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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.1997

Kriege werden häufig vermieden
Eine Studie von Großmachtkonflikten

Jost Dülffer, Martin Kröger und Rolf-Harald Wippich: Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg 1856 bis 1914. R. Oldenbourg Verlag, München 1997. 717 Seiten, 98,- Mark

Im Hinblick auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist zuweilen die Meinung geäußert worden, es sei an sich gar nicht so erstaunlich, daß es im Sommer 1914 zu dem großen Völkerringen gekommen sei. Eigentlich bemerkenswert erscheine vielmehr, wie lange diese kriegerische Katastrophe auf sich habe warten lassen. Angespielt wird damit auf eine als strukturell unterstellte Krisenhaftigkeit der Staatenwelt im Vorfeld des Ersten Weltkrieges. Diese habe den großen Krieg stets in sich getragen; daher mute es beinahe wie ein Wunder an, daß er noch so lange hinausgeschoben worden sei.

Eine derart teleologisch geprägte Sicht der Dinge verführt dazu, zu übersehen, was Jost Dülffer in seiner gedankenreichen Einführung zu dem vorliegenden Band mit der lapidaren Feststellung umschreibt: "Kriege werden häufig vermieden." Der Sinn dieser bemerkenswerten Anthologie, in der 33 Krisen der Staatenwelt zwischen dem Ende des Krimkrieges im Jahre 1856 und dem Beginn der Julikrise im Jahre 1914 untersucht werden, liegt darin, eine Antwort auf die maßgebliche Frage zu finden: "Wie kam es, daß der große und allgemeine Krieg ein halbes Jahrhundert lang vermieden wurde?"

Betrachtet werden, von verschiedenen Autoren bearbeitet, Konflikte und Kriege zwischen Großmächten, die einen glimpflichen Ausgang nahmen: vom italienischen Krieg im Jahre 1859 über die "Krieg-in-Sicht"-Krise vom Jahre 1875 und die englisch-französische Konfrontation bei Faschoda im Jahre 1898 bis zur "Liman-von-Sanders"-Krise an der Jahreswende 1913/14.

Um das Ergebnis der Studien vorwegzunehmen: Ein Gesetz, eine Regelhaftigkeit, eine gültige Verlaufsform, warum sich Krisen, Konflikte und Kriege nicht zu großen Katastrophen ausweiten, läßt sich nicht ausmachen. Rückblickend kann lediglich für den jeweils einzelnen Fall erklärt werden, warum die allgemeine Auseinandersetzung umgangen wurde, ja, warum das "lange" 19. Jahrhundert mit Ausnahme des Krimkrieges vom allgemeinen Krieg, vom Weltkrieg, verschont geblieben ist - während das vorhergehende Säkulum mit Recht als ein bellizistisches Zeitalter zu gelten hat und das schreckliche 20. Jahrhundert als Ära der Weltkriege in die Geschichte eingehen wird.

Gewiß, es gibt übergreifende Bedingungen und Muster in der Gedankenbildung und im Verhalten der Akteure, die den Tatbestand der Kriegsvermeidung plausibel zu machen imstande sind: Insgesamt war die allgemeine Interventionsbereitschaft der großen Mächte vergleichsweise sparsam ausgebildet. Für eine umfassende oder teilweise Lösung der an sich unlösbaren Orientalischen Frage auf diversen südosteuropäischen und nahöstlichen Schauplätzen beispielsweise den großen Krieg und die eigene Existenz, die internationale und die innere Revolution zu riskieren, um eigene Interessen, Prinzipien und Werte zu verwirklichen, verbot sich aus Kalkül, aus Erfahrung und aus Staatsklugheit. Die von Friedrich von Gentz im Vorfeld des Kongresses von Verona (1822) ausgegebene Maxime, "nie über die türkischen Angelegenheiten zu sprechen", sei zu einer "Art von Courtoisie" geworden, behielt ihre den großen Krieg vermeidende Gültigkeit. Mehr noch: Für die eigene Moral mit militärischer Macht einzugreifen war dem friedlichen 19. weitaus fremder als dem kriegerischen 20. Jahrhundert.

Beobachten läßt sich im Hinblick auf den für das zurückliegende Jahrhundert prägenden Weltgegensatz zwischen Briten und Russen zudem, daß die machtpolitische Konfrontation, weil die ideologischen Elemente des von Rudyard Kipling so genannten "Great Game" zurücktraten, kontrollierbar war: Die Kontrahenten wußten, daß sie, was der überflüssige Krimkrieg ihnen desaströs vor Augen geführt hatte, im großen Krieg nur verlieren konnten, weil der eine den anderen nicht zu besiegen vermochte, weil die insulare Unverwundbarkeit Großbritanniens und die meerhafte Weite Rußlands das einfach verhinderten.

Vielleicht wäre es für manchen Beitrag in bezug auf seine Erklärungskraft hilfreich gewesen, stärker die Mentalitäten der Regierenden und Regierten in ihrer Haltung gegenüber der Frage von Krieg und Frieden zu berücksichtigen. Vergleichsweise lange wirkte nämlich die Erinnerung an die Zerstörungen des bellizistischen 18. Jahrhunderts, insbesondere an die französischen Revolutionsfeldzüge und die Napoleonischen Kriege, nach: Daß der alles verschlingende Konflikt die internationale und nationale Revolutionierung des Bestehenden nach sich zu ziehen drohte, stand den Staatsmännern des 19. Jahrhunderts wie ein Menetekel vor Augen.

Kurzum: Die ganz unterschiedlichen Erklärungen für die Vermeidung des großen Krieges im 19. Jahrhundert, der einmal durch kluges Nachgeben und ein anderes Mal durch eine Politik der Stärke umgangen wurde, sind kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Nicht zuletzt die hochgemute Überzeugung Immanuel Kants, "die Beistimmung der Staatsbürger" zu der Frage, "ob Krieg sein soll oder nicht", werde das Unvernünftige auf jeden Fall vermeiden, ist unhaltbar, weil sich nicht selten gerade das Gegenteil vom optimistisch Erwarteten einzustellen pflegte. Jost Dülffers abwägende Überlegungen, ob und inwieweit eine global demokratisierte Welt mit einer allgemein befriedeten (Staaten-)Welt identisch sein könne, mündet denn auch in die empirisch noch kaum zureichend zu beantwortende Frage ein: "Gibt es eine erfolgversprechende Kriegsprophylaxe durch Demokratie?"

Alles in allem verdanken wir Jost Dülffer, der, zusammen mit seinem Team, eine originelle Frage der Geschichte und Geschichtsschreibung entdeckt, aufgeworfen und verfolgt hat, einen in vielerlei Hinsicht anregenden Sammelband: Er ist Impulse zu liefern imstande für eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem zentralen Problem von Krieg und Frieden, das eine immer häufiger im unverbindlich Ästhetischen ihr selbstverlorenes Vergnügen findende Geschichtswissenschaft nicht aus dem Auge verlieren sollte. KLAUS HILDEBRAND

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