung von Verlaufsformen sowie im Testen von Hypothesen. Demgegenüber dürfe nicht übersehen werden, dass quantitative Verfahren zur Verlaufsmusteranalyse nach wie vor selten angewandt würden, eine ausgeprägte Gegenwartsnähe aufwiesen, sich häufig auf die Analyse individueller Handlungsmuster beschränkten sowie sehr begrenzte Analysemöglichkeiten für miteinander verschränkte Verlaufsmuster unterschiedlicher Dauer böten. Während quantitative Verfahren sich häufig nur auf eine Dimension der Ereignismatrix konzentrierten, nähmen qualitative Forschungen die Ereignismatrix häufig als Ganzes in den Blick (S. 233). Angesichts der damit einhergehenden Fülle qualitativer Verfahren zur Erfassung von Verlaufsmustern sieht sich Baur dazu gezwungen, die Darstellung bewusst selektiv auf die qualitativen Verfahren der Grounded Theory (Barney Glaser, Anselm Strauss), der Biografischen Methode (Nina Zahner), der Fallstudienanalyse (Nathalie Behnke) sowie der qualitativen historischen Methode (Georges Duby, Philippe Ariès) zu konzentrieren (Kap. 9).
Stärken und Schwächen dieser Verfahren hängen aus Sicht Baurs (S. 237) damit zusammen, dass der qualitativen Sozialforschung bereits aus erhebungstechnischen Gründen das „Phänomen ‚Zeit’ inhärent“ sei:
Qualitative Verfahren könnten mit sehr unterschiedlichen Daten und sehr heterogenem Material umgehen. Indem sie eine multidimensionale Nutzung der Ereignismatrix verfolgten, seien alle qualitativen Verfahren Verfahren der Verlaufsmusteranalyse. Dadurch sei es je nach Verfahren möglich, „die Interaktion verschiedener Verlaufsformen, Zeitschichten, Handlungsebenen und Handlungsräume zu untersuchen“ sowie die jeweiligen Raumkonstitutionen zu erforschen (S. 315). Im Gegensatz zu den quantitativen ließen sich qualitative Verfahren allerdings nicht so gut systematisieren wie quantitative, die Modellbildung sei meistens sehr komplex und weniger exakt als in der quantitativen Forschung.
In einer abschließenden Betrachtung stellt Baur heraus, dass sich die qualitative und quantitative Sozialforschung in ihrem Potential für die Verlaufsmusteranalyse (Verlaufsmusteridentifizierung und -charakterisierung, Kausalanalyse) ergänzten. Da sich jedoch beide Ansätze in der soziologischen Forschungspraxis häufig auf die „Individualebene sowie mittlere Zeitschichten der jüngsten Vergangenheit“ (S. 315) beschränkten, bleibe die tatsächliche Forschungspraxis weit hinter dem Erkenntnispotential zurück. Insofern müsse sich die soziologische Verlaufsmusteranalyse künftig verstärkt der
Meso- und Makroebene zuwenden. Im Sinne eines methodologischen Lernens von der Geschichtswissenschaft sollte die Analyse von Verlaufsmustern extrem langer Dauer in den Vordergrund gerückt und der Klassifikation von Kausalbeziehungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden (Methodenflexibilität). Dazu müssten die Soziolog/innen zukünftig dem Vorbild der Historiker/innen folgend verstärkt auf prozessgenerierte Daten zurückgreifen.
Ist es den Autor/innen in konzeptioneller Hinsicht gelungen, um auf eine eingangs angeführte programmatische Formulierung Schwietrings zurückzugreifen, die Dimension des Historischen aus dem Rahmen der Geschichtsschreibung im engeren Sinne herauszuholen und als eine notwendige Blickrichtung der sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Forschung insgesamt zu entwerfen? Diese Frage darf mit Blick auf alle drei Arbeiten positiv beantwortet werden. Eine Stärke der Studie Baurs liegt insbesondere darin, dass sich ihre analytischen Ausführungen zur methodischen Handhabung der Ereignismatrix unmittelbar auf das konkrete soziologische und historische Forschungshandeln beziehen lassen. Der von Baur entfaltete weite forschungstechnische Horizont darf als überzeugendes Sachargument für die Konzeptualisierung der Soziologie als historische Sozialwissenschaft gelesen werden.
Rosas Studie, der eine „konsequent kultur- und sozialhistorisch orientierte Perspektive“ (S. 429) zugrunde liegt, wird dem selbst gesetzten Zweck, zukünftiger empirischer Forschung neue Fragehorizonte zu eröffnen, in instruktiver Weise gerecht. Diese Bewertung lässt sich auch mit Blick auf die beeindruckende Darstellungsdichte sozialer Beschleunigungsphänomene bestätigen, die in der vorliegenden, systematisch angelegten Besprechung keine eingehendere Berücksichtigung finden konnten. Der Vergleich mit Baur rückt allerdings auch den normativen Überschuss der Studie in den Blick. Dies betrifft insbesondere Rosas Anspruch, mit seiner kritischen Beschleunigungstheorie einen Beitrag zu einer noch zu schreibenden „Soziologie des guten Lebens“ (S. 66) vorzulegen.
Schwietring schließlich entwirft grundlagentheoretische Perspektiven für eine am Problem der Geschichtlichkeit orientierte Historische Kulturwissenschaft. Insofern stellt er keinen unmittelbaren Bezug zum konkreten soziologischen Forschungshandeln her. Schwietring (S. 578) liefert „keine positive Theorie oder ein applizierbares Modell der Kontinuität“, sondern entwickelt vielmehr eine partiell sehr weit ausholende, systematische Argumentation gegen die offensichtliche „Verdrängung des geschichtlichen Denkens und der Idee der Geschichtlichkeit aus der Soziologie“ (S. 501). Seine Studie darf insgesamt im positiven Sinn als explorativer Beitrag zu einer weiterführenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der von Reinhart Koselleck [2] begriffsgeschichtlich erschlossenen „Frage nach den Zeitstrukturen“ qualifiziert werden. Alle drei Bände beeindrucken durch ihr innovatives Potential und eröffnen der soziologischen und historischen Forschung dank ihres interdisziplinären Horizonts Wege zu mehr reflektierter und methodisch geleiteter Historizität.
Anmerkungen:
[1] Freyer, Hans, Schwelle der Zeiten, Stuttgart 1965.
[2] Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 131.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Vera Ziegeldorf
URL zur Zitation dieses Beitrages
"Insgesamt handelt es sich bei Baurs Buch um einen anregenden, lesenswerten Ansatz, Zeitlichkeit als zentrale Kategorie in den Blickpunkt soziologischer Forschung zu rücken." Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 03/2006
"Das Buch stellt eine gründliche und umfassende Aufarbeitung des Stands der Forschung in diesem Bereich dar. [...] Wer sich mit der Verlaufsmusteranalyse beschäftigen möchte, tut gut daran, auf diesem hohen Niveau einzusteigen." ZA-Informationen (Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln), 58/2006
"Das Buch stellt eine gründliche und umfassende Aufarbeitung des Stands der Forschung in diesem Bereich dar. [...] Wer sich mit der Verlaufsmusteranalyse beschäftigen möchte, tut gut daran, auf diesem hohen Niveau einzusteigen." ZA-Informationen (Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln), 58/2006