»Als meine Mutter in meiner Wohnung anrief, weil sie mir sagen wollte, daß mein Vater in der Nacht zuvor fast mit dem Flugzeug abgestürzt wäre, lag ich im Bett und dachte darüber nach, daß mein Leben möglicherweise Gefahr lief, kompliziert zu werden. Das Bett, in dem ich lag, war nicht mein eigenes, infolgedessen erreichte meine Mutter nur den Anrufbeantworter.«
Peter, Anfang Zwanzig, Student der Medizin, unglücklich verliebt, versteht die Welt nicht mehr. Von einem Tag zum anderen verschwindet der Vater aus dem Blickfeld der Familie, indem er von einer Dienstreise als Fotograf nicht nach Hause zurückkehrt. Fest steht aber: Er lebt, denn in unregelmäßigen Abständen erreichen verschwommene, rätselhafte Fotos den Sohn. Anlaß für diesen, sich mit der Familiengeschichte genauer zu befassen ...
Peter, Anfang Zwanzig, Student der Medizin, unglücklich verliebt, versteht die Welt nicht mehr. Von einem Tag zum anderen verschwindet der Vater aus dem Blickfeld der Familie, indem er von einer Dienstreise als Fotograf nicht nach Hause zurückkehrt. Fest steht aber: Er lebt, denn in unregelmäßigen Abständen erreichen verschwommene, rätselhafte Fotos den Sohn. Anlaß für diesen, sich mit der Familiengeschichte genauer zu befassen ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2001Eine schrecklich nette Familie
Vater des Gedankens: Fridolin Schley hat Tomaten auf den Linsen
Wer eine Songzeile von Pink Floyd zum Motto seines Erstlings wählt und im Klappentext die Teilnahme am "Studiengang für Creative Writing" anführt, der darf sich über einen voreingenommenen Rezensenten nicht wundern. Aber er kann auch auf die Neugierde eines Lesers zählen, der wissen will, ob und wie sich ein Roman aus dem Schreiblabor von einem herkömmlichen Werk unterscheidet, möglicherweise so wie eine gentechnisch veränderte Tomate im Supermarkt von einer Frucht aus dem eigenen Garten.
Der 1976 geborene Fridolin Schley geht in "Verloren, mein Vater" mit Vergleichen und Metaphern ungleich sparsamer um. Peter, der gleichaltrige Ich-Erzähler, beschreibt Erinnerungsbrocken, allein auf die Kraft der wiedergefundenen Bilder vertrauend. Zu Recht, denn es sind lakonische Momentaufnahmen eines guten Beobachters: die Mutter, die erst am letzten Tag des Familienurlaubs mit erhobenem Haupt ins Wasser watet, auf der Heimfahrt Laura, die Schwester, mit dem Walkman auf dem Kopf und einem neuen Paßphoto im Portemonnaie, viel später dann Peter als Medizinstudent, dem kurz schwindlig wird und der dann doch die freigelegten Organe photographiert.
Die Photographie wird zum Leitmotiv des Textes. Bald skizziert der Autor an ihr beiläufig eine kleine Poetologie. Von den preisgekrönten Aufnahmen seines Vaters, eines Münchener Photographen, der auf einer seiner Reisen abtaucht, heißt es: "Sie waren alle unscharf, zumindest hatten sie alle unscharfe Elemente, häufig waren die Ränder scharf, vielleicht auch der Vordergrund, doch das eigentliche Objekt, das Abzubildende, war unscharf. Früher waren mir die Photos unheimlich." Je mehr dann die behütete westdeutsche Kindheit und eine um einen kleinen Tick verstörte Jugend aus den Augen gerät, desto bedeutsamer werden die unscharfen Bilder einer anderen Vergangenheit; die Gründe des väterlichen Verschwindens bleiben einstweilen im dunkeln.
In der Metapher vom abwesenden Vater steckt ein großer Stoff, der in der Literatur von Heranwachsenden nicht selten den mehr oder minder verborgenen Subtext bildet. Es zeugt also von Witz, die Metapher schlicht buchstäblich zu nehmen. Weil der Photograph aber weiter seine verschwommenen Aufnahmen an den Sohn schickt und so auf allen Ebenen die Spuren legt, droht er zu einem erzählerischen Kunstgriff zu verblassen, zum Vater des Gedankens, um dieser Phrase einmal eine unübliche Wendung zu geben. Hier, nach fast hundert Seiten, könnte man wieder an den Kreativschreibkurs und die Tomatenzucht denken.
Auch die anschließende Suche Peters nach einer früheren Liebschaft namens Emma wirkt etwas wässerig. Aufschlußreich an der begehrten Frau ist aber - als Kusine zweiten Grades - ihre Verwandtschaft mit dem Erzähler. Auch wenn der Roman der "Szene" angenehm fremd bleibt, hier nimmt er einen markanten Zug der neuesten deutschen Literatur an. Anders als die herrischen, im Grunde aber schwachen Väter früherer Generationen führt der vorübergehende Verlust des Vaters bei Schley nicht zum Aufbegehren des Sohnes, sondern in die Tiefen einer Familiengeschichte. Im Verlaufe des zweiten Teils wird die verborgene Geschichte der Mutter, einer eigenbrötlerischen Lehrerin, langsam an die Oberfläche gehoben. Über Umwege führt sie abermals zum Vater, den sie im Genf der fünfziger Jahre kennen- und liebengelernt hatte. Ihren Anfang aber nimmt sie in den Trümmern von Berlin, bei der Großmutter und ihrem Liebhaber, der die Kunde vom gefallenen Mann gebracht hat: verlorene Väter auch hier. Es sind Annäherungen eines Mittzwanzigers an den Krieg über das verschüttete Leben der Großeltern.
Diese Prosa schreibt ein Erinnerungssüchtiger. Ob Photo, Gedicht oder ein getrocknetes Ahornblatt zwischen den Seiten eines Lexikons: Jedes Zeichen wird dankbar aufgegriffen. Wenn der Erzähler aus dem eigenen Gedächtnis schöpft und sich etwa an Episoden aus dem Freibad erinnert, dann kommt ihm in den Sinn, wie die damaligen Freunde ihrerseits wiederum an ihre Kindheit denken. Schritt für Schritt wird so eine verschachtelte Vergangenheit präsent gemacht. Das anfängliche Geizen mit Vergleichen wird nun durch ein Schwelgen in Analogieketten kompensiert: Die Mutter ähnelt Sophie Scholl und ihrer eigenen Mutter. Und auch der Erzähler glaubte sich ihr als Kind ähnlich, bis er erkennt, daß er immer mehr wie sein Vater wird. Auf daß die ganze Welt sich ähnlich werde.
Man könnte diesen Roman eine Inversion der zum Klischee gewordenen Verstörungsliteratur nennen; wirkt doch das fast vollständige Verschwinden des Befremdlichen im Kontext der Familie selbst unheimlich. Gegen Ende taucht der Vater wieder auf, mögliche Gründe für sein Verschwinden werden obsolet, alle versammeln sich zur gelungenen Premiere von Laura, die den unerfüllten Lebenstraum ihrer Mutter umgesetzt hat und Theaterschauspielerin geworden ist. "Wir sind auf dem Weg nach Hause", endet dieser "Bericht von einer Familie". Und: "Wir müssen frei sein, wir müssen, müssen glücklich werden." Was an den formalen Höhen und inhaltlichen Tiefen dieses Erstlings nun auf das Konto des Schreibkurses geht und was dem Leben des Autors selbst geschuldet ist, weiß man am Ende der Lektüre nicht so genau. Wir wollen es so sagen: Strauchtomate, aus Frankreich.
MICHAEL ANGELE
Fridolin Schley: "Verloren, mein Vater". Roman. Verlag C.H. Beck, München 2001. 238 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vater des Gedankens: Fridolin Schley hat Tomaten auf den Linsen
Wer eine Songzeile von Pink Floyd zum Motto seines Erstlings wählt und im Klappentext die Teilnahme am "Studiengang für Creative Writing" anführt, der darf sich über einen voreingenommenen Rezensenten nicht wundern. Aber er kann auch auf die Neugierde eines Lesers zählen, der wissen will, ob und wie sich ein Roman aus dem Schreiblabor von einem herkömmlichen Werk unterscheidet, möglicherweise so wie eine gentechnisch veränderte Tomate im Supermarkt von einer Frucht aus dem eigenen Garten.
Der 1976 geborene Fridolin Schley geht in "Verloren, mein Vater" mit Vergleichen und Metaphern ungleich sparsamer um. Peter, der gleichaltrige Ich-Erzähler, beschreibt Erinnerungsbrocken, allein auf die Kraft der wiedergefundenen Bilder vertrauend. Zu Recht, denn es sind lakonische Momentaufnahmen eines guten Beobachters: die Mutter, die erst am letzten Tag des Familienurlaubs mit erhobenem Haupt ins Wasser watet, auf der Heimfahrt Laura, die Schwester, mit dem Walkman auf dem Kopf und einem neuen Paßphoto im Portemonnaie, viel später dann Peter als Medizinstudent, dem kurz schwindlig wird und der dann doch die freigelegten Organe photographiert.
Die Photographie wird zum Leitmotiv des Textes. Bald skizziert der Autor an ihr beiläufig eine kleine Poetologie. Von den preisgekrönten Aufnahmen seines Vaters, eines Münchener Photographen, der auf einer seiner Reisen abtaucht, heißt es: "Sie waren alle unscharf, zumindest hatten sie alle unscharfe Elemente, häufig waren die Ränder scharf, vielleicht auch der Vordergrund, doch das eigentliche Objekt, das Abzubildende, war unscharf. Früher waren mir die Photos unheimlich." Je mehr dann die behütete westdeutsche Kindheit und eine um einen kleinen Tick verstörte Jugend aus den Augen gerät, desto bedeutsamer werden die unscharfen Bilder einer anderen Vergangenheit; die Gründe des väterlichen Verschwindens bleiben einstweilen im dunkeln.
In der Metapher vom abwesenden Vater steckt ein großer Stoff, der in der Literatur von Heranwachsenden nicht selten den mehr oder minder verborgenen Subtext bildet. Es zeugt also von Witz, die Metapher schlicht buchstäblich zu nehmen. Weil der Photograph aber weiter seine verschwommenen Aufnahmen an den Sohn schickt und so auf allen Ebenen die Spuren legt, droht er zu einem erzählerischen Kunstgriff zu verblassen, zum Vater des Gedankens, um dieser Phrase einmal eine unübliche Wendung zu geben. Hier, nach fast hundert Seiten, könnte man wieder an den Kreativschreibkurs und die Tomatenzucht denken.
Auch die anschließende Suche Peters nach einer früheren Liebschaft namens Emma wirkt etwas wässerig. Aufschlußreich an der begehrten Frau ist aber - als Kusine zweiten Grades - ihre Verwandtschaft mit dem Erzähler. Auch wenn der Roman der "Szene" angenehm fremd bleibt, hier nimmt er einen markanten Zug der neuesten deutschen Literatur an. Anders als die herrischen, im Grunde aber schwachen Väter früherer Generationen führt der vorübergehende Verlust des Vaters bei Schley nicht zum Aufbegehren des Sohnes, sondern in die Tiefen einer Familiengeschichte. Im Verlaufe des zweiten Teils wird die verborgene Geschichte der Mutter, einer eigenbrötlerischen Lehrerin, langsam an die Oberfläche gehoben. Über Umwege führt sie abermals zum Vater, den sie im Genf der fünfziger Jahre kennen- und liebengelernt hatte. Ihren Anfang aber nimmt sie in den Trümmern von Berlin, bei der Großmutter und ihrem Liebhaber, der die Kunde vom gefallenen Mann gebracht hat: verlorene Väter auch hier. Es sind Annäherungen eines Mittzwanzigers an den Krieg über das verschüttete Leben der Großeltern.
Diese Prosa schreibt ein Erinnerungssüchtiger. Ob Photo, Gedicht oder ein getrocknetes Ahornblatt zwischen den Seiten eines Lexikons: Jedes Zeichen wird dankbar aufgegriffen. Wenn der Erzähler aus dem eigenen Gedächtnis schöpft und sich etwa an Episoden aus dem Freibad erinnert, dann kommt ihm in den Sinn, wie die damaligen Freunde ihrerseits wiederum an ihre Kindheit denken. Schritt für Schritt wird so eine verschachtelte Vergangenheit präsent gemacht. Das anfängliche Geizen mit Vergleichen wird nun durch ein Schwelgen in Analogieketten kompensiert: Die Mutter ähnelt Sophie Scholl und ihrer eigenen Mutter. Und auch der Erzähler glaubte sich ihr als Kind ähnlich, bis er erkennt, daß er immer mehr wie sein Vater wird. Auf daß die ganze Welt sich ähnlich werde.
Man könnte diesen Roman eine Inversion der zum Klischee gewordenen Verstörungsliteratur nennen; wirkt doch das fast vollständige Verschwinden des Befremdlichen im Kontext der Familie selbst unheimlich. Gegen Ende taucht der Vater wieder auf, mögliche Gründe für sein Verschwinden werden obsolet, alle versammeln sich zur gelungenen Premiere von Laura, die den unerfüllten Lebenstraum ihrer Mutter umgesetzt hat und Theaterschauspielerin geworden ist. "Wir sind auf dem Weg nach Hause", endet dieser "Bericht von einer Familie". Und: "Wir müssen frei sein, wir müssen, müssen glücklich werden." Was an den formalen Höhen und inhaltlichen Tiefen dieses Erstlings nun auf das Konto des Schreibkurses geht und was dem Leben des Autors selbst geschuldet ist, weiß man am Ende der Lektüre nicht so genau. Wir wollen es so sagen: Strauchtomate, aus Frankreich.
MICHAEL ANGELE
Fridolin Schley: "Verloren, mein Vater". Roman. Verlag C.H. Beck, München 2001. 238 S., geb., 38,- DM.
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