Es herrscht Aufruhr. Fast alles, was bis vor kurzem als festgefügt, selbstverständlich und gesichert gegolten hat, wird infrage gestellt. Und hat Folgen: abgesetzte Operninszenierungen, mit Warnhinweisen versehene Filme, vom N-Wort bereinigte Bücher, gekündigte Redakteur_innen, Karikaturisten, Wissenschaftler_innen.
Mohrenstraßen sollen nicht mehr so heißen, und dass es nur zwei Geschlechter gäbe, hat eigentlich nie gegolten und gilt erst recht nicht mehr, seit es Menschen gibt, die sich auch öffentlich zwischen Mann und Frau verorten und deshalb als non-binär definieren. Ein Buchstabenwurm, der einmal mit LGBT begonnen hat, ist inzwischen bei LGBTQIA_ angelangt.
Die Diskussion über die sogenannte Identitätspolitik greift auf unseren Alltag über. Es formiert sich Protest dagegen, schon gegen das Gendern wird Sturm gelaufen. Konservative Kommentator_innen liefern die verbalen Knüppel dafür: »Sprachpolizei«, »Gedankenkontrolle«, »Cancel Culture«.
Die Gefahr ist: eine Herrschaft rigoroser Moralisten durch Tugendterror. Die Chance ist: eine Gesellschaft, die sensibler, achtsamer, reflektierter, rücksichtsvoller und toleranter mit sich und ihren Minderheiten umgeht.
Wir müssen uns entscheiden, jede_r einzelne wie als Gesellschaft insgesamt: Welche Haltung nehmen wir dazu ein?
Mohrenstraßen sollen nicht mehr so heißen, und dass es nur zwei Geschlechter gäbe, hat eigentlich nie gegolten und gilt erst recht nicht mehr, seit es Menschen gibt, die sich auch öffentlich zwischen Mann und Frau verorten und deshalb als non-binär definieren. Ein Buchstabenwurm, der einmal mit LGBT begonnen hat, ist inzwischen bei LGBTQIA_ angelangt.
Die Diskussion über die sogenannte Identitätspolitik greift auf unseren Alltag über. Es formiert sich Protest dagegen, schon gegen das Gendern wird Sturm gelaufen. Konservative Kommentator_innen liefern die verbalen Knüppel dafür: »Sprachpolizei«, »Gedankenkontrolle«, »Cancel Culture«.
Die Gefahr ist: eine Herrschaft rigoroser Moralisten durch Tugendterror. Die Chance ist: eine Gesellschaft, die sensibler, achtsamer, reflektierter, rücksichtsvoller und toleranter mit sich und ihren Minderheiten umgeht.
Wir müssen uns entscheiden, jede_r einzelne wie als Gesellschaft insgesamt: Welche Haltung nehmen wir dazu ein?
»Fundiert, differienziert und wohltuend unpolemisch.« Hörzu
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Nele Pollatschek ist in der Sache nicht unbedingt überzeugt von einigen Aspekten in diesem Buch, aber sie ist voll und ganz damit einverstanden, wie Petra Gerster und Christian Nürnbergers die Gender-Debatte angehen: in einem Versuch der Schlichtung. Wie die Rezensentin erklärt, wollen die ZDF-Moderatorin und ihr Mann einerseits all diejenigen in die Debatte einführen, die mit dem modischen Jargon nicht vertraut sind, andererseits wollen sie aber auch wirklich zusammenführen. Pollatschek lernt dabei, dass sich schon kurze Zeit, nachdem sich alle aufgeregt haben, kaum noch jemand noch jemand für den Anlass des Streits interessiert, aber am Ende doch immer alle was gelernt haben. Die Rezensentin selbst weist zwar minutiös auf einige Ungenauigkeiten in dem Buch hin, verzeiht sie aber am großzügig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.12.2021Gute Seelen
Nachdem die Moderatorin Petra Gerster mit dem Gendern begann, hagelte es böse Briefe. Mit „Vermintes Gelände“ will sie den Streit schlichten. Kann das klappen?
Weihnachten ist ja ein zutiefst identitätspolitisches Fest. Nicht nur, weil die Geschichte mit Maria und dem Stall, wie vieles Identitätspolitisches, mit einem Zensus beginnt. Oder weil die drei Könige divers gecastet sind. Oder weil es sich beim Geburtstagskind um den späteren König der Woken handelt (Kritik an Reichen, Verteidigung von Sexarbeiter*innen, moralische Belehrungen). Die größte Gemeinsamkeit zwischen Identitätspolitik und Weihnachten – mein Beileid an alle, die es gerade wieder durchleben mussten
– ist aber, dass es bei beidem irgendwann kracht. Missverständnisse entstehen, Vorwürfe werden gemacht, irgendwer verletzt irgendjemand anders, es gibt Generationenkonflikte, Traditionskonflikte, unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man ein Zusammenleben organisiert und am Ende ist man wütend und traurig und gründlich erschöpft.
Manchmal erbarmt sich dann eine gute Seele, erklärt jedem, was der andere eigentlich meinte und warum das doch im Grunde gar nicht so schlimm sei und vielleicht wird es dann doch ganz schön und alle haben sich wieder lieb und dann steht man Arm in Arm unterm Baum und für einen Moment vergisst man, dass Omi doch sehr rassistisch ist oder dass das nicht-binäre Kind wirklich jedes Mal mit irgendwas Neuem ankommt.
Die Schlichtungsversuche guter Seelen funktionieren an Weihnachten so mittelgut, ob es bei Identitätspolitik klappt, wo die wechselseitige Zuneigung mitunter noch geringer ist, als in der eigenen Familie, lässt sich bezweifeln. Aber unabhängig davon, wie gut es klappt, muss man es den guten Seelen doch hoch anrechnen, dass sie es aufrichtig versuchen. Dass sie aus ihrer eigenen Rolle hinausschauen (soweit menschenmöglich), dass sie sich bemühen alle zu verstehen (selbst wenn es nicht immer gelingt), dass sie mit allen empathisch sind (wobei es bei einigen leichter fällt als bei anderen). Was man bewundert, ist die Aufrichtigkeit, das redliche Bemühen, das Streben nach dem gemeinsamen Guten.
Das Buch „Vermintes Gelände“ der ehemaligen ZDF-heute-Moderatorin Petra Gerster und ihres Mannes Christian Nürnberger ist so ein Schlichtungsversuch von dem man, selbst wenn man die Autorin und den Autor nicht kennt, annehmen muss, dass er von guten Seelen kommt. Und spätestens an dieser Stelle muss ich der Transparenz zuliebe einräumen, dass ich zumindest eine der beiden kenne. Gerster und ich saßen uns bei Maischberger. Die Woche gegenüber. Es ging in der Sendung um genau das Thema, um das es auch in „Vermintes Gelände“ geht: um Identitätspolitik, genauer ums Gendern. Gerster war für’s Gendern, ich war dagegen. Tatsächlich findet die Sendung im Buch Erwähnung, im Kapitel „Sie, der Schriftsteller“ (der Titel bezieht sich auf mich). Überzeugt haben wir einander damals nicht. Und auch nach der Lektüre des 212-seitigen Plädoyers für gerechtere Sprache, bin ich von Gersters Haltung zum Gendern nicht überzeugt. So wie sie nach der Lektüre meiner Texte meine Haltung zwar als „weniger verrückt, als es klingt“ beschreibt, aber dennoch „nicht ganz überzeugt“ ist. Dass Gerster mich nicht überzeugen konnte, ist für den Wert dieses Buches aber unerheblich. Denn der liegt eben gerade nicht in einer originellen These, sondern in einer Haltung und einem aufklärenden, versöhnenden Bestreben.
Dieses Bestreben wird zu Beginn des Buches so beschrieben: „Wer mit dem Begriff Identitätspolitik nicht wirklich etwas anfangen kann, ist hier richtig. Für die Verunsicherten schreiben wir dieses Buch. Wir schreiben es für die verständnislos Fragenden, die manchmal denken, es sei tatsächlich so, dass man in unserem Land mit Meinungsäußerungen vorsichtig sein müsse. Wir schreiben es für die, die sich fragen, was daran so schlimm sein soll, wenn man sich an seine Kindheit als ,Indianerhäuptling‘ erinnert.“
Dieser Zielgruppe werden Gerster und Nürnberger gerecht. Sie bauen eine Brücke zwischen Gersters ehemaligem Publikum (eher weiß und Ü60) und den wichtigen Stimmen der Identitätspolitik (eher POC – also nicht-weiß – und U40). Sie übersetzen, was manchmal über-akademisch und mit Anglizismen daherkommt in die Sprache einer anderen Generation. Dabei gehen sie alle Debatten der vergangenen Jahre akribisch durch – von der Umbenennung der Z-Wort-Soße in Paprikasoße zu Jens Lehmanns „Quotenschwarzer“ und Dennis Aogos „bis zum Vergasen“.
Sie erzählen Geschichten weiter, für die sich nach dem Abklingen der Empörung kaum noch jemand interessierte. Und sie korrigieren vieles, zum Beispiel, die oft kolportierte Behauptung, Schwarze Aktivisten hätten in den Niederlanden verhindern wollen, dass weiße Übersetzer schwarze Autoren übersetzen.
Und sie bringen das meiste, wie es gute Seelen so tun, zu einem versöhnlichen Ende. In der Welt von Gerster und Nürnberger gibt es häufiger Krach, aber am Ende haben alle was gelernt: Petra Gerster hat Gendern mit * gelernt, Thomas Gottschalk verzichtet auf das Z-Wort, Jens Lehmann liest jetzt anti-rassistische Bücher, Dennis Aogo „denkt nach“ und „sogar Boris Palmer“ zeigt Einsicht. Wie Gerster und Nürnberger schreiben: „Wenn es kracht, sieht es zunächst schlimm aus. Aber danach klärt sich manches, meistens wird dabei etwas gelernt. Lehmann und Aogo sollten sich umarmen und wir sie“.
Und ja, in der Versöhnlichkeit unterlaufen Gerster und Nürnberger einige Ungenauigkeiten. Wer allen gerecht werden will, kann vielleicht nicht allen in allen Details gerecht werden. Das fällt beim ersten Argument für das Sternchen-Gendern auf. Hier heißt es, es gäbe „in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen, die sich weder mit dem Attribut weiblich noch männlich identifizieren“. Die Zahl ist mit einem Verweis auf die Zeit-Vermächtnis-Studie belegt, allerdings werden hier binäre trans Personen – also Menschen, bei denen das Geschlecht, dem sich zugehörig fühlen, nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei ihrer Geburt aufgrund körperlicher Merkmale zugewiesen wurde – mit nicht-binären zusammen gruppiert. Will heißen: viele dieser 2,5 Millionen identifizieren sich durchaus entweder männlich oder weiblich und finden es eher diskriminierend als Mann* oder Frau* geführt zu werden (was kein Argument gegen Gendern ist, nur gegen das Gleichsetzen von trans und nicht-binären Menschen).
Später schreiben Gerster und Nürnberger, dass „Transpersonen“ (die bevorzugte Bezeichnung ist eigentlich trans Personen) im Film oft „von Heterosexuellen“ gespielt werden und implizieren so, dass trans und hetero sich gegenüberstehen. Ein trans Mann der auf Frauen steht, kann sich aber durchaus als hetero identifizieren. Das Gegenstück zu trans ist cis.
Und ja, hier lässt sich noch einiges finden. Wer sich aufregen will, kann sich aufregen, nur dass man das nach „Vermintes Gelände“ eben gar nicht mehr will. Weil so offensichtlich ist, dass hier jemand gut recherchiert hat, lange nachgedacht, viel gelesen, viel diskutiert, viel zugehört. Und die Fehler passieren, trotz der größten Mühen. Weil Menschen, die sich Bemühen, eben auch Fehler machen und wer alles verstehen will, der wird auch mal was missverstehen. Und das ist gut so. Weil es gut ist, wenn Menschen ihr Streben offenlegen, solange sie lauter und aufrichtig sind, solange sie nichts rhetorisch glatttricksen, und selbst die Fehler noch feinsäuberlich belegen. Und so ist man vielleicht nicht ganz überzeugt, aber man wäre wirklich gerne dabei, wenn sich am Ende tatsächlich alle umarmen.
NELE POLLATSCHEK
In Gersters Welt haben am
Ende alle etwas gelernt,
„sogar Boris Palmer“
Wer sich aufregen will, kann
sich aufregen, aber man will das
nach der Lektüre gar nicht mehr
„Für die Verunsicherten schreiben wir dieses Buch, für die verständnislos Fragenden“: Petra Gerster.
Foto: Rossival/Heyne
Petra Gerster, Christian Nürnberger: Vermintes Gelände
– Wie der Krieg um Wörter unsere Gesellschaft verändert: Die Folgen der Identitätspolitik. Heyne, München 2021. 224 Seiten, 16 Euro.
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Nachdem die Moderatorin Petra Gerster mit dem Gendern begann, hagelte es böse Briefe. Mit „Vermintes Gelände“ will sie den Streit schlichten. Kann das klappen?
Weihnachten ist ja ein zutiefst identitätspolitisches Fest. Nicht nur, weil die Geschichte mit Maria und dem Stall, wie vieles Identitätspolitisches, mit einem Zensus beginnt. Oder weil die drei Könige divers gecastet sind. Oder weil es sich beim Geburtstagskind um den späteren König der Woken handelt (Kritik an Reichen, Verteidigung von Sexarbeiter*innen, moralische Belehrungen). Die größte Gemeinsamkeit zwischen Identitätspolitik und Weihnachten – mein Beileid an alle, die es gerade wieder durchleben mussten
– ist aber, dass es bei beidem irgendwann kracht. Missverständnisse entstehen, Vorwürfe werden gemacht, irgendwer verletzt irgendjemand anders, es gibt Generationenkonflikte, Traditionskonflikte, unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man ein Zusammenleben organisiert und am Ende ist man wütend und traurig und gründlich erschöpft.
Manchmal erbarmt sich dann eine gute Seele, erklärt jedem, was der andere eigentlich meinte und warum das doch im Grunde gar nicht so schlimm sei und vielleicht wird es dann doch ganz schön und alle haben sich wieder lieb und dann steht man Arm in Arm unterm Baum und für einen Moment vergisst man, dass Omi doch sehr rassistisch ist oder dass das nicht-binäre Kind wirklich jedes Mal mit irgendwas Neuem ankommt.
Die Schlichtungsversuche guter Seelen funktionieren an Weihnachten so mittelgut, ob es bei Identitätspolitik klappt, wo die wechselseitige Zuneigung mitunter noch geringer ist, als in der eigenen Familie, lässt sich bezweifeln. Aber unabhängig davon, wie gut es klappt, muss man es den guten Seelen doch hoch anrechnen, dass sie es aufrichtig versuchen. Dass sie aus ihrer eigenen Rolle hinausschauen (soweit menschenmöglich), dass sie sich bemühen alle zu verstehen (selbst wenn es nicht immer gelingt), dass sie mit allen empathisch sind (wobei es bei einigen leichter fällt als bei anderen). Was man bewundert, ist die Aufrichtigkeit, das redliche Bemühen, das Streben nach dem gemeinsamen Guten.
Das Buch „Vermintes Gelände“ der ehemaligen ZDF-heute-Moderatorin Petra Gerster und ihres Mannes Christian Nürnberger ist so ein Schlichtungsversuch von dem man, selbst wenn man die Autorin und den Autor nicht kennt, annehmen muss, dass er von guten Seelen kommt. Und spätestens an dieser Stelle muss ich der Transparenz zuliebe einräumen, dass ich zumindest eine der beiden kenne. Gerster und ich saßen uns bei Maischberger. Die Woche gegenüber. Es ging in der Sendung um genau das Thema, um das es auch in „Vermintes Gelände“ geht: um Identitätspolitik, genauer ums Gendern. Gerster war für’s Gendern, ich war dagegen. Tatsächlich findet die Sendung im Buch Erwähnung, im Kapitel „Sie, der Schriftsteller“ (der Titel bezieht sich auf mich). Überzeugt haben wir einander damals nicht. Und auch nach der Lektüre des 212-seitigen Plädoyers für gerechtere Sprache, bin ich von Gersters Haltung zum Gendern nicht überzeugt. So wie sie nach der Lektüre meiner Texte meine Haltung zwar als „weniger verrückt, als es klingt“ beschreibt, aber dennoch „nicht ganz überzeugt“ ist. Dass Gerster mich nicht überzeugen konnte, ist für den Wert dieses Buches aber unerheblich. Denn der liegt eben gerade nicht in einer originellen These, sondern in einer Haltung und einem aufklärenden, versöhnenden Bestreben.
Dieses Bestreben wird zu Beginn des Buches so beschrieben: „Wer mit dem Begriff Identitätspolitik nicht wirklich etwas anfangen kann, ist hier richtig. Für die Verunsicherten schreiben wir dieses Buch. Wir schreiben es für die verständnislos Fragenden, die manchmal denken, es sei tatsächlich so, dass man in unserem Land mit Meinungsäußerungen vorsichtig sein müsse. Wir schreiben es für die, die sich fragen, was daran so schlimm sein soll, wenn man sich an seine Kindheit als ,Indianerhäuptling‘ erinnert.“
Dieser Zielgruppe werden Gerster und Nürnberger gerecht. Sie bauen eine Brücke zwischen Gersters ehemaligem Publikum (eher weiß und Ü60) und den wichtigen Stimmen der Identitätspolitik (eher POC – also nicht-weiß – und U40). Sie übersetzen, was manchmal über-akademisch und mit Anglizismen daherkommt in die Sprache einer anderen Generation. Dabei gehen sie alle Debatten der vergangenen Jahre akribisch durch – von der Umbenennung der Z-Wort-Soße in Paprikasoße zu Jens Lehmanns „Quotenschwarzer“ und Dennis Aogos „bis zum Vergasen“.
Sie erzählen Geschichten weiter, für die sich nach dem Abklingen der Empörung kaum noch jemand interessierte. Und sie korrigieren vieles, zum Beispiel, die oft kolportierte Behauptung, Schwarze Aktivisten hätten in den Niederlanden verhindern wollen, dass weiße Übersetzer schwarze Autoren übersetzen.
Und sie bringen das meiste, wie es gute Seelen so tun, zu einem versöhnlichen Ende. In der Welt von Gerster und Nürnberger gibt es häufiger Krach, aber am Ende haben alle was gelernt: Petra Gerster hat Gendern mit * gelernt, Thomas Gottschalk verzichtet auf das Z-Wort, Jens Lehmann liest jetzt anti-rassistische Bücher, Dennis Aogo „denkt nach“ und „sogar Boris Palmer“ zeigt Einsicht. Wie Gerster und Nürnberger schreiben: „Wenn es kracht, sieht es zunächst schlimm aus. Aber danach klärt sich manches, meistens wird dabei etwas gelernt. Lehmann und Aogo sollten sich umarmen und wir sie“.
Und ja, in der Versöhnlichkeit unterlaufen Gerster und Nürnberger einige Ungenauigkeiten. Wer allen gerecht werden will, kann vielleicht nicht allen in allen Details gerecht werden. Das fällt beim ersten Argument für das Sternchen-Gendern auf. Hier heißt es, es gäbe „in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen, die sich weder mit dem Attribut weiblich noch männlich identifizieren“. Die Zahl ist mit einem Verweis auf die Zeit-Vermächtnis-Studie belegt, allerdings werden hier binäre trans Personen – also Menschen, bei denen das Geschlecht, dem sich zugehörig fühlen, nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei ihrer Geburt aufgrund körperlicher Merkmale zugewiesen wurde – mit nicht-binären zusammen gruppiert. Will heißen: viele dieser 2,5 Millionen identifizieren sich durchaus entweder männlich oder weiblich und finden es eher diskriminierend als Mann* oder Frau* geführt zu werden (was kein Argument gegen Gendern ist, nur gegen das Gleichsetzen von trans und nicht-binären Menschen).
Später schreiben Gerster und Nürnberger, dass „Transpersonen“ (die bevorzugte Bezeichnung ist eigentlich trans Personen) im Film oft „von Heterosexuellen“ gespielt werden und implizieren so, dass trans und hetero sich gegenüberstehen. Ein trans Mann der auf Frauen steht, kann sich aber durchaus als hetero identifizieren. Das Gegenstück zu trans ist cis.
Und ja, hier lässt sich noch einiges finden. Wer sich aufregen will, kann sich aufregen, nur dass man das nach „Vermintes Gelände“ eben gar nicht mehr will. Weil so offensichtlich ist, dass hier jemand gut recherchiert hat, lange nachgedacht, viel gelesen, viel diskutiert, viel zugehört. Und die Fehler passieren, trotz der größten Mühen. Weil Menschen, die sich Bemühen, eben auch Fehler machen und wer alles verstehen will, der wird auch mal was missverstehen. Und das ist gut so. Weil es gut ist, wenn Menschen ihr Streben offenlegen, solange sie lauter und aufrichtig sind, solange sie nichts rhetorisch glatttricksen, und selbst die Fehler noch feinsäuberlich belegen. Und so ist man vielleicht nicht ganz überzeugt, aber man wäre wirklich gerne dabei, wenn sich am Ende tatsächlich alle umarmen.
NELE POLLATSCHEK
In Gersters Welt haben am
Ende alle etwas gelernt,
„sogar Boris Palmer“
Wer sich aufregen will, kann
sich aufregen, aber man will das
nach der Lektüre gar nicht mehr
„Für die Verunsicherten schreiben wir dieses Buch, für die verständnislos Fragenden“: Petra Gerster.
Foto: Rossival/Heyne
Petra Gerster, Christian Nürnberger: Vermintes Gelände
– Wie der Krieg um Wörter unsere Gesellschaft verändert: Die Folgen der Identitätspolitik. Heyne, München 2021. 224 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de