Die politische Regulierung der Vermögensweitergabe und individuelle Erbregelungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.Das Vererben von Vermögen stabilisiert die Gesellschaftsordnung. Erbregelungen können soziale Ungleichheitsverhältnisse in die Zukunft fortschreiben oder zu Enttäuschungen übergangener Familienmitglieder führen. Da das Vererben soziale Gerechtigkeits- und Familienvorstellungen berührt, ist seine Regulierung politisch höchst umstritten. Obwohl die jährlich vererbten Vermögen in den letzten Jahren immer neue Rekordhöhen erreichten, ist die Vorgeschichte dieser gegenwärtigen Entwicklung bisher kaum erforscht.Ronny Grundig untersucht den Wandel der Vermögensvererbung vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende der 1980er Jahre. Er blickt auf politische Regulierungen, die Praktiken des Vererbens und die Aneignung des Erbes durch die Hinterbliebenen. Der Autor analysiert die Steuervermeidung Vermögender sowie Konflikte zwischen Erben und Erbinnen. Ebenso zeigt er den Wandel von Paar- und Familienbeziehungen beim Vererben, die sich in den Testamenten niederschlagen und die Verteilung der hinterlassenen Vermögen beeinflussen.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Angesichts stagnierender Erbschaftssteuerreformen hält Rezensentin Vivien Leue die Dissertation von Ronny Grundig für lesenswert. Als Debattenbeitrag taugt der Band laut Rezensentin, da der Autor die Erbschaftspraxis im Vergleich zwischen Deutschland und Großbritannien zwischen 1945 und 1990 beleuchtet und dabei die Auswirkungen der hiesigen vergleichsweise niedrigen Erbschaftssteuer offenlegen kann. Inwiefern es sich beim Erbe um mehr als um einen Vermögenswechsel handelt, nämlich um einen gesellschaftsverändernden Akt, vermag der Geschichts- und Sozialwissenschaftler Grundig der Rezensentin zu erklären, indem er die politischen und steuerrechtlichen Debatten in Großbritannien und bei uns nachzeichnet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2022"Wer hat, dem wird gegeben"
Über die Regulierung und die Praxis des Erbens
Erben ist ein brisantes Thema, zumal der Wert der Erbschaften steigt. Er soll in Deutschland zwischen 2015 und 2024 bei 3,1 Billionen Euro liegen. 2017 hielt das reichste Zehntel der Bevölkerung 56 Prozent des gesamten Vermögens, während sich die untere Hälfte mit 1,4 Prozent begnügen musste. Zugleich fließen dem Staat durch die Erbschaftsteuer nur geringe Erträge zu, nämlich 2020 etwa 8 Milliarden Euro, also weniger als aus der Tabaksteuer. Solche Zahlen stimulieren Debatten über eine gerechtere Vermögensverteilung. Könnte eine höhere Erbschaftsteuer ein notwendiges soziales Korrektiv sein?
Der Sozialwissenschaftler Ronny Grundig untersucht die Regulierung und die Praktiken des Vererbens in der Bundesrepublik und in Großbritannien seit 1945. Es überrascht, dass sich trotz unterschiedlicher Rechtstraditionen und politischer Leitlinien in beiden Ländern relativ ähnliche Resultate einstellten. Eine nennenswerte Umverteilung von Reichtum unterblieb. Jedoch ließ die Benachteiligung weiblicher Erben und unehelicher Kinder merklich nach. Die Familie blieb für das Vererben der dominante Referenzrahmen, obwohl sich die Lebensformen pluralisierten. Standen einst die Versorgung und die Ausbildung von Kindern im Vordergrund, wurden nun Ehegatten stärker bedacht, was auch eine Konsequenz der demographischen Verschiebung hin zu weniger Kindern und späteren Geburten ist.
In Westdeutschland zogen die Besatzungsmächte nach 1945 die Steuerschraube massiv an und erhöhten den Spitzensatz der Erbschaftsteuer für Kinder und Gatten auf 60 Prozent. Der Widerstand dagegen war groß und führte praktisch mit der Gründung der Bundesrepublik zur Rückkehr der moderaten Sätze der Vorkriegszeit. Hinfort lautet das Argument, dass der Steuerstaat das Wirtschaftswachstum, insbesondere die Kapitalbildung und den Mittelstand, nicht gefährden dürfe, was die anhaltende Schonung vererbten Vermögens erklärt. Mit der Einführung der Förderung der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand begann 1961 ein bis heute fast wirkungsloser Versuch der Korrektur der Vermögensverteilung. Auch die 1973 von der sozialliberalen Koalition durchgesetzte Reform brachte, wie alle Gesetze danach, keine einschneidende Verschärfung, auch wenn sich in spezifischen Fällen, etwa bei Familienstiftungen und größeren Familienunternehmen, die Belastungen erhöhten. Das Gesamtbild der Perpetuierung einer ausgeprägten Ungleichverteilung hatte Bestand.
Das galt auch für Großbritannien, obwohl die Labour-Regierung nach 1945 einen egalitären Wohlfahrtsstaat schaffen und die Reichen dafür zahlen lassen wollte. Bei einem Nachlass über 1 Million Pfund griff ein konfiskatorischer Steuersatz von 80 Prozent. Ab 100 000 Pfund ging schon die Hälfte an den Staat. Das führte dazu, dass manche Adeligen ihre Schlösser und Kunstsammlungen dem Staat überlassen mussten, der sie dem National Trust anvertraute. Dieses Ausbluten der Oberschicht hielt nicht lange an, denn es provozierte im großen Stil Vermeidungstaktiken wie Schenkungen, Trusts oder das Überspringen einer Generation. Auch leisteten die Relikte der imperialen Vergangenheit Großbritanniens den Vermögenseliten gute Dienste. So besaßen die Kanalinseln und Ex-Kolonien in der Karibik eigene Steuerhoheiten, was erhebliche Gestaltungsspielräume eröffnete. Es entstand eine ganze Industrie, die sich auf die legale Steuervermeidung spezialisierte. Im Katz-und-Maus-Spiel zwischen ihr und dem Staat war Erstere stets einen Schritt voraus. Die Steuersätze blieben trotz zahlreicher Reformen empfindlich, bis unter Premierministerin Thatcher ein Kurswechsel hin zu niedrigeren Steuern einsetzte. Seit 1986 gilt ein immer noch relativ hoher Einheitssteuersatz von 40 Prozent oberhalb des Freibetrags.
Auch wenn die Superreichen ihre Vermögen zu schützen wussten, erlitten britische Familienunternehmen erhebliche Kollateralschäden. Ihnen entzog die Erbschaftsteuer Liquidität, was Verkäufe erzwang. Welches Ausmaß sie hatten und ob sie die relative Schwäche des britischen Mittelstandes erklären, bleibt in diesem Buch leider offen. In Deutschland stärkten dagegen die niedrige Erbschaftsteuer und spezielle, auf ihn zugeschnittene Vergünstigungen den Mittelstand. Die britische Erfahrung, dass eine scharfe Erbschaftsbesteuerung gepaart mit dem Willen zum Abbau sozialer Ungleichheit letztlich erfolglos blieb, mag für die aktuelle Diskussion eine bedenkenswerte Erkenntnis sein.
Die Arbeit hat einige Lücken. Die britischen Steuerparadiese öffneten ihre Tore nämlich auch für Deutsche. Luxemburg und die Schweiz waren nah. Insofern irritiert es, dass nur Stiftungen als deutsche Gestaltungsvehikel erwähnt werden. Bei den Erbpraktiken erwähnt der Autor Konflikte zwischen Erben trotz ihrer Häufigkeit nur beiläufig. Der komparative Ansatz fällt im Schlusskapitel unter den Tisch. Alle Fallbeispiele sind aus Deutschland und zudem recht wahllos aneinandergereiht. Man gewinnt den Eindruck, dass die Studie übereilt abgeschlossen wurde und bedingt durch die Corona-Pandemie mancher Archivbesuch ausfallen musste. Extrem störend wirken das krampfhafte Gendern und die Verwendung von Klarnamen, wenn aus Nachlassakten Vertrauliches berichtet wird. Trotzdem handelt es sich um ein anregendes Buch über ein hochaktuelles und kontroverses Thema, zu dem es noch viel mehr zu sagen und zu erforschen gibt. HARTMUT BERGHOFF
Ronny Grundig: Vermögen vererben
Politiken und Praktiken in der Bundesrepublik und Großbritannien 1945-1990, Wallstein, Göttingen 2020, 340 Seiten, 32 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Über die Regulierung und die Praxis des Erbens
Erben ist ein brisantes Thema, zumal der Wert der Erbschaften steigt. Er soll in Deutschland zwischen 2015 und 2024 bei 3,1 Billionen Euro liegen. 2017 hielt das reichste Zehntel der Bevölkerung 56 Prozent des gesamten Vermögens, während sich die untere Hälfte mit 1,4 Prozent begnügen musste. Zugleich fließen dem Staat durch die Erbschaftsteuer nur geringe Erträge zu, nämlich 2020 etwa 8 Milliarden Euro, also weniger als aus der Tabaksteuer. Solche Zahlen stimulieren Debatten über eine gerechtere Vermögensverteilung. Könnte eine höhere Erbschaftsteuer ein notwendiges soziales Korrektiv sein?
Der Sozialwissenschaftler Ronny Grundig untersucht die Regulierung und die Praktiken des Vererbens in der Bundesrepublik und in Großbritannien seit 1945. Es überrascht, dass sich trotz unterschiedlicher Rechtstraditionen und politischer Leitlinien in beiden Ländern relativ ähnliche Resultate einstellten. Eine nennenswerte Umverteilung von Reichtum unterblieb. Jedoch ließ die Benachteiligung weiblicher Erben und unehelicher Kinder merklich nach. Die Familie blieb für das Vererben der dominante Referenzrahmen, obwohl sich die Lebensformen pluralisierten. Standen einst die Versorgung und die Ausbildung von Kindern im Vordergrund, wurden nun Ehegatten stärker bedacht, was auch eine Konsequenz der demographischen Verschiebung hin zu weniger Kindern und späteren Geburten ist.
In Westdeutschland zogen die Besatzungsmächte nach 1945 die Steuerschraube massiv an und erhöhten den Spitzensatz der Erbschaftsteuer für Kinder und Gatten auf 60 Prozent. Der Widerstand dagegen war groß und führte praktisch mit der Gründung der Bundesrepublik zur Rückkehr der moderaten Sätze der Vorkriegszeit. Hinfort lautet das Argument, dass der Steuerstaat das Wirtschaftswachstum, insbesondere die Kapitalbildung und den Mittelstand, nicht gefährden dürfe, was die anhaltende Schonung vererbten Vermögens erklärt. Mit der Einführung der Förderung der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand begann 1961 ein bis heute fast wirkungsloser Versuch der Korrektur der Vermögensverteilung. Auch die 1973 von der sozialliberalen Koalition durchgesetzte Reform brachte, wie alle Gesetze danach, keine einschneidende Verschärfung, auch wenn sich in spezifischen Fällen, etwa bei Familienstiftungen und größeren Familienunternehmen, die Belastungen erhöhten. Das Gesamtbild der Perpetuierung einer ausgeprägten Ungleichverteilung hatte Bestand.
Das galt auch für Großbritannien, obwohl die Labour-Regierung nach 1945 einen egalitären Wohlfahrtsstaat schaffen und die Reichen dafür zahlen lassen wollte. Bei einem Nachlass über 1 Million Pfund griff ein konfiskatorischer Steuersatz von 80 Prozent. Ab 100 000 Pfund ging schon die Hälfte an den Staat. Das führte dazu, dass manche Adeligen ihre Schlösser und Kunstsammlungen dem Staat überlassen mussten, der sie dem National Trust anvertraute. Dieses Ausbluten der Oberschicht hielt nicht lange an, denn es provozierte im großen Stil Vermeidungstaktiken wie Schenkungen, Trusts oder das Überspringen einer Generation. Auch leisteten die Relikte der imperialen Vergangenheit Großbritanniens den Vermögenseliten gute Dienste. So besaßen die Kanalinseln und Ex-Kolonien in der Karibik eigene Steuerhoheiten, was erhebliche Gestaltungsspielräume eröffnete. Es entstand eine ganze Industrie, die sich auf die legale Steuervermeidung spezialisierte. Im Katz-und-Maus-Spiel zwischen ihr und dem Staat war Erstere stets einen Schritt voraus. Die Steuersätze blieben trotz zahlreicher Reformen empfindlich, bis unter Premierministerin Thatcher ein Kurswechsel hin zu niedrigeren Steuern einsetzte. Seit 1986 gilt ein immer noch relativ hoher Einheitssteuersatz von 40 Prozent oberhalb des Freibetrags.
Auch wenn die Superreichen ihre Vermögen zu schützen wussten, erlitten britische Familienunternehmen erhebliche Kollateralschäden. Ihnen entzog die Erbschaftsteuer Liquidität, was Verkäufe erzwang. Welches Ausmaß sie hatten und ob sie die relative Schwäche des britischen Mittelstandes erklären, bleibt in diesem Buch leider offen. In Deutschland stärkten dagegen die niedrige Erbschaftsteuer und spezielle, auf ihn zugeschnittene Vergünstigungen den Mittelstand. Die britische Erfahrung, dass eine scharfe Erbschaftsbesteuerung gepaart mit dem Willen zum Abbau sozialer Ungleichheit letztlich erfolglos blieb, mag für die aktuelle Diskussion eine bedenkenswerte Erkenntnis sein.
Die Arbeit hat einige Lücken. Die britischen Steuerparadiese öffneten ihre Tore nämlich auch für Deutsche. Luxemburg und die Schweiz waren nah. Insofern irritiert es, dass nur Stiftungen als deutsche Gestaltungsvehikel erwähnt werden. Bei den Erbpraktiken erwähnt der Autor Konflikte zwischen Erben trotz ihrer Häufigkeit nur beiläufig. Der komparative Ansatz fällt im Schlusskapitel unter den Tisch. Alle Fallbeispiele sind aus Deutschland und zudem recht wahllos aneinandergereiht. Man gewinnt den Eindruck, dass die Studie übereilt abgeschlossen wurde und bedingt durch die Corona-Pandemie mancher Archivbesuch ausfallen musste. Extrem störend wirken das krampfhafte Gendern und die Verwendung von Klarnamen, wenn aus Nachlassakten Vertrauliches berichtet wird. Trotzdem handelt es sich um ein anregendes Buch über ein hochaktuelles und kontroverses Thema, zu dem es noch viel mehr zu sagen und zu erforschen gibt. HARTMUT BERGHOFF
Ronny Grundig: Vermögen vererben
Politiken und Praktiken in der Bundesrepublik und Großbritannien 1945-1990, Wallstein, Göttingen 2020, 340 Seiten, 32 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein (...) wertvoller Debattenbeitrag« (Vivien Leue, Deutschlandfunk Kultur, 05.03.2022) »a stimulating and impressive analysis expanding our understanding of what factors shape inequality within a society.« (Rebekah O. McMillan, Central European History, 15.03.2024)